2. November 2008
Das tröstliche Dogma vom Fegfeuer
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zum Gedächtnis der Armen Seelen Versammelte!
Wir haben am gestrigen Allerheiligentag nachgesonnen über das Schicksal derer, die von uns geschieden sind, und wir haben gesagt: Man kann ihr Los in drei Sätzen zusammen fassen, nämlich 1: Sie werden leben, 2: Sie werden lieben und 3: Sie werden wissen.
Am gestrigen Festtage haben wir betrachtet, was es heißt: Wir werden leben, ewig leben, als Persönlichkeit leben, nicht in veränderter Gestalt, nicht in einer Reinkarnation, in unserer Individualität werden wir leben. Wir haben aber auch gestern schon erkannt, dass der tiefste Grund unseres unsterblichen Lebens in der Liebe oder in der Anlage zur Liebe besteht, mit der Gott sich uns schenken und uns an sich ziehen kann. Darin besteht unsere Unersetzlichkeit. Jeder von uns hat darin etwas Unersetzliches, das Gott in alle Ewigkeit nicht mehr missen möchte. Nicht wir haben Anspruch auf Unsterblichkeit, aber Gott will, dass wir unsterblich seien und in seiner Herrlichkeit leben. Darum wird unser ewiges Leben nur um das eine, um dieses eine sich drehen, ob wir fähig sind, dieses Du zu Gott zu sprechen oder nicht. Das Größte, was man von uns sagen kann nach dem Ende des irdischen Lebens, ist in dem Satz ausgedrückt: „Wir werden lieben.“ Wir werden mit Gott in liebender Gemeinschaft leben, und zwar in einer ganz wahren, ganz lauteren und ganz vollkommenen Gemeinschaft.
Das ist eigentlich der Sinn des Offenbarungswortes von der Anschauung Gottes, die wir einmal haben sollen. Hier auf Erden haben wir geglaubt; im Jenseits wird der Lohn für unseren Glauben sein, dass wir schauen dürfen, was wir geglaubt haben. Da erfüllt sich das Wort: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott anschauen.“ Ja, dann erfüllt sich auch das Wort des Apostels Paulus: „Jetzt sehen wir wie im Spiegel und unklar, dereinst aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich selbst erkannt bin.“ Selbstverständlich ist dieses Wort vom Schauen ein Bild, ein menschliches Wort, aber ein Bild von unerschütterlicher Bildkraft, ein Wort von fast erschreckender Tiefe. Es will nämlich sagen, dass da nichts mehr zwischen uns und Gott stehen wird, kein Geschöpf, kein Schatten, keine Hemmung, keine Fremdheit, keine Ferne, kein Weg, kein Medium, keine Schuld. Alles das ist ausgeräumt. Es wird ein unmittelbares und widerstandsloses Zusammenfallen, Zusammensein mit Gott sein. Da ist dieses große Leid aller Liebenden auf Erden beseitigt, nämlich dieses Leid, das wir auf Eden so bitterlich durchkosten müssen, weil nämlich auch in der größten Liebe immer noch eine Ferne ist, eine Fremdheit, eine Unerfülltheit, eine Ohnmacht, ein Nichtkönnen. Dieses Leid wird aufhören, so unglaublich es klingt. Aber es wird durch ein Wunder der göttlichen Liebe möglich sein, dass die Liebe zwischen Gott und der Seele so sicher ist, dass sie sich genugtun kann, dass sie sich sättigen kann, dass nichts mehr zwischen uns und Gott ist, dass nichts mehr vermisst wird, sondern dass die Liebe endlich wird mit sich zufrieden sein können. Unsere ewige Vollendung wird also ein Leben in der Gemeinschaft sein. Es bestätigt sich die Erkenntnis, die wir schon auf Erden gewonnen haben, dass ein Mensch nur in der Gemeinschaft ein ganzer, ein vollkommener, ein heiliger und ein seliger Mensch werden kann.
Daraus ergibt sich aber auch, dass der Mensch, der seine Vollendung nicht gefunden hat, der verlorene, der verworfene Mensch ein einsamer Mensch sein wird, ein Mensch ohne Du, ein Ich-Mensch. Auch er wird ewig leben, denn er trägt in sich jene Einmaligkeit und Einzigkeit, die seine Zerstörung und seinen Abbau ausschließt. Aber er wird in alle Ewigkeit nur ein Ich sein und kein Du. Er wird niemals Du sagen können und niemals ein Du hören können.
Jetzt wissen wir, worin der Himmel und worin die Hölle besteht. Der Himmel ist die Lebensgemeinschaft mit Gott und mit allen Geschöpfen, die zu ihm gehören, eine Gemeinschaft von unsausdenkbarer Nähe, Vertraulichkeit und Seligkeit. Die Hölle ist das gemeinschaftslose Leben, das liebeleere Leben, das Leben eines Geistes, der nichts mehr hat, weil er nichts liebt als sein eigenes Ich. Aber sein eigenes Ich kann man nicht ewigwährend, vollkommen und mit seligmachender Liebe lieben. So lieben kann man nur das Du, und durch das Du hindurch und um des Du willen auch das Ich. Wer also kein Du hat, der hat nichts mehr. Daher kommt es, dass die Menschen, die nicht lieben können, wie lebendig Begrabene sind, abgeschlossen von allem, was noch da ist außer dem eigenen Ich. Sie führen ein Leben in unerhörter Verlassenheit, in unbegreiflicher Ausgestoßenheit und Heimatlosigkeit. Ein solcher Mensch kann kein Geschöpf mehr besitzen. Denn er könnte es nur besitzen, wenn er lieben würde; aber weil er nicht liebt, kann er es nicht besitzen. Die verlorenen Menschen, die ewig Hoffnungslosen, können auch nicht einander lieben, weil sie eben überhaupt keine Liebe haben. Dort drüben in jenem furchtbaren Reiche ewiger Kälte und Finsternis bestehen alle Wesen in lauter Ich-Menschen, zwischen denen keine Brücke, keine Verbindung, keine Zusammengehörigkeit, kein Verstehen möglich ist. Jeder von ihnen muss in alle Ewigkeit sagen: Ich habe keinen Menschen. Weil ich keinen Gott habe, dem ich Du sage, deswegen habe ich auch keinen Menschen. So furchtbar rächt sich der Egoismus des ichbesessenen Menschen, der auf Erden nur sich kennt, nur sich gelten lässt, nur sich sucht, nur sich anbetet und vergöttert. Weil er niemanden sucht, wird er niemanden finden. Weil er niemandem dient, wird er niemandem gehören. Weil er niemanden bejaht, wird er zu niemandem sprechen. Weil er zu niemandem geht, wird er bei niemandem sein. Und das ist seine Hölle. So schrecklich ist es, mit der Forderung des Liebesgebotes. Auf das ewige Leben, meine Freunde, auf das ewige Leben kann man sich hienieden nur durch Liebe vorbereiten und durch Ausbildung der Liebesfähigkeit. Wer auf Erden keinen Hungrigen gespeist, keinen Durstigen getränkt, keinen Heimatlosen beherbergt hat, der wird ewig verworfen bleiben.
Da möchte man nun erschrecken in tiefer Bangigkeit um das Schicksal aller Menschen und um unser eigenes Schicksal. Denn jene wahrhaft hemmungslose Liebe zwischen Gott und der Seele ist doch etwas so Großes und Seltenes, dass es wohl die wenigsten Menschen fassen können. Das ausführlichste und schönste Wort, das der Sohn Gottes über den Himmel gesagt hat, ist dieses: „Vater, ich will, dass diejenigen, die an meinen Namen glauben, auch das seien, wo ich bin, und die Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast von Anbeginn.“ Der Herr setzt voraus, dass wir mit ihm in solcher Liebesgemeinschaft leben werden, dass es unsere ewige Seligkeit ausmacht, seine Herrlichkeit zu schauen. Das ist also nur etwas für Liebende. Wer diese Liebe zu Christus nicht hat, dem bedeutet auch seine Herrlichkeit und die Gemeinschaft mit seiner Herrlichkeit nichts. Für den hat der Himmel keinen Sinn. Wenn wir uns selber anschauen, wenn wir in unsere eigene Seele blicken, dann müssen wir mit tiefem Erschrecken feststellen, dass wir noch weit entfernt sind von jener Liebe. Und wenn wir die Menschen betrachten, wie wir sie um uns erleben, dann sehen wir, wie unendlich selten die wahre Liebe ist, ja wie unfähig zu wahrer Liebe sie zu sein scheinen. Diese bange Frage ist wohl am Platze. Die wahre und reine Liebe ist selten auf Erden, aber nicht weil die Menschen unfähig sind dazu, sondern weil sie so tief vergraben und verschüttet sind in ihrer Unlauterkeit und Selbstsucht, weil die Menschen den Zugang zu ihr nicht finden und sie nicht herausgraben aus ihrem Inneren, aus den Abgründen ihres Herzens, so wie man einen goldenen Schatz herausgraben kann, der dort im Dunkeln liegt. Aber dieser goldene Schatz ist doch da, und weil er da ist, kann er auch gehoben werden. Er ist so lange da, wie der Mensch ihn nicht selbst wegwirft. Und wenn er seine goldschürfende Arbeit auf Erden nicht verrichtet, dann muss sie drüben nachgeholt werden. Das ist der innerste Sinn der kirchlichen Lehre vom Reinigungsort, vom Fegfeuer, von der Läuterung, wo die Seelen in unvorstellbarer Pein endlich alles wegräumen müssen, was ihrer vollkommenen Liebe und ihrem innersten Einssein mit dem göttlichen Du noch im Wege steht.
Wahrlich nur in schweren, tiefen Leiden kann diese Läuterung gelingen. Wir sehen schon auf Erden, wie nur die Menschen, die selbst etwas durchgemacht haben an Weh und Leid, reif und aufgeschlossen werden für die wahre Liebe. Freilich, nicht jedes Leid wirkt läuternd und reifend, aber jede Seele, die reif geworden ist und lauter geworden ist, die ist durch ein tiefes Leid gegangen. Jeder Mensch, der ein herzliches und inniges Du sprechen kann, der hat es gelernt in Stunden, wo er sein eigenes Ich nur noch weinend aussprechen konnte.
So gehört also das Fegefeuer zu den Letzten Dingen. Und es ist eines der tröstlichen Worte in diesem Dogma, dass es auch nach dem Tode noch eine Frist gibt, vielleicht eine unvorstellbar lange, aber einmal doch zu Ende gehende, in der es uns ermöglicht wird, durch alle irdischen Trübungen und durch alle irdischen Hemmungen vorzudringen zu dem großen, herrlichen Mysterium der ganz reinen, der ganz guten Liebe.
Die katholische Kirche lehrt aufgrund der Schrift und der Überlieferung, dass es einen Reinigungszustand gibt und dass die dort zurückgehaltenen Seelen durch die Fürbitten der Gläubigen und besonders durch das Opfer der heiligen Messe Hilfe finden. In diesem Glauben sind wir heute hier versammelt. Wir denken an die Armen Seelen, wir beten für sie, wir feiern das Messopfer für sie, wir wenden ihnen Ablässe zu. Die Lehre vom Fegfeuer, eine vergessene Lehre in der nachkonziliaren Kirche, ist für unser Leben von großer Bedeutung. Denn das Dogma vom Fegfeuer soll uns antreiben, dass wir in unseren Sünden und Schwächen nicht erschlaffen. Das Dogma vom Fegfeuer soll uns trösten, dass wir in unseren Sünden und Schwächen nicht verzagen. Das Dogma vom Fegfeuer ist ein wahrlich tröstliches Dogma. Die Armen Seelen leiden, aber sie leiden nicht nur, sie freuen sich auch. Die Freuden der Armen Seelen sind so zahlreich, so unbeschreiblich, so unversieglich wie ihre Leiden. Warum? Das Fegfeuer ist nicht eine Vorhölle, sondern ein Vorhimmel. Die im Fegfeuer befindlichen Seelen sind gerettet. Sie haben es geschafft. Sie besitzen die Anwartschaft auf den Himmel, und niemand kann sie der Hand Gottes entreißen.
So ist also der Allerseelentag bei aller Bedenklichkeit und bei aller Sorge auch ein froher Tag. Wir wollen an diesem Tage beten: „Herr der Erbarmungen, gewähre den Seelen deiner Diener und Dienerinnen den Ort der Erquickung, die Seligkeit der Ruhe und die Klarheit des Lichtes. Milder Jesus, Herrscher du, schenk den Armen Seelen ewige Ruh!“
Amen.