Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. März 2014

Das zweite eswort

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Entweder gleichzeitig mit der Kreuzigung Jesu oder unmittelbar nachher erfolgte die Hinrichtung von zwei Räubern. Lukas nennt sie „Übeltäter“, Kakurgos heißt das griechische Wort. Wir dürfen unter ihnen, wie bei Barabbas, Anhänger der Patriotenpartei des Sikarier, dieser gewalttätigen, fanatischen Leute, sehen. Sie waren, aufgrund ihrer Übeltaten, ergriffen und ebenfalls zur Kreuzigungsstrafe verurteilt worden; einer zur Rechten, der andere zur Linken, Jesus in der Mitte. Das ist mit Bedacht geschehen, denn man wollte damit den Anschein erwecken, Jesus gehört zu diesen Verbrechern, er ist der Hauptverbrecher, deswegen wird er in der Mitte aufgehängt. So wollte es Gott. Es musste das Wort aus dem Propheten Isaias in Erfüllung gehen: „Er wurde unter die Übertäter gezählt.“ So wollte es Gott. Das ist sein wirklicher Platz: Jesus unter den Unwürdigen. Während seines Lebens warf man ihm vor, dass er mit Sündern speise und trinke. Jetzt kann man ihn beschuldigen, dass er mit ihnen stirbt. Es ist ein wunderbares Beispiel vom richtigen Mann am richtigen Platz: Christus unter den Banditen, der Erlöser inmitten der Erlösten, der Arzt unter den Aussätzigen. In seiner Weisheit hat Gott tief in die unteren Schichten der Menschen gegriffen und zwei menschliche Wracks neben seinen Sohn gestellt. Den einen bestimmte er zum Begleiter seines einzigen Sohnes. An der Geschichtlichkeit des zweiten Worte Jesu, das wir heute bedenken wollen, besteht kein Zweifel. Das zweite Kreuzeswort ist ja die Antwort auf die Bitte des Schächers. Ohne diese wäre es fundamentlos. Ein protestantischer Theologe sagt: „Das Wort ist legendarische Ausschmückung des Kontrastmotives.“ Ein anderer schreibt: „Das ist ein Reuemuster.“ Ein Dritter: „Das ist die wirkungsvollste Legende des Lukas.“ Ich erwähne diese Verirrungen, damit Sie wissen, dass ich mich mit dem Unglauben auseinandergesetzt habe.

Matthäus und Markus bemerken, dass die beiden Schächer Jesu geschmäht haben, wie die Spötter unter dem Kreuze. Es kann durchaus sein, dass auch der rechte Schächer zunächst mitgeschmäht hat, dass er aber dann zur Besinnung gekommen ist. Und dann sprach er seine wunderbaren Worte, die einen an seinen Gefährten gerichtet, die anderen an Jesus. Seine Bekehrung vollzog sich in vier Stufen. „Fürchtest auch du Gott nicht, obwohl du doch die gleiche Strafe erleidest“, sagt er zu seinem Mitverbrecher. Er erinnert seinen Kameraden an die Gottesfurcht als Anfang der Weisheit und der Bekehrung. Er will ihm sagen: Sieh’ doch an, in welchem Elend du bist. Durch eigene Missetat bist du dahin gekommen. Und wenn du schon keine Reue empfindest, so solltest du doch wenigstens Furcht haben vor der Strafe des gerechten Gottes, vor dessen Gericht du in Kürze stehen wirst. „Wir freilich“, fährt er fort, „leiden mit Recht, denn wir empfangen den wohlverdienten Lohn für unsere Taten.“ Der Schächer zeigt Selbsterkenntnis, Erkenntnis seiner eigenen Schuld und Selbstanklage wegen seiner strafwürdigen Missetaten. Darin liegt schon Reue und der Wille zur Bekehrung. „Dieser aber hat nichts Böses getan.“ Die Schächer müssen also erfahren haben, dass Pilatus keine Schuld an Jesus gefunden hat. Es muss ihnen zu Ohr gekommen sein, dass hier ein Unschuldiger verurteilt worden ist. Und der rechte Schächer kann sich mit dem unschuldigen Leiden nicht abfinden. „Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Jesus ist seine Zuversicht. Das sind die vier Dispositionsakte des rechten Schächers zu seiner Bekehrung, die bei jedem Menschen sich wiederholen müssen. Hier wird die Verzeihungsbitte Jesu schon wirksam an einem Manne, nämlich dem, der rechts neben ihm hängt. Die Überlieferung hat ihm den Namen „Dismas“ gegeben. Die Versöhnungsbitte bewog ihn zur Umkehr. Und auch die Geduld des Gekreuzigten und das frühere Wissen des Schächers über Jesus, von dem er ja sicher erfahren hatte, dürften motivierend für seine Bekehrung gewesen sein. Den Abschluss der Dispositionsakte des rechten Schächers bildet die Bitte um das Gedenken Jesu. Er spricht den in der Mitte hängenden Gekreuzigten mit „Jesus“ an. In diesen Namen legt er alles hinein, was er an Vertrauen und Zuversicht hegt. Er kannte natürlich diesen Namen, er stand ja auch über dem Kreuze Jesu, der Titel lautete: Jesus von Nazareth. Wenn das Wort des Schächers und auch das Wort Jesu ein Erzeugnis der kirchlichen Tradition wären, wenn die Urgemeinde es erfunden hätte – wie die ungläubigen Theologen meinen –, dann hätte an dieser Stelle nicht „Jesus“ gestanden, sondern ein Würdename Jesu: Herr oder Messias. Die Treue, die geschichtliche Treue, bezeugt sich in dieser Anrede „Jesus“. Der Schächer ruft Jesus an, wie man in der liturgischen Formelsprache Gott anruft: „Gedenke meiner“. Er bittet um ein Gedenken Jesu in seiner Reichsherrlichkeit. Es existieren für dieses Bittgebet zwei Fassungen, zwei Lesarten, die in den Handschriften des griechischen Neuen Testamentes angegeben sind. In der einen Lesart heißt es: „Gedenke meiner, wenn du kommst in deinem Reiche.“ Das würde bedeuten, dass Jesus der eschatologische König (der endzeitliche König) ist, der sein himmlisches Königreich bringt. Es gibt aber die zweite Lesart, die heißt: „wenn du kommst in dein Reich.“ Das würde bedeuten: Wenn Jesus kommt in das geistige, übernatürliche himmlische Königtum nach seinem Tode, sogleich nach seinem Tode. Ich wage es nicht, mich für eine dieser Lesarten zu entscheiden. Sie sind beide denkbar, sie geben beide einen guten Sinn, sie sind auch beide im Munde des Schächers möglich. Der Schächer erblickt jedenfalls – und das ist in beiden Lesarten ausgesagt – im gekreuzigten Jesus den König des Gottesreiches. Hinter dem Kreuz sieht er den Königsthron, hinter dem Dornenkranz die Königskrone, hinter den Nägeln in seinen Händen das Königszepter, hinter den Schmährufen hört er das Hosianna. Und neben den wenigen Gläubigen, die das Kreuz umstehen, erblickt er die zahllose Schar der Bürger des Reiches Gottes. „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Der Mob auf dem Kalvarienberg sagte, Jesus solle vom Kreuze herabsteigen; der Schächer bat, ihn mit hinaufzunehmen. Die Massen hätten geglaubt, wenn er eine Religion ohne Kreuz gepredigt hätte. Der Schächer fand seinen Glauben dadurch, dass er am Kreuze hing. Warum, warum, meine lieben Freunde, fand dieser Schächer Erlösung? Nur deshalb, weil die Fähigkeit zur Umkehr bei den wirklich Schlechten größer ist als bei den Selbstzufriedenen. Schon die Leere der Seele des Sünders bietet eine Gelegenheit, das Mitleid Gottes aufzunehmen. Selbstverachtung ist der Anfang zur Bekehrung, denn sie bedeutet den Tod des Stolzes.

Nachdem der Schächer geendigt hat, ist Jesus daran, zu reden. Und er spricht zu dem Gefährten seines Todes. Das zweite Kreuzeswort Jesu beginnt mit einem feierlichen Auftakt: „Amen“. Das ist eine Beteuerungsformel. Sie steht am Anfang einer feierlichen Erklärung und ist der Ausdruck der Zuverlässigkeit, der Sicherheit dessen, was nachher folgt. Mit dem feierlichen „Amen“ leitet Jesus seine große Zusicherung ein. Sie bereitet das folgende Wort des Heiles vor. Es folgt dann das Zeitwort, das Adverb „heute“. Die Verheißung, die Jesus jetzt macht, wird „heute“ in Erfüllung gehen, nicht morgen, nicht übermorgen, auch nicht in Zukunft, nach langer Zeit. Am Tage des Todes öffnen sich für den Schächer die Tore des Paradieses. „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Während die anderen lästerten: „Sich selbst kann er nicht helfen“, vernahm das Schächer das „Heute noch“. Noch waren seine Arme gefesselt, aber das „Heute noch“ löste sie schon. Sein Körper war noch in Qualen, aber das „Heute noch“ gab ihm Erfrischung. Sein Leben war fast schon wertlos, aber seine Seele bekam ewigen Wert. Dann folgte die Verheißung: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Das Wort „Paradies“ ist persischen Ursprungs. Die Griechen verstanden darunter einen kunstvoll angelegten Park. Im Alten Testament ist das Paradies der glückliche Aufenthaltsort der ersten Menschen. Sie wurden hineinversetzt, dass sie das Paradies bebauen und bewachen. Später gebrauchte man das Wort für den überirdischen Aufenthaltsort der Gerechten, wo sie vom Tode bis zur Auferstehung des Leibes verharren. Jeder Jude wünschte sich, einmal in das Paradies hineinzukommen, einmal das Paradies zu erben. Für den sterbenden Palästinenser war es die große, fassbare und von aller Angst befreite Hoffnung. Die zugesicherte Inbesitznahme des Paradieses war für den rechten Schächer eine unerwartete große Wohltat. Mit ihr verbunden war ja die Gemeinschaft mit Jesus: „Mit mir wirst du im Paradiese sein.“ Die künftige Gemeinschaft mit Jesus im Paradies wird am Karfreitag, nach dem Tode, zur Gegenwart und Wirklichkeit. Dieses Wort Jesu, meine lieben Freunde, ist ein Zeugnis für das Leben der Seele nach dem Tode, ein Zeugnis für die Unsterblichkeit der Seele, ein Zeugnis für das Fortleben der Seele nach dem Tode. Und der rechte Schächer ist das Vorbild für alle Menschen, sich in Glauben, Vertrauen, Liebe, Reue durch den Erlöser Jesus Christus Gott zuwenden. Es gibt für jeden Menschen die Möglichkeit der Erlösung bis zum letzten Lebenstag, ja bis zur letzten Lebensstunde. Hinter dem Vorbild des rechten Schächers steht der allgemeine Heilswille Gottes.

Wenn wir einmal hineinschauen in das Herz des Schächers, was sehen wir da, meine lieben Freunde? Das war ein armes Herz. Er hat nichts mehr zu hoffen. In den nächsten Stunden muss er sterben unter furchtbaren Qualen. Nur der Tod bleibt ihm noch auf dieser Welt, und dann, in der anderen Welt? Die ewige Verdammnis – wie er dachte. Und das alles mit Recht. Er sagt es ja selbst: „Es geschieht uns recht für die Missetaten, die wir begangen haben.“ Er hat nichts mehr zu hoffen. Aber nun siehe, nun erwacht in ihm noch einmal ein Wunsch, nicht eine Hoffnung, aber ein Wunsch. Er hat den Herrn betrachtet, der neben ihm am Kreuze hing, und da fing sein Herz zu schlagen an. Und da flog seine Liebe, die sein Leben lang gebunden war, auf einmal empor und ward frei und schlug diesem Mitgekreuzigten entgegen; eine große, wundervolle Liebe. Ja, wenn er diesem Jesus früher begegnet wäre, da wäre alles anders geworden. Aber nun hat er nichts mehr zu hoffen. Nur einen Wunsch hat er noch. „Jesus“, sagt er, „gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Ich weiß nicht, ob er diesen Wunsch für sehr groß und kühn oder für sehr klein gehalten hat. Vielleicht dachte er, das sei ein ganz kleiner und bescheidener Wunsch. Als der Prasser in der Hölle seine Augen erhob und den Lazarus sah in der Ferne, da wollte er einen Tropfen Wasser haben. Das war unmöglich, denn es ist eine unendliche Kluft zwischen Himmel und Hölle, und niemand kann hinüberkommen. Dieser Schächer aber wollte nichts haben, nicht einmal einen Tropfen Wasser, nur ein Gedenken, eine kleines winziges Gedenken, einen einzigen Gedanken. Vielleicht kam ihm das nicht sehr groß und wichtig vor; er wird ja in wenigen Stunden im ewigen Dunkel begraben sein, in ewiger Verlassenheit, in ewiger Hoffnungslosigkeit wird er liegen. Aber ein Herz wird einmal seiner gedenken! Vielleicht erschien ihm das auch groß, denn sein Leben lang hat niemand an ihn gedacht. Er war ein Ausgestoßener. Wer hätte je ein Gedenken für ihn gehabt? Weil er das nie gehabt hat, deswegen erschien es ihm so tröstend, dass einmal jemand an ihn denken wird. Er weiß wahrhaftig nicht, wieviel er da verlangt und wünscht. Ja, wenn Jesus einer Seele gedenkt, dann ist das eine Gnade, dann ist das schon eine Auserwählung, dann ist das schon eine Wärme und eine Heimat, dann ist das schon eine offene Pforte. Das ist schon eine Rettung, wenn Jesus einer Seele gedenkt, eine Rettung vor ewigem Verlorensein. So etwas Großes wünscht er sich, ohne es zu wissen. Und es ward ihm zuteil. „Wahrlich“, sagt der Herr, „heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ „Mit mir“ – also im Paradiese. Der Sinn ist wohl nicht: Du wirst im Paradiese zugleich mit mir sein. Sondern: Du wirst mit mir sein, und das ist das Paradies. Denn wer bei ihm ist, der ist im Paradiese, ob er in die Vorhölle geht oder in die Hölle: Wo er ist, da ist das Paradies. Er wird mit dem Heiland sein, und das ist das Paradies. Ist also der Herr nicht sehr freigebig gewesen mit dem armen Schächer? Eigentlich nicht, denn er hatte ihm nichts anderes bieten können. Der Schächer wollte ja nicht Gesundheit oder Leben oder herabgenommen werden vom Kreuze, er wollte nicht Beendigung seiner Schmerzen, er wollte nicht einmal in den Himmel. Er wollte nur ein Gedenken. Er wollte nur ein ganz kleines, winziges Plätzchen im Herzen Jesu, einen ganz kleinen Winkel, ein ganz kleines Stückchen von seinem Herzen. Und siehe, was kann der Heiland dann anderes schenken als sein eigenes Herz. Wer in diesem Herzen nur einen kleinen Winkel hat, der ist schon ganz darin. Du wirst bei mir sein von heute an, denn du wirst zu mir gehören, du wirst mein Eigentum, du wirst mein Kamerad, du wirst mein Freund, mein Genosse, mein Begleiter sein. Meine lieben Freunde, was der Herr dem rechten Schächer sagt, ist eines der tröstlichsten Worte des ganzen Evangeliums. Unser Herr und Heiland ist kurz vor dem Tode. Er weiß, was ihn hinter dem dunklen Tor des Sterbens erwartet. Es ist die Herrlichkeit des Vaters, die Freude des Paradieses. Dieselbe Aussicht eröffnet er dem Schächer, der neben ihm hängt und mit ihm stirbt. Wenn es mit uns zum Sterben kommt, dann wollen wir uns erinnern, was Jesus zu dem Mann gesagt hat, der neben ihm am Kreuze hing. Nach einem Verbrecherleben hat er zur Bekehrung und zur Reue gefunden. Jetzt klammerte er sich an den Unschuldigen in der Mitte der drei Kreuze und bat ihn um ein Gedenken. Und der Herr gab ihm mehr als ein Gedenken. Er gab ihm die Seligkeit des Himmels. „Heute noch wirst du mir im Paradiese sein.“

„O mein Heiland, sprich dieses Wort auch zu mir,

wenn mein irdischer Lauf zu Ende geht.

Schenke mir dieses Wort des Trostes und der Macht,

denn dieses Wort eröffnet mir die Pforten der seligen Ewigkeit.“

Amen.

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