19. August 2007
Werke der leiblichen Barmherzigkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wenn man die Menschen der Reihe nach fragen würde: Was ist mehr wert, die Wahrheit oder die Liebe? Ich fürchte, dass dann die meisten sagen würden: die Liebe. Die Wahrheit ist nämlich vielen – ich fürchte den meisten Menschen – das Gleichgültigste. Aber für die Liebe haben sie Verständnis, denn sie wissen, dass man die Liebe braucht und dass man sie auch anderen schenken soll. Aber ist es wahr, dass die Wahrheit unbeachtlich ist gegenüber der Liebe? Meine lieben Freunde, woher wissen wir, was Liebe ist? Wir wissen es aus der Wahrheit, aus der Offenbarung. Ohne die Wahrheit, ohne die Offenbarung ist uns nicht bekannt, was Liebe ist, kennen wir nicht ihre Gesetze, wissen wir nicht ihre Grenzen und ist uns unbekannt, was die Liebe im einzelnen Falle von uns fordert. Mir sagte einmal eine Frau: „Mein Schwager verfolgt mich mit der Liebe.“ Sie meinte damit: Er will mit mir Unzucht treiben. Der Begriff der Liebe ist das am meisten geschändete Wort in allen Sprachen, und deswegen müssen wir zur Wahrheit unsere Zuflucht nehmen, um zu erkennen, was Liebe ist und was Liebe bedeutet.
Am 4. Oktober 1943 hielt der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, einen Vortrag in Posen. Bei diesem Vortrag sagte er unter anderem folgendes: „Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu den Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig.“ Und dann fuhr er fort: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“ Was ergibt sich aus diesem Text? Dass man nach Himmler Liebe nur zum eigenen Volk haben sollte und dass man anständig bleiben konnte, auch wenn man andere Völker ermordete. Die Wahrheit allein kann uns erklären, was Liebe ist, wie wir zu anderen sein müssen, nämlich die Wahrheit lehrt uns, eine unbegrenzte Liebe zu einem jeden Menschen zu haben, sie lehrt uns die Liebe zu allem, was ein Menschenantlitz trägt. Wahrheit ohne Liebe ist gewiß kalt, aber Liebe ohne Wahrheit ist blind.
Die Wahrheit, die uns unsere Kirche vermittelt, hat uns nun Wegweiser gegeben, worin die Liebe besteht, und welches ihre Auswirkungen sind. Ich erwähne heute davon die Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Es sind sieben Werke, die die Kirche aus der Heiligen Schrift, aus der Offenbarung gezogen hat, und die sie uns vorlegt als Auswirkungen und Pflichten der Liebe. Die ersten beiden Werke lauten: „Hungrige speisen, Durstige tränken.“ Es gibt zu allen Zeiten Menschen, die Hunger leiden und die Durst haben. Wir lesen heute, dass es Millionen, Hunderte von Millionen Menschen auf dieser Erde gibt, die kein reines Wasser zum Trinken haben. Und der Hunger treibt viele in Not und Verzweiflung. Millionen und Abermillionen werden, weil sie sich nicht sättigen können, mit Tuberkulose angesteckt und stecken wieder andere mit ihrer Krankheit an. Hunger und Durst sind weit verbreitet. Wir können nicht alles Leid lindern oder beheben, aber wir können mitwirken, dass den Hungernden das Brot gebrochen und den Durstigen ein Trunk Wassers bereitet wird. Wir können mithelfen durch unsere Gaben, die wir an die Hilfswerke reichen, damit sie den anderen Menschen Hilfe zuteil werden lassen können. Wohltätigkeit ist keine Frage des Reichtums. Ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass gerade die Wenigbemittelten häufig die eifrigsten Geber und Spender sind.
Als in den vierziger Jahren die Juden in Deutschland zusammengefasst wurden, zur Zwangsarbeit gebracht wurden, Tag und Nacht bewacht wurden und gelegentlich in Kolonnen durch die Städte marschierten, da war es meine arme Großmutter, arm, weil ihr Mann nicht viel verdiente, die den Juden Brot schnitt und es ihnen überreichte. Einmal wurde sie erwischt von einem Posten: „Das sind doch Juden!“ rief er ihr zu. Da spielte sie die Naive: „Ach, sind das Juden?“ sagte sie. Als wir im Mai 1945 in grauen Kolonnen von Russen bewacht in die Gefangenschaft zogen, es war sehr heiß in diesem Mai, da stellten uns mildtätige Frauen Wasser an den Rand der Straße, damit wir uns aus Eimern ein wenig laben konnten, ein wenig unseren Durst löschen konnten. Es gab freilich Wachtposten, die stießen diese Eimer um. Es ist ein hohes Werk der Barmherzigkeit, Hungrige zu speisen und Durstige zu tränken.
Von dem späteren Breslauer Bischof Melchior von Diepenbrock wird berichtet, wie er als Kind erfuhr, dass ein Tagelöhner seine einzige Kuh verloren hatte. Was tat der kleine Melchior von Diepenbrock? Er band eine Kuh aus dem Stalle seiner Eltern los und brachte sie dem armen Tagelöhner. Auch das heißt Hungrige speisen, Durstige tränken.
Das dritte Werk der Barmherzigkeit heißt: „Nackte bekleiden.“ Es gibt immer noch viele Menschen, die sich nicht genügend mit Textilien versorgen können. Da haben wir viele Möglichkeiten. Überall stehen die Container, die unsere Gaben aufnehmen wollen und können. Wir haben zu Hause so viele Kleider und Mäntel und Schuhe, abgelegte, überflüssige Kleidungsstücke: warum spenden wir sie nicht für diejenigen, denen sie Dienste leisten können? Nackte bekleiden ist auch heute ein Werk der Barmherzigkeit. Der heilige Martin gab seinen halben Mantel dem Bettler, und wir wissen von anderen Beispielen, wie Menschen den Bedürftigen zu Hilfe gekommen sind. Die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach berichtet von ihrem Vater, der im deutsch-französischen Krieg gefangengenommen wurde von den Franzosen und krank und fieberglühend auf einem Wagen in die Normandie transportiert wurde. Als sie durch eine Ortschaft kamen, Troyes, da standen die Leute am Straßenrand und beobachteten die deutschen Gefangenen, und einer, ein alter Mann, der im Mantel dabei stand, sah den Vater von der Marie von Ebner-Eschenbach. Er nahm seinen Mantel von seinem Körper und reichte ihn dem Verwundeten: „Tenez“ – behalten Sie ihn. Marie von Ebner-Eschenbach hat dieses Erlebnis nie vergessen. Nackte bekleiden ist ein Werk der leiblichen Barmherzigkeit.
Schwieriger ist das vierte Werk, nämlich „Fremde beherbergen“. Denn Gastfreundschaft ist eine schwere Aufgabe. Die Polen haben nicht umsonst das Sprichwort: „Gäste und Fische stinken am dritten Tag.“ Leute bei sich aufnehmen, fremde Leute bei sich beherbergen, das ist ein schwerer Dienst. Man kann dabei böse Überraschungen erleben. Der große Apostel von Berlin, Carl Sonnenschein, hatte die Angewohnheit, Bettler, Obdachlose, die bei ihm anklopften, zu bemittelten katholischen Familien zu verweisen, damit sie sie aufnahmen. Und da er eben ein unverschämter Bettler war, haben die Familien auch tatsächlich in vielen Fällen seinen Wunsch erfüllt. Aber da konnten sie arge Enttäuschungen erleben. Am nächsten Tage läutete das Telefon bei Sonnenschein: „Der Bettler, den Sie uns gestern Abend ins Haus geschickt haben, ist verschwunden und hat den besten Teppich mitgenommen.“ Gastfreundschaft ist schwer. Gastfreundschaft im großen Maße übten zumindest früher die Mönche am Großen Sankt Bernhard. Damals, wo es noch keine Verkehrsmittel gab, wanderten Tausende, Zehntausende von Menschen über diesen Paß nach Italien, und die Mönche nahmen sie auf, kostenlos und ohne Rechnung. Eine ähnliche segensreiche Tätigkeit haben die Gesellenhäuser auf sich genommen, die Adolf Kolping errichtet hat. Früher war ja das Wandern der Gesellen üblich, und die Gesellen mussten ein Dach über dem Kopf haben. Da hat Kolping die Kolpinghäuser, diese Gesellenhäuser errichtet, ein Ersatz für die in der Fremde entbehrte Häuslichkeit. Tausende und Abertausende von Gesellen haben diese segensreiche Einrichtung benutzt. Auch heute gibt es Obdachlosenasyle, Waisenhäuser, Kommunikantenanstalten und die Bahnhofsmission, die segensreich wirken und die auf unsere Hilfe, auch auf unser Scherflein angewiesen sind. Denken wir auch an die vielen elternlosen, heimatlosen, verwahrlosten Kinder in der Ukraine, in Weißrußland, die von unseren Schwestern und von unseren Priestern betreut werden. Sie alle sind auf unsere Hilfe angewiesen. Unterstützen wir sie, wenn immer wir es vermögen.
Ein weiteres Werk der Barmherzigkeit lautet: „Gefangene erlösen“. Dieses heroische Werk hatte im Mittelalter der Orden der Trinitarier auf sich genommen. Dieser Orden verpflichtete sich, die Gefangenen loszukaufen; deswegen heißt er auch „Orden vom Loskauf der Gefangenen“, ja, wenn es nötig sei, auch selbst in Gefangenschaft zu gehen, um einen anderen zu befreien. Das hat dieser Orden jahrhundertelang getan. Stellvertretend haben sich viele seiner Mitglieder die Fesseln anlegen lassen, die von anderen gelöst wurden. Und große Päpste, wie Benedikt XV., haben das Werk der Befreiung der Gefangenen auf sich genommen und haben dafür gesorgt, dass ein Gefangenenaustausch zustande kam, dass vor allem Väter kinderreicher Familien ausgetauscht wurden. Das ist ein Ruhmesblatt unserer Kirche im Ersten Weltkrieg gewesen. Und was soll ich sagen zu dem berühmten Arzt Friedrich Josef Haas in Moskau, der im 19. Jahrhundert sich der Gefangenen annahm, die nach Sibirien getrieben wurden. Sie waren angekettet, sie hatten Fesseln um die Füße und mussten den Weg nach Sibirien zu Fuß zurücklegen. Er hat sich dieser armen, elenden Männer und Frauen angenommen. Er hat keinen Transport in Moskau passieren lassen, ohne dass er sich an jeden einzelnen gewandt hätte und dafür gesorgt hätte, dass die Fesseln erleichtert wurden. Er hat selber leichtere Fesseln gekauft, um den Gefangenen zu Hilfe zu eilen. Er hat ihnen Krankenhäuser, Stationen für unterwegs eingerichtet, Werkstätten, und das 26 Jahre lang. Das ist wahrhaftig ein Dienst, der unter die Kategorie fällt: Gefangene erlösen. Wir werden dazu wenig Gelegenheit haben, aber eines können wir tun, nämlich denen, die aus dem Gefängnis kommen, ohne Vorurteile zu begegnen, ihnen nach Möglichkeit zu helfen, dass sie wieder Fuß fassen können in der Gesellschaft durch Arbeit und Wohnung. Wir können auch helfen, dass die Gatten der Gefangenen ihnen während dieser Zeit treu bleiben, denn oft ist die Gefangennahme des einen der Anlaß für den anderen, sich zu trennen. Die Frau des sogenannten Reichsjugendführer Baldur von Schirach hatte die Zeiten der Herrlichkeit ihres Mannes mitgemacht. Aber als er 1946 zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da ließ sie sich scheiden. Wir können auch den Gefangenen insofern helfen, als wir uns, wenn nötig, als Bewährungshelfer zur Verfügung stellen. Das ist kein leichter Dienst, einem auf Bewährung Verurteilten zu Hilfe zu kommen. Aber es ist ein schöner, und es ist ein notweniger Dienst.
Das sechste Werk der Barmherzigkeit lautet: „Kranke besuchen“. Immer wieder bietet sich die Gelegenheit, Kranke aufzusuchen. Krankenpflege und Krankentröstung ist ein Werk, das wirklich ein Stück des Himmels auf die Erde niederholt, dort, wo Menschen sind, die das am nötigsten haben. Die Kranken sind immer die Lieblinge des Herrn und der Heiligen gewesen. Der heilige Franz von Assisi küsste die Wunden der Aussätzigen, und die heilige Elisabeth hat es ihm gleichgetan. Philipp Neri ging Tag für Tag in die Spitäler, um die Kranken zu trösten und ihnen als Seelsorger zur Seite zu stehen. Vinzenz von Paul hat uns die Kongregation der Vinzentinerinnen beschert, die Millionen von Kranken Linderung und Hilfe gebracht haben.
Kranke besuchen ist nicht immer angenehm. Kranken dienen ist noch viel beschwerlicher. Aber dieser Dienst ist von Gott reich belohnt. Wenn wir unsere Bequemlichkeit überwinden, wenn wir den Abscheu und den Ekel, die ja dabei vorkommen können, wenn wir die überwinden, dann spüren wir, wie Gott uns segnet und unser Herz reich macht. Durch Takt und Feingefühl mit den oft unwilligen Kranken umgehen, das ist wahrhaft ein Werk der leiblichen Barmherzigkeit.
Und schließlich das letzte Werk: „Die Toten begraben“. Wir werden selten in die Gelegenheit kommen, selbst Tote zu begraben, obwohl das nicht unmöglich ist. Als ich im Jahre 1950, im letzten Jahr vor der Priesterweihe, in Neuzelle an der Oder weilte und eines Tages an der Oder spazieren ging, da entdeckte ich dort einen gefallenen deutschen Soldaten, der die ganze Zeit nicht beerdigt worden war. Wir haben ihm ein Grab hergerichtet und ein Kreuz darauf gestellt. Das war wahrhaftig ein Dienst: Tote begraben.
Aber wir können einen anderen Dienst an den Verstorbenen verrichten, wenn wir nicht Tote selbst begraben, nämlich wir können an Leichenbegängnissen teilnehmen. Das ist ein Trost für die Angehörigen, das ist eine Ehrung für den Verstorbenen. Der Grabgang ist wahrhaftig ein Werk der Barmherzigkeit. Und dann die Grabpflege und der Grabbesuch. Wenn wir immer wieder hinausgehen zu den Gräbern der Unseren und der anderen, deren niemand gedenkt, dann ist das wahrhaftig ein Werk der Barmherzigkeit. Zu diesem Werk der Barmherzigkeit zählt es auch, wenn wir für die Verstorbenen beten, wenn wir ihnen Ablässe gewinnen. Von dem heiligen Peter Damiani wird erzählt, und das hat er selber berichtet, dass er als Junge ein Geldstück fand. Peter Damiani verdiente seinen Lebensunterhalt als Hirte. Er hatte oft Hunger, und jetzt fand er ein großes Geldstück und konnte den Eigentümer nicht ausfindig machen. Was tat Petrus Damiani? Er kaufte sich nichts zu essen, er brachte das Geld einem Priester und sagte: „Lesen Sie für dieses Geld eine heilige Messe für die Verstorbenen!“ Der Priester war von diesem Edelsinn so gerührt, dass er dafür sorgte, dass Peter Damiani in das Haus eines Geistlichen aufgenommen wurde, dass er studieren konnte, dass er Priester wurde, Bischof und Kardinal. Und er ist ein heiliger Kirchenlehrer geworden, der Gregor VII. in entscheidender Weise bei seiner Reform der Kirche zur Seite stand.
Das sind die Werke der leiblichen Barmherzigkeit, meine lieben Freunde. Es gibt auch andere, die man hinzufügen könnte. Denken wir etwa an die Lebensrettung in den Bergen oder im Wasser. Denken wir auch an die Hilfe bei Verkehrsunfällen. Wie viele fahren vorbei, wie der Priester und der Levit im heutigen Evangelium. Der Herr sagt: „Jeder Becher frischen Wassers, den man einem Menschen reicht, wird belohnt werden.“ Und wahrhaftig, wir sollten uns diese Werke der Barmherzigkeit ins Herz schreiben und sie in der Wirklichkeit den Menschen zuwenden. „Tätige Liebe heilt alle Wunden, bloße Worte vermehren nur den Schmerz“, hat einmal Adolf Kolping gesagt. Tätige Liebe heilt alle Wunden, bloße Worte vermehren nur den Schmerz. Und wir erinnern uns, dass der Herr die wunderbare Verheißung gegeben hat: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Amen.