5. Juli 2015
Unsere Aufgabe im Staat
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag haben wir uns vor Augen geführt, dass der Staat eine Einrichtung Gottes ist. Er hat die menschliche Natur so geschaffen, dass sie nur in einer staatlichen Organisation glücklich und wohltuend bestehen kann. Insofern ist Gott der Urheber des Staates; der Staat ist insofern etwas Göttliches, also eine göttliche Einrichtung, aber er ist den Menschen zur Ausgestaltung anvertraut. Die Menschen haben die Aufgabe, den Staat aufzubauen, seine Einrichtungen zu schaffen, und das ist ja auch in der ganzen Geschichte der Menschheit geschehen. Die Geschichte ist eine Geschichte des Staatenbauens, angefangen von ganz einfachen Formen bis hin zu komplizierten Gebilden. Die Versuche, einen Staat zu bauen, sind noch längst nicht abgeschlossen, sie halten noch immer an. Als Erzeugnis menschlichen Könnens und menschlicher Leistung sind diese Staatenbildungen von verschiedenem Wert, aber auch von relativ gleichem Recht. Von Gott, vom Standpunkt des Christentums und der Kirche ausgesehen, sind alle Formen staatlichen Zusammenlebens in gleicher Weise zu werten. Welcher Art die staatliche Organisation auch sein mag, ob Despotie oder Demokratie, ob Monarchie oder Republik: vor den Augen Gottes, und also auch vom religiösen Standpunkt der Kirche macht das keinen Unterschied. Für unser Gewissen, für unser religiöses Leben besteht kein Grund, die eine oder andere Regierungsform vorzuziehen oder gar als allein möglich und erlaubt hinzustellen. Es können Gründe der Gewöhnung, der Erinnerung, der Pietät, natürlich auch der politischen Zweckmäßigkeit sein, die dazu einladen, eine bestimmte Form des Staates zu gestalten, aber das ist keine grundsätzliche und auch keine religiöse Gelegenheit und kann es auch niemals werden. Interessen der Seelen, der Kirche, des Gewissens können von jeder staatlichen Form gefördert oder gehemmt werden. Die Erfahrung zeigt, dass es kein Staatsgebilde gab, von dem die Kirche nicht zuweilen Unbill und Hemmung, zuweilen auch Förderung und Verständnis gefunden hat. Der große Staatsdenker Papst Leo XIII. hat geschrieben: „Wenn die Gerechtigkeit nicht verletzt wird, ist es den Völkern unbenommen, jene Regierungsform bei sich einzuführen, die ihrem Charakter oder den Sitten und Gewohnheiten von alters her am meisten entspricht.“ So Leo XIII. in seiner Enzyklika „Diuturnum illud“.
Wir, die wir hier versammelt sind, stehen selbstverständlich zu unserem Staat und sind seiner Verfassung treu. Aber diese Staatsform ist weder die von Gott gebotene noch die einzig mögliche. Andere Länder leben in davon verschiedenen staatlichen Formen. Die skandinavischen Staaten gelten immer noch als Monarchie, freilich als konstitutionelle, also durch die Verfassung gebundene Monarchie. Die Engländer stehen mit seltener Einmütigkeit zu ihrem monarchischen System. Es gibt Kenner der Iberischen Halbinsel (Spanien und Portugal), die den politischen Systemen Francos und Salazars mehr Gerechtigkeit und größere Effizienz zusprechen als dem, was nachher kam. Die Meinung, allein die parlamentarische Demokratie sei geeignet, den Verfassungsrahmen für ein Volk abzugeben, ist von der christlichen Staatslehre her nicht zu rechtfertigen. Es ist eine ideologische Verirrung, wenn versucht wird in der internationalen Politik, allen Ländern den Parlamentarismus aufzudrängen. Ich sage noch einmal, um nicht missverstanden zu werden: Wir stehen zu unserer Verfassung. Aber wir dürfen nicht blind sein für ihre Schwächen. Wir müssen auch die Gefahren dieser Staatsform sehen. In der parlamentarischen Demokratie herrscht das Prinzip der Mehrheit. Dieses Mittel, den politischen Willen zu bilden, ist nur erträglich, wenn die Mehrheit von heute durch die Opposition von gestern abgelöst werden kann. In den alten Demokratien wie England und Frankreich ist das so. Heute regieren die Konservativen, morgen die Labour, oder die Sozialisten in Frankreich oder, wie sie sich jetzt nennen, die Republikaner. Eine parlamentarische Demokratie, in der es nur linke Gruppierungen gibt, gerät aus dem Gleichgewicht. Diese Gruppierungen mit ihrem Übergewicht geraten in die Versuchung, den Staat als ihr Pachtgut anzusehen und ihre Ideologien zur Staatsdoktrin zu erheben. Auch eine parlamentarische Demokratie kann zur Diktatur werden. Wenn sich die herrschenden Kreise an kein überstaatliches Recht halten, sondern meinen, mit ihrer Mehrheit über alle Gegenstände des Lebens bestimmen zu können, auch über die Gott vorbehaltenen, usurpieren sie das Recht Gottes, ja, sie handeln, als gäbe es keinen Gott. Die Inhaber der Staatsgewalt müssen auf Gott, den Höchsten Herrn der Erde, hinblicken und ihn als Vorbild und Richtschnur in der Leitung des Staates im Auge behalten. „Die Sorge für die Religion“, hat einmal der große Staatsphilosoph Aristoteles geschrieben, „ist die erste Aufgabe des Staates.“ Der religionslose Staat wird zum sittenlosen Staat. Wo die Zehn Gebote nicht mehr gelten, da können zehntausend Staatsgesetze die Ordnung nicht aufrecht erhalten. Es kommt also darauf an, dass wir den Staat so formen, dass er seiner Aufgabe, das Gemeinwohl zu fördern, gerecht wird.
Am Anfang sind es immer wenige gewesen, die sich um die Staatsgeschäfte kümmerten, manchmal nur ein einziger, ein Despot. Aber im Laufe der Entwicklung hat sich der Kreis der Mitarbeiter ständig erweitert. Und heute ist es eigentlich unser Ideal, dass jeder einzelne Staatsbürger auch Träger des staatlichen Lebens ist, nicht bloß Gegenstand und nicht bloß Verfügungsmasse des Staates. Es ist also unsere Pflicht, am Aufbau des Staates mitzuarbeiten; wir dürfen nicht teilnahmslos und untätig beiseite stehen. Wenn sich die Besten nicht um den Staat kümmern, dann gerät er in die Hände der Unedlen. Natürlich sind unsere Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben beschränkt, aber das Wenige, was möglich ist, dass sollten wir tun. Man kann und soll sein Wahlrecht ausüben in den Gemeinden, im Land, im Gesamtstaat, denn durch die Wahl bestimmen wir ja die Personen, die an unserer Stelle dem Gemeinwohl dienen sollen. Man kann sich einer Partei anschließen, falls es noch eine gibt, die für ein christliches Gewissen erträglich ist. Man kann einer solchen Partei ideelle und materielle Hilfe leisten. Man kann sich an Abstimmungen beteiligen, wie sie im Internet immer wieder angeboten werden, z.B. zu der griechischen Schuldenkrise. Die Politiker können deren Ergebnisse nicht gänzlich unbeachtet lassen; sie sind ja ständig auf der Jagd nach Stimmen. Man kann an Demonstrationen teilnehmen, wie es unsere braven Glaubensgenossen in Baden-Württemberg tun gegen die fanatisch und ungerecht geplanten Erziehungsmaßnahmen der baden-württembergischen Regierung. Tausende gehen in Stuttgart auf die Straßen; und je zahlreicher sie sind, umso eher werden sie gehört werden. Man kann Briefe schreiben an die Zeitungen, an die Rundfunkstationen, ans Fernsehen, an die Politiker. Als Frau Merkel vor einigen Jahren unangemessene Bemerkungen über unseren Papst Benedikt XVI. machte, da erhielt sie ganze Waschkörbe von Briefen, von Protestbriefen.
Endscheidend für das Wohl und Wehe eines Volkes sind insbesondere die Menschen, welche in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung zu ihrem Teil die Geschicke des Volkes gestalten. Die Staatstheorie hat den Begriff der Aristokratie ausgebildet. Aristokratie heißt: Herrschaft der Besten. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass das ein begründetes Ideal ist; wir möchten gern von den Besten regiert werden. Die Herrschaft sollte in der Hand von Menschen liegen, die bestimmte Eigenschaften und Vorzüge haben, die eine Elite darstellen. Unser Staat muss gewiss die Heimstätte für alle Menschen werden: für Edle und Unedle, für Redliche und Unehrliche, für Gläubige und Ungläubige. Gewiss, aber ich bin besorgt, wenn Verächter des Christentums und Lebemänner die Zügel der Macht in den Händen halten. Es verursacht mir Unbehagen, an verantwortlicher Stelle im Staat notorische Ehebrecher und Bordellbesucher zu sehen. Man sagt, man müsse das öffentliche und das private Leben auseinanderhalten. Ich halte von dieser Unterscheidung wenig. Der Mensch lässt sich nicht teilen. Wer nicht ehrlich, selbstlos und treu im privaten Leben ist, wird er das sein im öffentlichen Leben? Wird der, der im privaten Leben mit dem Geld nicht umgehen kann, in öffentlicher Position sparsam und verantwortungsvoll mit den Steuern der Menschen verfahren? Ich erinnere an ein Wort eines – zwar nicht beliebten, aber doch bedeutenden – Politikers Maximilian Robespierre. Mitten im Wüten der Französischen Revolution hat er gesagt: „Ich glaube nicht, dass ein schlechter Mensch ein guter Politiker sein kann.“
Wie alle menschlichen Dinge kann der Staat entarten. Gerade die besten Dinge auf unserer Erde sind der Gefahr der Entartung immer besonders ausgesetzt, und der Staat ist dieser Gefahr niemals entgangen. Denken Sie an die furchtbaren Gräuel der Geschichte: die endlosen Kriege, die Bürgerkriege, die Gewalttaten, die Unterdrückung, die geradezu dämonischen Aufstände gegen alles Göttliche und Geistige, die ja die Staatengeschichte prägen. Diese Entartung äußert sich in der Lossagung der Politik von den Gesetzen der Moral, in der skrupellosen Handhabung der staatlichen Machtmittel zugunsten des Eigennutzes bestimmter Gruppen; da wird der Staat dann zu einer Ausbeutung und Unterdrückung der großen Mehrheit der Staatsbürger. Nach außen äußert sich die Vergötzung des Staates in Gewalttaten, Überfällen auf andere Völker, nach innen in der Entrechtung des Individuums und der Persönlichkeit. Man spricht vom totalen oder totalitären Staat. Der totalitäre Staat regiert durch ideologische Manipulation, kontrolliert die Bürger bis ins Schlafzimmer, unterdrückt alle freiheitlichen Regelungen, verlangt totalen Gehorsam. Im Zeitalter der krisenanfälligen Massengesellschaft – in dem wir leben – bildet die ideologische Staatsvergottung als totalitäre Versuchung eine stete Gefahr. In dieser Lage gibt es nur einen einzigen Anwalt des Geistigen, des Religiösen, aber auch des Freiheitlichen, und das ist unsere Kirche. Sie wagt es, auch dem seine Rechtsgrenzen überschreitenden Staat zu sagen: Es ist dir nicht erlaubt. So vorsichtig und abwägend die Kirche auch ist: Wenn es einmal darauf ankommt, wird sie sich immer wieder aufraffen und für die Unterdrückten, die Schwachen und die Rechtlosen, für die Persönlichkeit und für den Geist ihre Stimme erheben. Die Kirche mit ihrer scheinbaren Intoleranz, mit ihrer dogmatischen Gebundenheit und mit ihrer grundsätzlichen Unerbittlichkeit wird dann zum Schützer des Geistes, des Rechtes und der Liebe. Wehe der Menschheit, wehe dem Volke, das ganz und ausschließlich in die Hände des allmächtigen und zugleich gottlosen Staates gerät. Um dieser Gefahr willen dürfen wir katholischen Christen nicht nur als Christen, sondern auch als Menschen nicht die Hände in den Schoß legen, müssen mit unserer Anteilnahme unverdrossen am Aufbau des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens mitarbeiten, müssen immer wieder versuchen, die Maschinerie, zu der der Staat ja immer zu werden droht, dieser Maschinerie die Seele und das Gewissen und die Liebe einzuhauchen. „Was den Staat zum Staate macht, sind nicht die Mauern“, schreibt einmal der heilige Augustinus, „sondern was den Staat zum Staate macht, sind die Bürger.“
Amen.