19. Januar 2014
Die Lüge
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In einer Gesellschaft erklärte eine Dame: „Ich habe in meinem Leben dreimal gelogen.“ Ein Herr gegenüber erwiderte trocken: „Das ist zusammen viermal.“ Lügen heißt: mit Bewusstsein die Unwahrheit sagen. Die Theologen haben sich darüber gestritten, ob zur Lüge notwendig ist die Absicht, andere zu täuschen. Aber diese Frage ist eigentlich müßig. Denn wer lügt, täuscht, ob mit oder ohne Absicht. Er verbirgt die Wahrheit, und es ist deswegen eine formelle Absicht, andere in die Irre zu führen, gar nicht notwendig.
Es gibt viele Arten von Lügen. Je nach dem Zweck, der mit ihnen verfolgt wird, teilt man sie ein. Die Scherzlüge: Man gebraucht einen Ausdruck, der nicht ernst gemeint ist und auch von den anderen so verstanden werden kann. „Ich habe gestern den Präsidenten Putin gesehen“ – nicht persönlich, sondern im Fernsehen. Das wäre eine solche Redeweise, als Scherzlüge gemeint, die nicht ungefährlich ist, weil sie zu einer Gewohnheit werden kann. Am häufigsten ist die Notlüge. Meine lieben Freunde, wir mussten in der Schule eines Tages einen Hausaufsatz schreiben über unsere Ferienerlebnisse. Nun hatte ich diese Erlebnisse mit meinem Bruder verbracht, und mein Bruder half mir beim Hausaufsatz. Der Lehrer fragte mich: „Hat dir der Bruder geholfen?“ Ich sagte: „Nein.“ Das war eine glatte Lüge, und ich schäme mich heute noch deswegen. Ganz anders ein hoher Justizbeamter in Cahors, in Frankreich, in der Französischen Revolution. Er hatte in einem Briefe an einen Freund geschrieben, er möge für den König beten. Der Brief wurde abgefangen, und er wurde vor Gericht gestellt. Mit dem König etwas zu tun haben zu wollen, das war tödlich im damaligen Frankreich. Ein Freund, der eine hohe Position hatte, riet ihm zu bestreiten, dass der Brief von ihm stammt. Der Justizbeamte erklärte, er könne nicht lügen. Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Häufig ist die Dienstlüge, die ausgeht von Menschen in amtlicher Stellung; sie wollen etwas verbergen. Es gibt arabische Politiker, die erklären, in ihren Ländern werden die Christen nicht verfolgt. Aber jedermann weiß, dass das Gegenteil der Fall ist. Das sind Dienstlügen. Häufig ist auch die Schadenslüge. Man will einem Nebenmenschen einen Schaden zufügen. Man erfindet deswegen eine unredliche Handlung. Häufig ist das bei Vergewaltigung. Der Fernsehmoderator Kachelmann wurde ja freigesprochen von der Behauptung seiner ehemaligen Geliebten, er habe sie vergewaltigt. Sehr häufig sind Geschichtslügen. Jetzt geht die Lüge wieder um, es habe ein Mann namens Martin Luther kommen müssen, weil die Kirche in einem beklagenswerten Zustand war. Meine lieben Freunde, wer die Zeit des 16. Jahrhunderts gründlich studiert hat, der weiß, dass die Verhältnisse nach dem Auftreten Luthers viel, viel schlimmer wurden, als sie vorher gewesen waren. Der Schriftsteller Hochhuth wirft Papst Pius XII. vor, er hätte die Juden retten können, wenn er laut und vernehmlich für sie eingetreten wäre. Ha, ha, meine lieben Freunde, wie kann man einen solchen Unsinn schreiben? Die Leute, die auf den Papst nicht hören, wenn es um die Empfängnisverhütung geht, die werden auf ihn hören, wenn er für die Juden, die verhassten Juden, wie sie damals waren, eintritt? Wie kann man einen solchen Unsinn schreiben?! Aber Hochhuth schreibt ihn. Das ist eine Geschichtslüge. Die Nutzlüge geschieht, um sich oder anderen einen Vorteil zu verschaffen oder um sich oder andere zu schützen. In Bayern lebte in der Zeit des Nazi-Regimes eine gut katholische Frau, unverheiratet, ledig. Und sie nahm sich eines jüdischen Mädchens an – das ist die heutige Frau Knobloch in München –, sie nahm sich eines jüdischen Mädchens an und gab es als ihre ledige Tochter aus, um es zu schützen – eine Nutzlüge.
Die Lüge ist immer innerlich sündhaft und deswegen ist sie nie erlaubt. Die Heilige Schrift ist eindeutig: „Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Gräuel.“ „Ein hässlicher Schandfleck am Menschen ist die Lüge.“ „Der Dieb ist noch besser als einer, der dauernd lügt. Verderben aber ernten beide.“ „Der Mund, der lügt, tötet die Seele.“ „Der Teufel ist ein Lügner und Vater der Lüge.“ In der Apokalypse heißt es: „Draußen bleiben die Mörder, die Götzendiener und die, welche die Lüge lieben und tun.“ Ich meine, deutlicher kann man die Verwerflichkeit der Lüge nicht angeben, als es die Heilige Schrift tut. Und auch die Kirchenväter sind sich, nach zeitweiligem Schwanken, einig: Die Lüge ist und bleibt verwerflich. Das sagen die größten Kirchenlehrer, die wir haben: Augustinus und Thomas. Luther war anderer Meinung. Er gestattet die Nutzlüge, und das tun bis heute viele evangelische Theologen. Sie gestatten die Nutz- oder Notlüge, ja, sie sei sogar in manchen Fällen geboten.
Warum ist die Lüge verwerflich? Aus zwei Gründen: Einmal, weil sie dem Wesen der Sprache widerspricht. Die Sprache dient ja der Konnexion, der Verbindung der Menschen miteinander. Die Lüge aber zerschneidet diese Verbindung durch die Unwahrheit. Dazu kommt, dass sie auch dem Wesen des Menschen widerspricht. Er hat nämlich die sittliche Aufgabe, die Wahrheit zu sagen und der Wahrheit zu dienen. Man kann die Lüge auch nicht rechtfertigen mit dem Nutzen, der manchmal – vielleicht sogar häufig – damit verbunden ist. Man würde nämlich dazu kommen, immer wieder Pflicht zur Wahrheit und Lügenhaftigkeit abzuwägen. Und die Gründe für die Lüge würden immer geringer werden, die Schadenfolgen stünden im Fokus des Interesses, und das würde zu einer Zersetzung der geistigen Persönlichkeit führen. Auch eine Gefahr für das Gemeinwohl entstünde. Man könnte sich nicht mehr auf den Nächsten verlassen. Das Vertrauen in die Sprache und in den ganzen Umgang mit dem Nächsten würde durch die Zulassung der Lüge erschüttert. Es wüchse auch die Möglichkeit, im Dunklen Böses zu betreiben. Der Anreiz zum Bösen würde erhöht; man kann es verbergen durch die Lüge. Die Verantwortung für das Handeln würde geschwächt; man kann sich decken, indem man die Unwahrheit sagt, und die Feigheit des Charakters würde genährt. „Der Lügner muss ein gutes Gedächtnis haben“, sagt der Volksmund, „er braucht sieben Lügen, um eine schön zu reden.“ Eine Lüge zieht die andere nach sich.
Die Theologen sind sich im Wesentlichen einig, dass die Lüge an sich eine schwere Sünde ist. Wenn immer das hohe Gut der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit auf dem Spiele steht, wenn immer es um wichtige intellektuelle Fragen geht, wird die Lüge als schwere Sünde beurteilt. Aber ich muss natürlich gleich hinzufügen: es kann eine „parvitas materiae“ geben, eine Geringfügigkeit der Sache. Und die Lügen, die im täglichen Umgang gebraucht werden, sind ja in der Regel geringfügig, sodass man davon ausgehen kann: Im Allgemeinen begehen die Menschen, mit denen wir täglich umgehen, wenn sie überhaupt die Unwahrheit sagen, nur lässliche Sünden. Freilich kann auch daraus eine Gewohnheit entstehen, ein Laster.
Mit den Lügen verwandte Sünden sind Fälschungen von Urkunden und Schriftstücken. Wie oft liest man, es hat jemand den Führerschein gefälscht, es hat jemand seine ärztliche Approbation gefälscht. Falsche Papiere, die zur Flucht vor Verfolgung ausgestellt werden, sind wohl ein anerkanntes Mittel politischen Handelns; ein solches Verhalten wird man nicht mehr als Lüge bezeichnen können. Es gibt auch Lügen durch praktisches Verhalten, dass man sich anders gibt, als man in Wirklichkeit ist. Denken Sie an den Kuss des Judas. Der Kuss ist eine Begrüßung zwischen Freunden, aber bei Judas war er das Mittel, um den Herrn auszuliefern. Viel gelogen wird in der Schule. Der Theologe Adolf Schlatter schreibt über seine Jugend: „In der Schule wurde beständig gelogen. Sie erzeugte und bedeutete den Schein.“ Auch bei Ernst Wiechert, dem ostpreußischen Dichter, habe ich gelesen, wie er seine Schulzeit beurteilt: „Noch heute sehe ich mit Sorge an, wie ich durch diese toten Jahre ging. Lücken, die nie mehr zu schließen sind. Neigung zu Lärm, zu Grausamkeit, zum Untergang in einer formlosen Masse. Betrug, um Nichtgewusstes vorzutäuschen.“ In letzter Zeit war viel von einer besonderen Form der Lüge die Rede, nämlich vom Plagiat. Plagiat ist geistiger Diebstahl, also vollständige oder teilweise Übernahme eines fremden literarischen, musikalischen oder bildnerischen Werkes in unveränderter oder nur unwesentlich veränderter Fassung unter Vorgabe der eigenen Urheberschaft. Es kann ein Verstoß gegen die grundsätzliche, wissenschaftliche oder künstlerische Redlichkeit sein, aber es kann auch nur mal bloße Ungenauigkeit oder Schlamperei sein. Plagiate sind bei Doktorarbeiten häufig. Aber dass sie entstehen können, ist die Schuld des Professors, der die Arbeiten nicht gründlich durchsieht. Es gab in Österreich einmal einen Operettenkomponisten namens Fux. Und als er wieder eine neue Operette geschrieben hatte, da sagte ihm sein Freund: „Fux, die hast du ganz gestohlen.“ D.h. die Operette war aus anderen Musikstücken zusammengestellt.
Verschieden von der Lüge ist die Verheimlichung der Wahrheit. Man muss nicht alles sagen, was man weiß. Man muss es nicht jederzeit sagen. Es ist nicht unerlaubt, sondern manchmal pflichtmäßig, die Wahrheit zu verbergen, wenn nämlich die Mitteilung dem Hörer oder anderen schaden würde. Es gibt eine glückliche Unkenntnis, die man wünschen darf. Man darf sie auch bewirken durch eine zweideutige Rede. Diese zweideutige Rede ist ja bei uns bekannt. Denken Sie an die Ironie. Die Ironie ist eine Redeweise, bei der das Gegenteil des Wortlautes gemeint ist. Ein klassisches Beispiel für Ironie ist die Rede des Marc Antonius an der Leiche Caesars im Drama von Shakespeare. Da sagte er von den Mördern: „They are all honourable men.“ They are all honourable men, sie sind alle ehrbare Leute. Er meinte natürlich das Gegenteil: Sie sind Schurken. Aber er sagt: „They are all honourable men.” Das ist Ironie. Auch die Höflichkeitsformeln sind ja nicht immer Ausdruck der vollen Wahrheit. Wir schreiben an einen „sehr geehrten Herrn“ oder eine „sehr geehrte Dame“, sind aber der Meinung, dass er gar nicht geehrt ist und sie auch gar nicht die Ehre verdient. Einer meiner Lehrer hatte die Angewohnheit, einem Schüler, der während der Stunde auf die Toilette gehen wollte, zu sagen: „Ich bitte darum.“ Nun, gebeten hat er ja nun nicht. Diese mehrdeutigen Ausdrücke sind gestattet in Fällen, in denen die Wahrheit nicht ohne Pflichtverletzung oder Schaden mitgeteilt werden kann, wo aber das bloße Schweigen ebenfalls nicht möglich ist. Sprachlich mehrdeutige Aussagen gibt es eben. Während der Französischen Revolution drangen die Häscher in das Haus ein, in dem Ludwig Colmar, der spätere Bischof von Mainz, verborgen war. Colmar öffnete den Soldaten – sie kannten ihn nicht, er war ja als Diener verkleidet. Sie fragten, ob Colmar im Hause sei. Er antwortete: „Den werdet ihr schwerlich finden. Aber kommt, wir wollen sehen, ob wir ihn finden.“ Und er führte sie durchs ganze Haus; natürlich fanden sie ihn nicht. Zum Schluss sagte er: „Ich habe es euch ja gesagt, dass ihr ihn nicht finden werdet.“ Das war zweifellos eine zweideutige Rede, aber wir werden nicht sagen, dass das eine Lüge gewesen sei. Meine Großmutter war eine tapfere – ich möchte sagen –, eine heldenhafte Frau. In der Zeit des Dritten Reiches, in den vierziger Jahren, nahm sie sich besonders der Juden an, steckte den Juden Brote zu. Einmal wurde sie erwischt. Der Wachmann sagte: „Was machen Sie denn da? Das sind doch Juden!“ „Ach“, sagte sie, „sind das Juden?“ Auf eine unpassende Frage kann man antworten: „Ich weiß es nicht.“ Nach verbreiteter Auffassung kann diese Antwort sowohl das wirkliche Nichtwissen ausdrücken als auch die Bedeutung haben: Ich weiß es nicht für dich. Den Umständen entsprechend will der Antwortende letztlich die Absicht ausdrücken, der Beantwortung der Frage auszuweichen. Das ist der eigentliche Sinn seiner Worte. Aber der Adressat kann die Bedeutung erkennen. Also bei der sog. Mentalrestriktion geht die Lösung dahin, dass man die Wahrheit verhüllt, nicht leugnet. Man fügt der Aussage im Inneren eine Einschränkung bei. Und so entsteht eben zwischen dem gesprochenen Wort und der Aussageabsicht eine gewisse Unklarheit und Mehrdeutigkeit. Sie haben schon von dem berühmten Schauspieler Gustaf Gründgens gehört. Er war ein großer Künstler. Gegen Ende seines Lebens reiste er nach Manila, der Hauptstadt der Philippinen, in ein Hotel. Und eines Abends sagte er zu seinen Begleitern: „Lasst mich schlafen, ich werde morgen nicht so früh aufstehen.“ Er hatte in Wahrheit die Absicht, sich mit Schlaftabletten zu töten – und so ist es gekommen. Bemühen wir uns, meine lieben Freunde, wahrhaftig zu sein. Seien wir bereit, auch Schaden zu erleiden, wenn wir die Wahrheit sagen. Die innere Befriedigung über die eigene Wahrheitsliebe tröstet über den Verlust hinweg, den wir erleiden, denn die Lüge beschwert uns. „O weh der Lüge“, hat Goethe einmal gedichtet:
„O weh der Lüge! Sie befreit nicht
wie jedes andre, wahrgesprochne Wort
die Brust, sie macht uns nicht getrost, sie ängstet
den, der sie heimlich schmiedet, und kehrt,
ein losgedrückter Pfeil, von einem Gotte
gewendet und versagend, sich zurück
und trifft den Schützen.“
Amen.