31. August 2014
Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Juden hatten theologische Fakultäten, an denen ihre Gesetzeslehrer ausgebildet wurden. Und diese spürten die Konkurrenz, die Jesus als Lehrer für sie bedeutete, und deswegen lesen wir im heutigen Evangelium, ein Gesetzeslehrer wollte ihn versuchen, d.h. er wollte ihn reinlegen, auf die Probe stellen. Und so fragt er ihn: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu besitzen? Um gegenüber den Nichtigkeiten dieser Welt wirkliche Werte zu erlangen, das Leuchten heller, großer Edelsteine, den Besitz eines übermächtig bewachten Gutes zu erlangen? Was muss ich tun, um die Inhaltlosigkeit dieser Zeit und dieser Menschheit zu entgehen? Wo stehen die ewigen Wohnungen?“ Der Gesetzeslehrer weiß, dass er etwas tun muss, wenn er das ewige Leben erlangen will; es fällt ihm nicht in den Schoß. Er muss sich regen, und jetzt fragt er, was er tun muss, um das ewige Leben zu erlangen. Der Herr dreht die Frage um: „Was steht geschrieben im Gesetz? Wie liesest du?“ Die Frage „Was steht geschrieben im Gesetz?“ bezieht sich auf den Inhalt; die Frage „Wie liesest du?“ bezieht sich auf die Ausdeutung dieses Inhalts. Der Gesetzeslehrer kennt natürlich die Bücher des Alten Testamentes auswendig. Er kennt das Deuteronomium und er kennt das Buch Levitikus. Also zitiert er das Deuteronomium: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus dem tiefsten Grunde deiner Seele, aus der Quellkraft deiner Natur, mit der letzten Dynamik deines Denkens.“ Und dann aus dem Buche Levitikus das Zweitgrößte: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Der Herr nickt bedächtig und sagt: „Du hast recht geantwortet: tu das, und du wirst leben. Es braucht nur die Ausführung, dann wirst du das ewige Leben gewinnen.“ Womöglich haben sich die Jünger dabei angestoßen, denn der Herr hatte ja den Gesetzeslehrer abgefertigt. Er will sich aber nun rechtfertigen und verfolgt seine Frage weiter. „Das ist nicht das eigentliche Problem“, sagt er, „sondern ich möchte wissen, was die Schrift eigentlich meint, wenn sie sagt: deinen Nächsten. Wer ist denn mein Nächster? Auch die Sklaven von Babylon? Auch die Verächter des jüdischen Gesetzes? Die Zöllner? Auch die Samariter, die Halbheiden in Samaria? Auch die Barbaren im Dunkeln? Sind das auch meine Nächsten?“ Er denkt an das, was er gelernt hat auf der Fakultät in Jerusalem. Da hat man den Standpunkt vertreten: Der Nächste ist nur der Volksgenosse und evtl. der im Volke lebende Fremdling. Aber darüber hinaus geht der Begriff des Nächsten nicht.
Da antwortet der Herr mit einer malerischen und lieblichen Geschichte. Wir brauchen nicht anzunehmen, dass das, was der Herr erzählt, wirklich passiert ist, aber er hat es eben als Gleichnis gut erfunden. Er spricht davon, dass jemand den langen Weg von Jerusalem nach Jericho zurücklegt. Das ist tausend Meter Höhenunterschied, denn Jericho liegt ganz tief und Jerusalem ist erhaben. Das sind 27 Kilometer, so weit wie von Bonn nach Köln. Und auf diesem Wege wanderte ein Jude und wurde hier das Opfer von Räubern. Das war eine günstige Gelegenheit für die Räuber, zuzuschlagen, denn auf dem Wege nach Jerusalem und natürlich auch zurück da pilgerten die Menschen aus Arabien, die Börse gespickt voll. Oder auch bei der Rückkehr beladen mit Sehenswürdigkeiten, mit Denkwürdigkeiten, mit Andenken. Und die Beduinen, die auf ihren Pferden durch die Steppe traben, nehmen die Gelegenheit wahr. Sie plündern ihn aus, sie schlagen ihn blutig, sie lassen ihn halbtot und ausgezogen am Straßenrande liegen. Nun hebt sich der Vorhang. Es kommt ein Priester, der seine drei Monate Tempeldienst hinter sich hat. Er kehrt voller froher Erwartungen heim zu Frau und Kind; es geht um jede Minute. Er schaut sich nicht um, er hört das Wimmern, aber er schreitet weiter. Fünfzig Schritte hinter ihm folgt sein Assistent, der Levit, der die drei Monate mit ihm im Altardienst verbracht hat. Jetzt zieht es ihn heimwärts; der Acker ruft, jede Sichel wird gebraucht. Er hat keine Zeit, sich umzuschauen. Er hört das Stöhnen und schreitet weiter. Dann wird es eine Weile still. Da kommt ein reisender Kaufmann, aber kein Jude, sondern einer aus Samaria. Sein Gehirn ist mit Zahlen angefüllt, mit Rechnungen; er ist Geschäftsmann. Vom Rande der Straße her hört er ein leises Jammern. Er horcht auf, er schaut um: Da liegt einer. Das Blut rinnt in den Graben, der heiße Atem steigt über die trockene Lippe, der Kopf ist bleich, nach hinten gesunken wie das Haupt eines Sterbenden. Der Kaufmann vergisst alles Kaufmännische. Der Mensch in ihm begreift alles Menschliche. Er packt seine Reiseapotheke aus: Öl und Wein. Er wäscht die Wunde aus und verbindet sie, und dann hebt er ihn, der ungefüge Mann, auf sein Lasttier. Er stützt ihn mit seinem Mantel, er führt das Tier vorsichtig im zagen Schritt, bis er an die Herberge kommt. Und dann führt er ihn in das Fremdenzimmer, er wacht bei ihm die ganze Nacht, er horcht auf den fiebernden Atem. Er netzt die Zunge, aber er muss weiter; das Geschäft ruft. Und deswegen zieht er aus der Tasche zwei Denare – das ist ein ganzes Stück Geld – und gibt es dem Wirt: „Was du darüber aufwendest, werde ich dir geben, wenn ich zurückkomme.“ So erzählt der Herr diese wunderbare Geschichte. Er singt sie wie eine Melodie über dem Staub der jüdischen Straße, über dem herzlosen Staub, über der egoistischen Welt. Der Herr schaut den Schriftgelehrten an. „Wer von den dreien hat die Preisfrage gelöst, hat sie praktisch entschieden nach dem Umfang des Begriffes: der Nächste?“ Dieser kuscht sich bis zur tiefen Erde, er ist geschlagen und sagt nun wohl auch ergriffen: „Der nicht flüchtete, der nicht auswich, der gehandelt hat, der Barmherzigkeit tat.“ Und Jesus sagt: „Gehe hin und tue desgleichen.“ Beachten Sie den Unterschied zwischen Frage und Antwort. Der Schriftgelehrte fragt: „Wen soll ich als Nächsten lieben?“ Jesus antwortet mit einer halbrhetorischen Frage: „Wer hat in dieser Geschichte als Nächster gehandelt?“
Jesus hat mit dem Liebesgebot kein neues Gebot gegeben. Ich sagte schon: Im Deuteronomium und im Levitikus sind die beiden Gebote, Gott und den Nächsten zu lieben, enthalten. Aber er hat sie verbunden, das Gebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe; das ist seine eigene Tat. Das lässt sich im palästinischen Judentum nicht nachweisen. Und: Das Alte Testament und das zeitgenössische Judentum kennen auch nicht das Gebot der allgemeinen Menschenliebe. Der Nächste, den man lieben muss, ist der Volksgenosse und, wie ich schon sagte, evtl. der in der Mitte des Volkes lebende Fremdling, aber darüber hinaus niemand. Jesu Fassung des Liebesgebotes knüpft an das Alte Testament an, aber überbietet es. Erstens, indem er den Begriff des Nächsten ins Grenzenlose erweitert. Wahre Nächstenliebe fragt nicht nach der Person, nach der Religion, nach der Nation, sondern jeder Mensch, der helfende Liebe braucht, ist unser Nächster und wir sind es ihm gegenüber. Zweitens: Die Erweiterung des Begriffs des Nächsten geht zurück auf die Begründung des Liebesgebotes und die Stellung, die Jesus ihm in der gesamten Ethik anweist. Es ist nicht mehr ein Gebot neben vielen anderen; es ist die Summe des ganzen Gesetzes, der Inbegriff der Sittlichkeit. Niemand hat das so gut verstanden wie der Apostel Paulus, der im Römerbrief schreibt: „Wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht begehren, und alle anderen sind in diesem Gebot enthalten: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Des Gesetzes volle Erfüllung ist also die Liebe.“ Es steht das Liebesgebot nicht neben dem Gebot der Gottesliebe, sondern in innigstem Zusammenhang. Jesus sieht die beiden Gebote als eine Einheit. Die Nächstenliebe hat ihren Lebensgrund in der Gottesliebe, und die Nächstenliebe ist selbst wiederum die Bewährung der Gottesliebe. Wenn wir wissen wollen, ob wir Gott lieben, brauchen wir nur zu fragen, ob wir den Nächsten lieben. So wenig echte Gottesliebe ohne Nächstenliebe möglich ist, ebenso wenig echte Nächstenliebe ohne Gottesliebe. Wollte man die Nächstenliebe von der Gottesliebe als ihrem Lebensgrund lösen, dann käme man zur bloßen Humanität: Menschlichkeit, Mitmenschlichkeit. Aber weil die Nächstenliebe Nachahmung Gottes ist, der die Sonne scheinen lässt über Gute und Böse und der Regen fallen lässt über Gerechte und Ungerechte, deswegen erstreckt sie sich auf jeden Menschen, der unserer Hilfe bedürftig ist. Aus der Begründung durch die Gottesliebe – und das ist das Dritte – und der Nachahmung Gottes ergibt sich, dass die Nächstenliebe im Munde Christi die höchste Vollendung findet in der Liebe zum Feinde. „Ihr sollt die lieben, die euch verfolgen, die euch hassen.“
Diese Liebe ist ihrer Art nach wesentlich verschieden von dem, was die Menschen sonst Liebe nennen. Der Eros: Das ist die begehrende Liebe, die nach der Steigerung des eigenen Lebens trachtet und deswegen eine wahrhaft egoistische Liebe ist. Die Freundschaft: Freundschaft beruht auf natürlicher Sympathie. Sie beschränkt sich bewusst auswählend auf einen bestimmten Kreis gleichgesinnter Menschen. Sie dient der Verschönerung und Veredelung des eigenen Lebens. Die Liebe Christi ist auch verschieden von der Humanität. Humanität kannten die Griechen, kannte vor allem die Stoa auch. Die hat ihren Grund im Wert des einzelnen Menschen, in der Menschennatur. Weil der Mensch ein Mensch ist, deswegen soll man ihn human (menschlich) behandeln. Bei dieser Auffassung ist eben der Gedanke bestimmend, dass der Mensch als solcher etwas „Heiliges“ ist, wie Seneca sagt. Die von Jesus geforderte Liebe ist von dieser Liebe zur Menschheit grundsätzlich verschieden. Der Nächste ist stets nur der im konkreten Umgang Begegnende und niemand sonst, und darum ist sie so eine unbequeme Liebe. Sie hat ihren Grund im Willen Gottes und darin, dass alle Menschen Gott zum Vater haben. Sie ist unabhängig vom Gefühl und von der Neigung und kann deshalb zum selbstlosen Dienst an den anderen werden, ja, zur Feindesliebe und zum Gebet für die Verfolgten. Das Wesentliche an ihr ist nicht das Gefühl, sondern die Entscheidung des Willens zur helfenden Tat am Mitmenschen.
Nun muss ich aber eine Einschränkung hinzufügen. Das Liebesgebot, meine Freunde, kann auch missverstanden und missbraucht werden. Wodurch? Achten wir darauf, dass der Nächste im Gleichnis des Herrn in einer extremen Notlage ist; hier geht es um Leben und Tod. Wer hier versagt, der verfehlt sich gewiss gegen das Gebot der Nächstenliebe. Die Verpflichtung ist aber geringer, oder besteht überhaupt nicht, wo andere und leichtere Fälle der Bedürftigkeit vorliegen. Das Maß des Einsatzes an Nächstenliebe richtet sich nach der Dimension der Not, nach der Schwere der Not, nach der Dringlichkeit der Hilfe. Sodann, in unserer Gesellschaft ist das Prinzip der Arbeitsteilung zu beachten. Nicht jeder ist für alles zuständig. Es gibt eine Polizei, eine Feuerwehr, einen ärztlichen Notfalldienst. Es ist kein Verstoß gegen die Nächstenliebe, Notfälle an die zuständige Einrichtung zu überweisen, die dafür geschult und dazu bestellt ist. Schließlich darf die Anrufung der Nächstenliebe auch nicht als Mittel der Erpressung dienen. Man kann nicht auf die Liebe zum Nächsten pochen, um sich Verpflichtungen zu entziehen, die man rechtmäßig eingegangen ist. Die Nächstenliebe ist barmherzig zu den wahrhaft Notleidenden, aber sie kann nicht angerufen werden, um den bürgerlichen Rechtsverkehr lahmzulegen.
Nehmen wir, meine lieben Freunde, aus dem Evangelium des heutigen Tages zwei Erkenntnisse mit. Nämlich erstens: Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich nicht trennen. Es gibt keinen sichereren Aufstieg zur Gottesliebe als die Liebe zum Mitmenschen. Der hl. Johannes vom Kreuz schreibt sogar einmal: „Wer seinen Nächsten nicht liebt, verachtet Gott.“ Zweitens: Wahre und dauerhafte Nächstenliebe kann nur mit echtem Glauben bestehen, denn sie gründet in der Gottesliebe. Strohfeuer der Nächstenliebe, vorübergehende Anwandlungen brennen auf allen Herden. Aber die ewige Lampe der Liebestätigkeit, die ewige Lampe brennt nur im Heiligtum des Glaubens.
Amen.