Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. April 2010

Sehnsucht nach der Einheit aller in Christus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am Pfingstsonntag 1965 weilte ich in London. Ich besuchte den Pontifikalgottesdienst des Erzbischofs von Westminster, des Kardinals Heenan. An seine Predigt kann ich mich noch gut erinnern, und einen Satz habe ich mir wörtlich gemerkt: „Let us dream the dream of unity und peace! Laßt uns träumen den Traum der Einheit und des Friedens!“

Das Evangelium des heutigen Sonntags paßt zu dieser Predigt, denn darin wird das Ziel, das Jesus sich und uns gesetzt hat, die Richtung, in die er arbeitet, deutlich aufgezeigt: Es soll eine Herde und ein Hirte werden. Frieden und Einheit, weil ein Hirt und eine Herde werden sollen. Mit Ergriffenheit und Staunen vernehmen wir, dass auch Jesus diesen Traum geträumt hat, den Traum von Einheit und Frieden; mit Ergriffenheit deswegen, weil es doch die innerste Sehnsucht auch unseres Herzens ist, dass alle eins sein möchten, und mit Staunen, denn die besten und die schrecklichsten Menschen auf dieser Erde haben diesen Traum geträumt, die besten, weil sie eben die Sehnsucht hatten, den Wunsch des Heilandes in Erfüllung gehen zu sehen, die schrecklichsten, weil sie Menschen wie einen Block um sich versammeln wollten, um sie zu benutzen und in der Hand eines einzigen, des Herrn der Welt, zu gebrauchen. Es wird ein Hirt und eine Herde sein. Die Einheit, die Jesus wünscht, wird kommen.

Von welcher Art aber ist die Einheit, die Jesus uns verschaffen will? Es soll eine Einheit um ihn und in ihm werden. Er ist der Mittelpunkt dieser Einheit. Man kann die Menschen nicht wie eine Kette zusammenfügen, der eine oder andere, die sich halten sollen, nein, das ist für den einzelnen Menschen zu schwer, einen anderen zu halten und zu tragen. Und wir lassen ja auch die Menschen immer wieder fallen, die wir einmal ergriffen haben oder die nach uns gegriffen haben. Man kann die Menschen nur um einen gemeinsamen Mittelpunkt versammeln, in dem alle zusammen einen Halt finden, der stark genug ist, sie zu halten. Jesus ist stark genug. Er läßt keinen fallen, und er trägt alle. Er hat die Kraft dazu, denn er kennt den Vater, und der Vater kennt ihn. Und diejenigen, die zu ihm kommen, müssen ihn erkennen. Die Einheit muss also durch das Kennenlernen Jesu geschaffen werden.

Wer kennt Jesus, wie er wirklich ist? Wer auf ihn hört, auf sein Selbstzeugnis, auf seine Selbstoffenbarung. Wer dieses Selbstzeugnis annimmt und es ernst nimmt und wer die Erklärung dieses Selbstzeugnisses annimmt und ernst nimmt, welche der Geist Christi durch das Lehramt der Kirche uns zuspricht. Keine Einheit des Scheines, keine Einheit der Täuschung, keine Einheit mit schwammigen Formulierungen, unter denen sich jeder etwas Verschiedenes vorstellen kann. Keine Einheit mit Formelkompromissen, die in dem Augenblick zerbrechen, wo man beginnt, sie auszulegen. Es kommt alles darauf an, dass wir die wirkliche Einheit in Christus als dem Sohne Gottes finden, als dem ersehnten Messias, als dem Wunderheiland, als dem leibhaftig Auferstandenen, als dem wahren und wesensgleichen Sohn Gottes. Zur Einheit im Glauben genügt nicht irgendeine Christlichkeit. Die Einheit im Glauben erfordert das eindeutige und klare Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als dem menschgewordenen Logos. Eine andere Einheit kommt nicht in Frage. Keine Einheit in einer Ideologie, keine Einheit in einer falschen Religion. Nein, eine Einheit nur in Jesus Christus. Denn der Gottmensch ist der einzige Angelpunkt, der eine Menschheit, eine Welt zusammenhalten kann.

Da sollen also die Menschen ihn kennenlernen als den, der in der Mitte steht. Es soll eine Einheit entstehen nicht um eine Idee, nicht um eine Fahne, nicht um ein Zeichen, sondern um eine persönliche Wirklichkeit, um den leibhaftigen Sohn Gottes. Diese Einheit ist nicht künstlich gemacht, sondern durch freie Willensentscheidung entstanden, nicht durch Gewalt und Zwang, nicht durch Waffen und Angst, nicht durch Aussicht auf Gewinn oder Nutzen, auch nicht durch Selbstsucht oder Feigheit oder Gewohnheit, nein, aus dem freien und schaffenden Willen. Eine Einheit, die beiderseitig ist. „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.“ Die Menschen halten sich an ihn, den sie erkannt haben, und er nimmt sie an, er hebt sie zu sich empor und betrachtet sie als gleichwertig, gleichwürdig.

Der Mietling ist von anderer Art als der gute Hirt. Mietlinge sind diejenigen, sagt Jesus, denen an den Schafen nichts liegt. Wie kann er das sagen? Es liegt ihnen doch etwas an den Schafen, insofern sie Mittel zu einem Zweck sind, insofern man an ihnen reich oder mächtig oder satt werden kann. Aber das ist es ja eben. Das ist es ja eben! So kann man Schafe besitzen und behandeln als Nutztiere, als Gebrauchstiere, als Versuchstiere, sie benutzen, sie ausnutzen, sie gebrauchen, sie mißbrauchen, sie verwenden, sie verwerten. Dem Mietling dienen die Schafe zur eigenen Befriedigung, zu eigenen Erhöhung. Der gute Hirt ist von anderer Art. Ihm sind die Schafe keine Nutztiere, sondern gleichwertige und ebenbürtige Genossen seines Herzens. Er dient den Schafen, und er dient ihnen selbstlos. Er will nichts für sich, er will alles für seine Schafe. Immer. meine lieben Freunde, wenn ein Mensch andere als Mittel zu einem Zweck benutzt, immer, wenn er ein Amt zu einem persönlichen Ziel, das er erreichen will, benutzt, immer dann haben wir einen Mietling vor uns, ob das nun ein Priesteramt oder ein Bischofsamt ist. Der gute Hirt lebt selbstlos und dient selbstlos, er verwaltet sein Amt als Dienst an den ihm Anvertrauten.

Die Einheit wird geschaffen, wenn sich alle um den einen Hirten sammeln. Wird das möglich sein? Ist das eine Utopie? Christus hat ja schon begonnnen, Menschen zu sammeln. Eine zahllose Menschenmenge hat sich ihm angeschlossen. Er hat eine Kirche gegründet, und sie ist die größte Menschenversammlung geworden, die es auf Erden gibt und die schon 2000 Jahre dauert. Sie ist vielleicht die allumfassendste Herde, die es bisher je gegeben hat. Die Kirche, die katholische Kirche ist die Sammlung von Menschen, deren Hirt Jesus Christus ist. Aber diese Sammlung ist nur keimhaft da. Sie ist noch nicht vollendet, sie ist noch nicht vollkommen. Sie ist erst am Anfang. Sie ist noch auf dem Wege.

Wir wissen doch, meine lieben Freunde, wie es in unserer Kirche aussieht. Wir haben einen Einheitspunkt, nein, wir haben einen Einheitsmenschen, den Heiligen Vater in Rom. Er ist das Prinzip und der Garant der Einheit, Prinzip und Garant! Aber viele mißachten diese Einheitsperson. Mit Schmerz sehen wir Uneinigkeit und Zwiespalt, erleben den Aufstand gegen den Vater, erfahren von Anschlägen auf den Stellvertreter Christi. Der sogenannte Philosoph Dawkins hat den Vorschlag gemacht, den Papst zu verhaften, wenn er nach England kommt. Mit Schmerz vernehmen wir die Empörung und die Schmähungen gegen die heilige Kirche, beobachten das satanische Bemühen, den Gläubigen den Glauben, den Kirchengliedern die Treue zum Heiligen Vater zu entreißen. Man gibt vor, die Einheit der Christenheit herzustellen und zerstört die eigene Kirche. In diesen Tagen hat der Apostat von Tübingen wieder seine Stimme erhoben, der Apostat, der Demagoge. Er tut nicht mehr und nicht weniger als die Bischöfe, die Priester und die Laien zur Rebellion gegen den Heiligen Vater aufzurufen. Er fordert den Weltepiskopat auf, gegen den Willen des Papstes zu handeln. Das ist der Aufruf zum Aufstand, zum Zerbrechen der Einheit, zur Zerstörung der Kirche. Eine derartige Ungeheuerlichkeit erinnert an den abtrünnigen Mönch, der im 16. Jahrhundert die Kirche zu zerstören unternahm im Schutze mächtiger Förderer, der beutegierigen Fürsten. Der neue Luther von Tübingen vertraut auch auf mächtige Helfer, nämlich auf die Medien, auf die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Das sind seine Helfer. Wenn ein Mitarbeiter von Opel in Rüsselsheim die Arbeiter zum Ungehorsam gegen die Geschäftsleitung aufrufen würde, der erhält am nächsten Tage seine Papiere. Aber wo sind die deutschen Bischöfe? Stehen sie wie ein Mann auf gegen den Demagogen in Tübingen? Ich fürchte, sie haben das Aufstehen verlernt.

Angesichts dieser gehässigen Demagogie könnte man verzweifeln, dass der Einheitswille Jesu je zum Ziele kommt. Ist es nicht aussichtslos, auf eine Einheit zu hoffen, wenigstens in der Kirche, wenn solche Verführer aufstehen? Eine Utopie ist der Einheitswille Jesu nicht. Er ist zwar nicht erfüllt, noch nicht erfüllt, noch lange nicht. Aber er wird erfüllt. Er strebt stetig und unaufhaltsam seiner Erfüllung entgegen. Es hat doch Menschen gegeben, die sammeln und nicht zerstreuen, die andere zur Kirche führen und bei der Kirche halten, Menschen mit einem unerschütterlichen Glauben, Menschen mit einer die Gefahren nicht achtenden Liebe, Menschen mit einem durch Enttäuschungen nicht zu zertrümmernden Eifer. Solche Menschen hat es gegeben und gibt es heute noch.

Eines freilich scheint mir gewiß: Während diese Weltzeit läuft, wird es nach menschlichem Ermessen eine Einheit der Christenheit nicht geben. Ihre Erfüllung ist der Ewigkeit vorbehalten. Ich halte es für eine Illusion, für eine gefährliche Illusion, zu meinen, dass sich wenigstens die gespaltene Christenheit auf dieser Erde einigen könnte. Die Kräfte, die dieser Einigung widerstreben, sind zu stark. Der Protestantismus denkt nicht daran, das aufzugeben, was er als Errungenschaft der sogenannten Reformation ansieht. Die Orthodoxie hält unerbittlich an ihrer Autokephalie, an ihrer Sonderexistenz, an ihrem Staatskirchentum, an ihrem Nationalkirchentum fest. Sie beugt sich lieber vor Stalin als vor dem Papst in Rom. Die katholische Kirche kann nicht von dem Gut lassen, das der Herr ihr anvertraut hat. Sie kann die Wahrheit nicht preisgeben; sie kann auch über die Wahrheit nicht verhandeln. Sie kann nicht aufhören, Säule und Grundfeste der Wahrheit zu bleiben.

Der Weg zur Einheit, meine lieben Freunde, ist lang. Diese Einheit, nach der wir uns alle sehnen, wird erreicht sein, wenn diese Weltzeit vergangen ist und der neue Himmel und die neue Erde erscheinen, nicht früher. Aber was tun da die Zeiten, wenn eine Ewigkeit heranwächst? Alle Zeiträume sind verschwinden klein vor der Ewigkeit. Alle Zeiten, die noch kommen werden, dienen dazu, die Menschen zu sammeln, die eins werden in Christus. Wir werden uns wundern, wenn wir einst sehen werden, dass manche drin waren, von denen wir annahmen, dass sie draußen sind, und dass manche draußen sind, von denen wir annahmen, dass sie drin sind. Da werden wir uns wundern. Aber eine ganze Ewigkeit wird es triumphierende Wahrheit sein: Jetzt ist ein Hirt und eine Herde geworden. Im Augenblick stehen wir noch in der Dämmerung. Die Nacht weicht, und der Tag bricht an. Aber der volle Tag, der endlose Tag, der Tag des einen Hirten, der wird erst kommen, wenn die letzte Stunde geschlagen hat.

Amen.

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