5. Mai 2013
Die Heilige Schrift – Wort Gottes in Menschengestalt
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Offenbarung Gottes ist eine. Aber der Zugang zu ihr ist ein zweifacher. Er geschieht durch die Heilige Schrift und durch die Heilige Überlieferung. Die Heilige Schrift ist Gottes Wort in Menschenwort. Die ganze Schrift enthält Gottes Wort, aber nicht in allen Teilen in gleich unmittelbarer Weise. Anders ist die Schrift eines Propheten inspiriert als die Schrift eines Apostels. Gott ist der Urheber der Heiligen Schrift, der Autor, durch seine Inspiration. Inspiration heißt Anhauchen, Eingebung. Gott hat das, was er geoffenbart wissen wollte, menschlichen Autoren mitgeteilt. Er bedient sich der biblischen Schriftsteller, um das auszusagen, was er ausgesagt wissen will und wie er es ausgesagt wissen will. Die biblischen Autoren sind keine toten Werkzeuge, keine unpersönlichen Instrumente in der Hand Gottes. Gott wirkt auf sie so ein, dass sie mit voller Einsicht, mit freiem Willen und mit völligem Gebrauch ihrer individuellen Anlagen und Kräfte schreiben, was Gott will und wie er es will. Daraus ergeben sich die Unterschiede in den Evangelien. Matthäus beispielsweise schreibt sein Evangelium unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung der Weissagungen. Lukas schreibt sein Evangelium in besonderer Berücksichtigung der Armen, der Kranken, er war ja Arzt. Aus dem Zusammenwirken Gottes und der Menschen ergibt sich, dass das so entstandene Buch das Wissen, den Charakter und die Eigenart des menschlichen Verfassers widerspiegelt und auch in der Gedankenführung, in der literarischen Gestaltung, in der sprachlichen Darbietung von ihm abhängig ist.
Die inspirierten Bücher lehren die Wahrheit. Sie lehren sicher, getreu und ohne Irrtum, wie das II. Vaticanum formuliert hat, sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen in den heiligen Schriften aufgezeichnet wissen wollte. Die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift ist ein definiertes Dogma. Sie betrifft den Sinn, den der menschliche Autor wirklich aussagen wollte. Über Gegenstände, die nicht zum Glauben und zur Sittenlehre gehören, unterrichtet nicht die Bibel, sondern die jeweilige Wissenschaft. Wo gesicherte Ergebnisse der Geschichts- oder der Naturwissenschaft vorliegen, darf man nicht meinen, die Bibel gebe uns Auskunft über diese Gegenstände. In Naturdingen drückt sich die Schrift nach dem damaligen Brauch und nach dem damaligen Augenschein aus. In geschichtlichen Dingen spricht sie so, wie es das Geschichtswissen ihrer Zeit erlaubte. Vom hl. Augustinus stammt das schöne, ich meine, befreiende Wort: „Die Bibel will nicht zeigen, wie sich die Himmel bewegen, sondern sie will den Weg in den Himmel zeigen.“ Also denken Sie an das Erste Buch der Heiligen Schrift, die Genesis, wo die Schöpfung durch Gott beschrieben wird, und zwar in der Form des Sechs-Tage-Werkes. Gott schuf das Licht, Gott schuf die Erde, Gott schuf die Lebewesen. Das ist keine Urgeschichte, wie sie tatsächlich vor sich gegangen ist, sondern das ist ein Ausdruck dafür, dass alles, was lebt, ohne Ausnahme, von Gott stammt. Niemand braucht anzunehmen, dass hier eine naturwissenschaftliche Belehrung erfolgt. Die Erzählung vom Sechs-Tage-Werk ist keine Darstellung der Weltentstehung, sondern es ist eine Verkündigung der Frohen Botschaft, dass alles, was lebt und sich bewegt, auf Gott zurückzuführen ist. Es gibt auch andere Gegenstände, die dem nichtgeschulten Leser Schwierigkeiten bereiten könnten. Im Dritten Buch Moses werden die Tiere aufgezählt, die die Israeliten essen durften (Wiederkäuer mit gespalteten Klauen) und die sie nicht essen sollten. Und da wird auch gesagt, sie sollen den Hasen nicht essen. Warum nicht? Er gilt zwar ein Wiederkäuer, aber er hat keine gespaltenen Klauen. Meine lieben Freunde, wir alle wissen, dass der Hase kein Wiederkäuer ist, aber es war damals die Ansicht, er sei einer, weil er eben seine Lippen so bewegt, wie es Wiederkäuer tun. So hat man angenommen, er sei ein Wiederkäuer. Ein anderes Beispiel: Sie alle kennen die Geschichte von Johannes, dem Täufer. Er wurde eingesperrt, weil er dem Landesfürsten, dem Herodes Antipas, sagte: „Es ist dir nicht erlaubt, die Frau deines Bruders Philippus zu haben.“ Ja, aber Herodias war gar nicht die Frau des Philippus. Sie war die Frau eines Bruders des Philippus, des Johannes Ohneland. Also ein offenkundiger Irrtum, aber ein Irrtum, wie er eben damals verbreitet war und wie ihn die neutestamentlichen Schriftsteller in naiver Weise übernommen haben.
Die Heilige Schrift bedarf der Auslegung. Sie spricht zwar nach Menschenart, aber deswegen ist sie nicht über jeden Zweifel erhaben. Luther behauptete zwar, die Bibel lege sich selbst aus, aber er meinte damit immer nur seine Auslegung. Viele evangelische Theologen halten diese Aussage Luthers für falsch. Ich zitiere den protestantischen Gelehrten Ernst Troeltsch. Von ihm stammt das Wort, ich habe es wörtlich nachgelesen: „Die Bibel legt sich eben nicht selbst aus, sondern sie ist das Buch, in dem jeder seine eigenen Dogmen sucht und findet.“ Die Bibel bedarf also der Auslegung. Um die Aussageabsicht der biblischen Autoren zu erfassen, muss man die Verhältnisse der damaligen Zeit, ihre Kultur, die Redeweisen, die Gattungen, in denen die Menschen damals sprachen, kennenlernen, die Denkweisen, die Sprechweisen, die Erzählformen. Reden sind etwas anderes als Predigten oder Gebete. Urkunden sprechen eine andere Sprache als Erzählungen. Rechtssprüche sind zu unterscheiden von Kultsprüchen oder Prophetensprüchen. Lieder haben verschiedene Funktionen im Gottesdienst oder bei einem fröhlichen Fest. Das alles ist zu beachten, wenn man daran geht, die Bibel auszulegen. Sie muss in demselben Geiste ausgelegt werden, in dem sie geschrieben ist. Und da gibt es drei Hinweise, wie sie geschrieben ist und wie sie darum auch auszulegen ist. Nämlich erstens: Man muss auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achten. Die Bibel ist eine Einheit nach dem Plane Gottes. In ihr vollzieht sich ja die schriftliche Niederlegung seiner Offenbarung. Diese Einheit verlangt, dass man nicht den einen Satz gegen den anderen ausspielt. Ein Beispiel: Jesus sagt: „Der Vater ist größer als ich.“ Da könnte es scheinen, dass man einen Subordinationismus, also eine Unterordnung von Sohn und Vater annehmen muss. Aber er sagt ja auch: „Ich und der Vater sind eins.“ Also muss das erste Wort, soweit es dunkel ist, durch das zweite, das hell ist, ausgelegt werden. Zweitens: Die Schrift muss in der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche gelesen werden. Die Kirche bewahrt ja in ihrer Überlieferung das Gedächtnis des Gotteswortes. Und der Heilige Geist gibt ihr die geistige Auslegung der Schrift. Drittens: Es ist auf die Analogie des Glaubens zu achten, das heißt, auf den Zusammenhang der Glaubenswahrheiten. Keine einzelne Aussage darf für sich genommen werden, sondern jede ist aus dem Gefüge, aus dem Gesamtgefüge der Offenbarung zu deuten.
Die Schrift ist immer wesentlich Instrument des kirchlichen Lehramtes. Sie ist keine Instanz, die von privater Seite – Martin Luther – gegen das Lehramt geltend gemacht werden könnte. Das von Christus autorisierte Lehramt ist der legitime Interpret der Schrift. Dadurch steht das Lehramt nicht über der Schrift, wohl aber steht das Lehramt über jeder privaten Auslegung der Schrift. Die bleibende Treue der Kirche zu dem in der Schrift Niedergelegten ist garantiert durch den Beistand des Heiligen Geistes. „Er wird euch in alles einführen, was ich euch gesagt habe.“ Die biblischen Bücher werden in einer Liste zusammengefasst. Diese Liste nennt man Kanon, Kanon der Heiligen Schriften. Es gibt einen Kanon des Alten Testamentes und einen Kanon des Neuen Testamentes. Der Kanon des Alten Testamentes umfasst 46 Schriften, der Kanon des Neuen Testamentes 27. Man hört heute verstärkt und vermehrt die Rede: „Wir haben ja alle dieselbe Bibel!“ Nein, meine lieben Freunde, wir haben nicht alle dieselbe Bibel. Die Reformatoren, also Luther und seine Gefolgsleute, entfernten aus dem Alten Testament 7 Bücher. Die Protestanten haben 7 Bücher weniger im Alten Testament als wir, und im Neuen Testament entfernten sie 4. Sie haben also im Neuen Testament 4 Bücher weniger als wir. Es ist nicht wahr, wenn man sagt, wir haben dieselbe Bibel. Nein, wir haben nicht dieselbe Bibel. Welche Bücher inspiriert sind und zum Kanon gehören, das wissen wir nur durch die Kirche. Wenn die Kirche uns nicht sagen würde, dieses Buch gehört zur Heiligen Schrift, dann wüssten wir es nicht. Und die Kirche hat ja auch lange gerungen, um festzustellen, welche Bücher zum Kanon gehören. Es gab Bereiche der Kirche, Diözesen, Ortskirchen, die hatten andere Bücher, die sie zur Heiligen Schrift rechneten, zum Beispiel den „Hirten des Hermas“ oder den Barnabasbrief. Erst durch die untrügliche Belehrung des Heiligen Geistes hat die Kirche vermocht festzustellen, welche Bücher kanonisch sind. Und weil die mündliche Überlieferung der Apostel die Erkenntnis des Kanons begründet, deswegen bleibt die mündliche Überlieferung der Heiligen Schrift bleibend vorgeordnet.
Das Alte Testament ist ein unaufgebbarer Bestandteil der Heiligen Schrift, aber nicht für alle. Es gibt evangelische Theologen, die fordern, das Alte Testament aufzugeben. Einer von ihnen ist der berühmte Adolf von Harnack. In der Zeit des Nationalsozialismus, und ich habe sie erlebt, in dieser Zeit setzte eine heftige Kampagne gegen das Alte Testament ein. Seine Bücher wurden als „Judenbücher“ verunglimpft. Man verlangte die Herausnahme aus dem Lehrplan. Viele evangelische Pfarrer ließen das Alte Testament entweder ganz weg oder benutzten es nur in Auswahl. Auch hier, auch hier, meine lieben Freunde, hat sich unsere Kirche anders verhalten. Im Dezember 1933 stieg der Erzbischof von München, Kardinal Faulhaber, auf die Kanzel und hielt vier Adventspredigten zur Verteidigung des Alten Testamentes. Die Deutsche Bischofskonferenz hat am 22. August 1935 die Zurückweisung des Alten Testamentes entschieden abgelehnt. Man spricht vom Kirchenkampf, aber man sollte vorsichtig sein mit dem Worte, denn der Kirchenkampf ist, wie ich in einem Buche geschrieben habe, weitgehend eine Katholikenverfolgung gewesen. Das Alte Testament ist unverzichtbar, denn das Neue Testament ist in dem Alten verborgen, und das Alte Testament ist in dem Neuen enthüllt. Im Alten Testament sind Typologien wirksam, d.h. Vorformen, Vorformen des Neuen Testamentes. Die vielen Erzählungen des Alten Testamentes bilden ab, was im neuen Testamente erfüllt ist. Denken Sie etwa an das Manna in der Wüste. Dieses Manna ist eine Abbildung, ein Schattenriss der Eucharistie. „Wahres Manhu“, so singen wir im Kirchenlied, „wahres Manhu“ ist Jesus Christus jetzt geworden. Oder: Der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. Das ist ein Vorbild der Taufe. So wie die Israeliten durch diese wunderbare Tat Gottes gerettet wurden, so die Christenheit durch das Wasserbad der Taufe.
Die Evangelien, meine lieben Freunde, sind zweifellos der Gipfel der ganzen biblischen Literatur, die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Ihr zentrales Thema ist Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes. Seine Taten, seine Lehre, seine Leiden und seine Verherrlichung, auch die Anfänge der Kirche. Bei der Bildung der Evangelien sind drei Stadien zu unterscheiden. Erstens: Das Leben und die Lehrtätigkeit Jesu. Die Evangelien bieten zuverlässig das, was Jesus gelehrt und getan hat, bis zu dem Tage, da er in den Himmel aufgenommen wurde. Das zweite Stadium ist die mündliche Überlieferung. Evangelien sind ja nicht sogleich geschrieben worden, sondern zunächst gab es Predigten, Verkündigung, Unterricht. Die Apostel haben das, was sie erlebt haben mit Jesus, zunächst mündlich weitergetragen. Es gab freilich auch schon viele Versuche, Einzelheiten aus dem Leben und Wirken Jesu niederzulegen, zum Beispiel eine Zusammenfassung der Leiden, die Leidensgeschichte Jesu, eine Zusammenfassung der Wunder Jesu, eine Zusammenstellung der Worte Jesu. Das alles gab es, auch schon in diesem Stadium, aber erst im dritten, wurden die Evangelien abgefasst. Die Evangelisten wählten aus der mündlichen Überlieferung und aus den vielen schriftlich vorliegenden Bruchstücken Worte und Taten Jesu aus und fügten sie zusammen, sodass schließlich die Evangelien herauskamen, wie wir sie heute vor uns haben. Die Heiligen Schriften sind von der Kirche immer in Ehren gehalten worden. Mit Hochachtung und Liebe und Dankbarkeit hat sie sie aus der Hand Gottes entgegengenommen. Sie beruft sich auf sie, sie stützt sich auf sie und sie verehrt sie. Wenn wir beim feierlichen Hochamt den Rauch aufsteigen lassen, den Weihrauch verwenden, dann beräuchert der Priester auch das Evangelienbuch, aus Verehrung für das Wort Gottes. Die Kirche gibt den Gläubigen auch die Bibel in die Hand. Ein Verbot des Bibellesens, wie behauptet wird, hat es niemals gegeben. Aber die Kirche hat auch die Gefahren der nicht sachgemäßen Lektüre gesehen, denn bisher hat sich jeder Irrlehrer auf die Bibel berufen. Das Studium der Heiligen Schrift soll die Seele der ganzen Theologie sein. Die pastorale Verkündigung stützt sich auf die Bibel. Die Katechese nährt sich von der Bibel. Sie ist das Wort Gottes als gesunde Nahrung, die uns von der Kirche gegeben wird. Die Gläubigen können auch privat die Bibel lesen, und sie werden daraus reiche Anregung und Belehrung schöpfen.
Im neunzehnten Jahrhundert lebte der große Regensburger Bischof Johann Michael Sailer. Er war ein überragender Theologe und gleichzeitig ein heiligmäßiger Mann. Er lebte ganz aus der Heiligen Schrift. Von ihm stammt das schöne Wort: „Leben möchte ich nicht mehr, wenn ich ihn nicht mehr reden hörte!“
Amen.