13. April 2008
Das Antlitz des Gottmenschen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der heilige Augustinus hat einmal einen dreifachen Wunsch ausgesprochen, was er sehen möchte, nämlich 1. die Stadt Rom in ihrer kaiserlichen Pracht, 2. das Heilige Land, in dem der Herr gewandelt ist, und 3. das Antlitz des Herrn selbst. Diesen Wunsch, meine Freunde, haben wohl viele Christen schon gehabt: Ja, wenn ich ihn einmal sehen könnte! Ich erinnere mich, wie mir einmal in einer sächsischen Industriestadt ein Arbeiter sagte, indem er auf den Tabernakel verwies: „Ja, wenn er doch einmal herauskommen möchte!“ Ja, wenn er doch einmal herauskommen möchte!
Gott ist ein Mensch geworden, ein Mensch wie wir, so sagen wir. Das ist der Inhalt des christlichen Glaubens: Jesus Christus ist Gottes Sohn, der eine menschliche Natur angenommen hat. Er ist ein Mensch geworden, auf dass wir der göttlichen Natur teilhaftig werden. Wäre er nur Gott, dann könnte er uns kein Beispiel sein. Wäre er nur ein Mensch, so hätte er uns nicht erlösen können. Also ist der Gottmensch erschienen. Er war ein Mensch, aber nicht ein Mensch wie wir. Der Heiland war ein eigenartiger, ein einzigartiger Mensch. Es gibt keinen, der ihm gleichkommt. Wir haben von Kindheit an Bilder unseres Herrn betrachtet. Gewöhnlich wird er dargestellt als junger Mann – er war ja, als er aufzutreten begann, 30 Jahre alt – mit Bart, mit hoher Stirn, ein aufrechter, ein edler Mann, eine edle Erscheinung – das Idealbild eines Menschen. Und die Maler aller Zeiten haben versucht, uns sein Bild zu entwerfen. Im Grunde sind sie aber nicht über die Gemälde hinausgekommen, die uns die großen Italiener, Niederländer und Deutschen geschaffen haben: Leonardo da Vinci, Fra Angelico, Michelangelo, Raffael. Sie haben uns gezeigt, wie sie sich Christus vorgestellt haben in ihrer Phantasie. Denn das eine ist klar: Es gibt kein Bild Jesu, das ihn so wiedergäbe, wie er in der Wirklichkeit gewesen ist. Kein Pinsel und kein Malerwerkzeug hat den Herrn uns aufbewahrt, wie er war. Auch keine Schreibfeder hat es überliefert. Wir möchten den Evangelisten manchmal gram sein, dass sie uns nichts über die äußere Gestalt Jesu mitteilen; aber sie hatten gute Gründe, denn sie wussten: Die Gestalt des Herrn ist so beschaffen, dass das Äußere weit weniger wichtig ist als seine geistige Persönlichkeit. Und sie trugen ja sein Bild in ihrem Herzen. Wir sollten, das ist vielleicht auch eine Überlegung gewesen, innerlich ihm gleichförmig werden, nicht äußerlich.
Das Christusbild der großen Maler ist auch unseres. Was van Eyck oder Memling geschaffen haben, was Grünewald oder Dürer uns übermittelt haben, das ist auch unser Christusbild. Sie haben es nicht nur mit sicherer Hand gezeichnet, sondern auch mit glühendem Herzen. Von Fra Angelico ist bekannt, dass er jedes Mal betete, bevor er den Pinsel ansetzte, um ein Bild des Herrn zu malen. Und Leonardo da Vincis sichere Hand zitterte, wenn er daranging, das Bild des Herrn zu zeichnen. Was hätten sie dafür gegeben, wenn sie einmal hätten seine Gestalt sehen können, so wie die Apostel ihn gesehen haben, wie das Auge seiner Mutter ihn gesehen hat, wie die Kranken und die Siechen ihn geschaut haben, wie der rechte Schächer ihn angeblickt hat! „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen“, verkündet Johannes, und das ist es, was wir jeden Tag am Schluß der heiligen Messe beten: Wir haben seine Herrlichkeit gesehen – freilich wir eine verborgene, aber ihm war sie ja auch verborgen. Und „Du bist wahrhaft der Sohn des lebendigen Gottes“, so haben sie ausgerufen. Sicherlich war der erste, unvergessliche Eindruck, den Jesus auf das Volk machte, von der gewaltigen Kraft seines Geistes getragen. Aber dieser Geist muss sich auch irgendwie in der äußeren Erscheinung ausgeprägt haben. Wir wissen doch, dass das Wort gilt: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut.“ Man kann am Gesicht eines Menschen viel ablesen. Das Gesicht prägt Züge aus, die den Menschen in seinem Leben bestimmen. Je stärker der Geist eines Berufes ist, desto ausgeprägter, unverwischbarer wird das Gesicht eines Menschen sein, desto ergreifender werden seine Züge predigen.
Das Beherrschende im Antlitz Jesu wird wohl sein Auge gewesen sein. Sein Auge strahlte. Er hat es selber einmal ausgedrückt mit den Worten: „Die Leuchte deines Leibes ist dein Auge. Ist dein Auge gesund, so wird dein ganzer Leib licht sein.“ Und so ist es wohl kein Zufall, wenn der Evangelist Markus immer wieder an bedeutsamen Stellen eines hervorhebt: „Er blickte ihn an und sprach…“ „Er blickte ihn an und rief…“ „Rede, damit ich dich sehe“, hat einmal ein Menschenkenner gesagt. An der Rede kann man tatsächlich den Menschen erkennen. Welche zündende Rede muss unserem Heiland zu eigen gewesen sein! Jedes seiner Worte war ein herrenhafter Befehl. In ihm war ja die Tatkraft Gestalt geworden, in diesem Führer aller Führer. Er ruft autoritativ, und Jakobus und Johannes lassen den Vater zurück und folgen ihm. Gegen sein „Komm und folge mir nach!“ gab es kein Widerstreben und keinen Augenblick der Unentschiedenheit. Einer wurde von ihm aufgefordert: „Folge mir nach!“ Doch dieser machte Einwände: „Herr, erlaube, dass ich vorher hingehe und meinen Vater begrabe!“ Jesus entgegnete ihm: „Laß die Toten ihre Toten begraben. Du komm und folge mir nach!“ Er treibt die Händler aus dem Tempel mit herrischen Worten, und keiner wagt eine Widerrede oder einen Widerstand. Er schleudert den Pharisäern sein achtmaliges „Wehe“ entgegen, und niemand wagt ihm zu entgegnen. Alle erblassen und verstummen. Wie glaubhaft wurde da seine großartige Prophezeiung, dass er auf den Wolken des Himmels wiederkommen werde mit großer Macht und Herrlichkeit! Wie anders sprach er zu den Frauen und Müttern: „Ihr Frauen von Jerusalem, weinet nicht über mich, weinet über euch und eure Kinder, denn es werden Tage kommen, da man sprechen wird zu den Bergen: Fallt über uns! und zu den Hügeln: Bedecket uns! Wenn das am grünen Holze geschieht, was wird dann am dürren geschehen?“ Und wie mag er zu den Kindern gesprochen haben, die er herzte und liebte? Wie mag er zu den Sündern geredet haben, wohlwollend, wenn auch ernst: „Sündige nicht mehr! Gehe hin und sündige nicht mehr!“
Seine Rede hat die Anhänger, aber auch das ganze Volk fasziniert. Der Herr sprach eben nicht wie die Pharisäer, sondern er redete wie einer, der Macht hat. Seine ganze hoheitsvolle Erscheinung zog die Menschen in seinen Bann. Die Jünger, die doch Tag und Nacht, jahraus und jahrein mit ihm zusammen waren, wagten es nicht, sich allzu vertraulich mit dem Herrn auf eine Stufe zu stellen. Sie gerieten vielmehr immer wieder in Staunen über sein Reden und Tun und fanden nicht den Mut, ihm eine Frage zu stellen. Die Nazarener, die ihn von dem Berge, auf dem ihre Stadt gebaut war, herabstürzen wollten, erschraken über seine Rede, und sie hatten nicht den Mut, an ihn eine Frage zu stellen. Er schritt gelassen durch sie hindurch, und als das Volk ihn zu einer Stunde, die der Vater nicht bestimmt hatte, zum König machen wollte, da verließ er die heilige Stadt Jerusalem, da ging er still durch die begeisterte Menge und begab sich auf einen einsamen Berggipfel, um zu beten. Und in der Stunde, da sich ihm der Verräter nahte, trat er der Rotte entgegen, die mit Schwertern und Prügeln gekommen war, um ihn gefangen zu nehmen. „Wen suchet ihr?“ „Jesus von Nazareth.“ „Ich bin es !“ Da wichen sie zurück und fielen zu Boden.
Ohne jede reißerische Geste, ohne Sucht, zu glänzen, trat er vor das Grab des Lazarus, trat er vor das Sterbelager des Töchterleins des Jairus, trat er an den Sarg des Jünglings von Naim, und Tod und Leben verspürten die Macht des Imperators. Nie tat er auch nur einen Schritt, sprach er auch nur ein Wort, rührte er auch nur einen Finger, um angenehm und willkommen zu sein, um das Wohlgefallen der Menschen zu gewinnen. Er war kein Opportunist! Denn von ihm wurde gesagt: „Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und dich vor niemand scheust.“ Hier war kein Schein, hier war Echtheit und unbedingte Treue zu sich selbst. Nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Evangelisten, meine lieben Freunde, muss Jesus ein überaus leistungsfähiger, abgehärteter und kerngesunder Mann gewesen sein. Schon dadurch unterscheidet er sich von anderen Religionsstiftern. Mohammed war ein kranker Mann, erblich belastet, in seinem Nervensystem zerrüttet, als er die Fahne des Propheten entrollte. Buddha war innerlich zerbrochen, verlebt, ausgelebt, als er die Welt verließ. Von Jesus hören wir niemals, dass er von irgendeiner Krankheit heimgesucht wurde. Alle die Leiden, die über ihn kamen, waren Berufsleiden, Entbehrungen und Opfer, die ihm seine messianische Sendung auferlegte.
Jesus versagte niemals und nirgends, selbst nicht in den aufregendsten und gefährlichsten Lagen, etwa im rasenden Sturm des Sees Genesareth. Da ruhte er auf einem Kissen und schlief. Als seine Jünger ihn weckten, aus tiefem Schlaf gerissen, da hat er sofort die Situation gemeistert: „Schweige! Verstumme!“ Und das Seebeben hörte auf, und der Sturm ließ nach. „Was ist denn das für einer“, sagten die Leute, „dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?“ Was ist denn das für einer? Er muss ein ganz innerlich gefestigter und beherrschter Mensch gewesen sein, der niemals ein fahriges, aufgeregtes Wesen zeigte. Er ist das Ideal des Menschen. In ihm sind alle gegensätzlichen Eigenschaften vereinigt: Erhabenheit und Liebe, Ernst und Helle, Kraft und Zärtlichkeit, das alles überstrahlt von der Würde seines göttlichen Wesens. Wir begreifen jetzt, wie die Jünger ihm sehnsüchtig nachschauten, als er gen Himmel fuhr. Und auch als der Tröster, der Geist, zu ihnen gekommen war, hat die Sehnsucht nach ihm sie nicht verlassen. „Er wird wiederkommen, und wir werden ihn sehen, und unsere Freude wird niemand von uns nehmen.“
Wie entrückt muss Stephanus ausgesehen haben, als er in seinem Todesleiden den Herrn zur Rechten Gottes stehen sah! Und auch tieffromme Menschen haben immer diese unaussprechliche Sehnsucht in sich getragen, den Herrn zu sehen, und sie waren von heiliger Begeisterung, wenn sie daran dachten, dass sie ihn einmal sehen werden. Der heilige Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, hat einmal gepredigt: „Wir werden ihn sehen! Wir werden ihn sehen! Wir werden ihn sehen! O meine Kinder, wisst ihr: Wir werden ihn sehen!“ Eine Viertelstunde rief er nur aus: „Wir werden ihn sehen!“ Und die Tränen rollten über sein heiliges Antlitz: „Wir werden ihn sehen!“
Der heilige Augustinus hatte einmal ein Gespräch mit dem Heiland, und in diesem Gespräch, da hieß es: „Du kannst dir wählen, dass dir alle irdische Freude immer verbleibt oder dass du mein Antlitz sehen kannst.“ Da fiel der heilige Augustinus dem Herrn in die Arme und sagte: „Ich will nichts anderes als dich sehen. Lieber soll mir alles genommen werden, aber dein Antlitz will ich schauen.“
In diesen Tagen zieht in Mainz das Peter-Cornelius-Konservatorium um. Peter Cornelius war ein gläubiger katholischer Christ. Von ihm stammt, aus einem Briefe entnommen, der schöne Satz: „Ich weiß, dass wir ewig leben und dass der geringste Mensch eine unsterbliche Seele hat, welche zu derselben Herrlichkeit berufen ist wie der glänzendste Geist: Gott zu schauen.“ Und unser schlesischer Dichter Angelus Silesius hat so schön in seinem „Cherubinischen Wandermann“ geschrieben: „Das Antlitz Gottes sehen ist alle Seligkeit. Von dem verstoßen sein das größte Herzeleid.“ Das Antlitz Gottes sehen ist alle Seligkeit. Von dem verstoßen sein das größte Herzeleid. Der unvergleichliche Denker Aristoteles macht uns darauf aufmerksam, dass alles Erkennen darin besteht, dass der Erkennende eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Erkenntnisgegenstand gewinnt. Wenn es sich so verhält, dann kann ein Schauen Christi nur dem in Aussicht gestellt werden, der wirklich sich Christus zu verähnlichen strebt, in dem der Herr gleichsam seine himmlischen Züge herausgearbeitet hat.
Im 19. Jahrhundert gab es einmal einen Professor Arthur Drews. Dieser Herr verkündete, dass Jesus nie gelebt habe. Er leugnete die historische Existenz Jesu. Es gibt keinen Unsinn, meine lieben Freunde, den nicht schon ein Professor von sich gegeben hätte. Aber immerhin, Drews fand seine Anhänger. Und einer dieser Anhänger kam zu dem tiefreligiösen Maler Hans Thoma und sagte triumphierend: „Meister, jetzt brauchen Sie kein Christusbild mehr zu malen.“ Thoma antwortete ihm leuchtenden Auges: „Mein Christusbild kann mir niemand zerstören. Ich trage es im Herzen!“
Amen.