17. Juni 2007
Vom Unheil der Lüge
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wer lügt, unterschlägt das, was wirklich ist, die Tatsachen. Wer lügt, versteckt sich hinter einer Täuschung, und darum kann man mit dem Lügner nicht umgehen, denn er hat sich durch die Lüge dem Umgang mit der Wirklichkeit entzogen. Der Lügner schließt die wahre, die echte, die lebendige und schon gar die bleibende Begegnung mit dem anderen aus. Wenn der Partner, von der Lüge getäuscht, sich auf ihn einlässt, dann verfehlt er sein Ziel, weil er eben von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die Lüge ist Sünde gegen die tragfähige Wirklichkeit des Lebens.
Die Absicht der Unwahrhaftigkeit kann in dreifacher Richtung verlaufen, nämlich je nachdem, ob sie Gott, den Nächsten oder sich selbst täuschen will. Die Lüge gegen Gott ist vor allem lächerlich. Die Lüge gegen den Nächsten ist asozial, gesellschaftsfeindlich, die Lüge gegen sich selbst ist schwächlich. Das ist das besondere Kennzeichen einer jeden Art dieser Lüge. Die Lüge gegen Gott ist lächerlich, weil sie widersinnig ist, denn Gott kann man nicht betrügen. Gott ist niemals zu täuschen. Sein durchdringender Blick erfaßt den Menschen, durchschaut von Anfang an die Masche. Wie mögen unsere Gewissenserforschungen vor Gott aussehen? Wie mag Gott unsere Gewissenserforschungen ansehen, wenn wir versuchen, unsere Taten nachträglich zu frisieren? Wie mögen auf Gott unsere Gebete wirken, wenn wir gar hohe Leidenschaften heucheln, die nicht durch das wirkliche Empfinden gedeckt sind? Es ist lächerlich, Gott täuschen zu wollen. Gott kennt die Herzen und durchforscht die Nieren. Gottes Augen sind an allen Orten und schauen auf Gute und Böse. Der das Ohr geschaffen hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen? Gott ist ein Richter aller Gedanken und Gesinnungen des Herzens. Nichts Geschaffenes ist vor ihm verborgen. Alles liegt bloß und offen vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft ablegen müssen.
Der heilige Johannes warnt deswegen vor dem Versuch, Gott betrügen zu wollen, Gott täuschen zu wollen, sich vor Gott verbergen zu wollen. In seinem ersten Briefe schreibt er: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Sagen wir, wir hätten nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“
Solche, die Gott belügen wollen, hat es schon zu der Zeit gegeben, als Johannes seine drei Briefe schrieb und auch, als er die Apokalypse verfasste. Denn da hat er der Gemeinde in Sardes in Kleinasien (in der heutigen Türkei) ausrichten lassen: „Ich kenne deine Werke. Dem Namen nach lebst du, doch du bist tot.“ Und der Gemeinde in Laodicea lässt Gott ausrichten: „Du sprichst: ,Wohlhabend bin ich, und ich brauche nichts, ich bin reich.’ Du weißt nicht, wie gerade du elend bist und erbärmlich, arm und blind und nackt.“
Die Lüge gegen den Nächsten ist asozial. Sie ist gesellschaftsfeindlich; denn sie verhindert die Gemeinschaft. Gemeinschaft besagt Teilhabe. Ich habe teil am Reichtum oder an der Armut des anderen; ich nehme Anteil an seinem Besitz oder an seiner Not, an seiner Stärke oder an seiner Schwäche, an seiner Freude oder an seinem Schmerz. Ich mache gemeinsame Sache mit ihm. Das ist Gemeinschaft. Die Lüge zerstört die Gemeinschaft. Schon die erste Lüge auf Erden hat die Gemeinschaft der Menschen und die Gemeinschaft mit Gott zerstört. In der Schlange im Paradiese hat sich der Satan verborgen, und er belog die ersten Menschen. „Keineswegs werdet ihr sterben, wenn ihr von dem Baume esst. Die Augen werden euch aufgehen.“ So macht er es immer. Der Teufel ist ein Lügner von Anfang an, und wer lügt, ist dem Teufel ähnlich. Die Vernunft sagt dasselbe wie die Heilige Schrift: Die Sprache ist uns gegeben zur Verständigung, damit wir uns austauschen und verstehen können, nicht damit wir uns täuschen. Wir sollen mit der Sprache unsere Empfindungen mitteilen und sie nicht verbergen. Die Lüge zwischen Mensch und Mensch ist schrecklich, sie ist peinlich, sie zerstört das Vertrauen.
Noch schwerwiegende ist die Lüge von oben nach unten, wenn die Regierung das Volk belügt. Die Herrschaft der Lüge haben wir ja erlebt, meine lieben Freunde, im Dritten Reich. Am 30. Juni 1934 wurde in Berlin der katholische Ministerialdirektor Klausener ermordet. Die Regierung gab die Kunde aus: Er hat Selbstmord begangen. Niemand konnte etwas dagegen sagen. Erst nach dem Kriege wurde aufgedeckt, dass er ermordet wurde. Und so ist es weitergegangen, das Volk ist belogen und betrogen worden, und der oberste Lügner war der Führer und Reichskanzler. Am 17. September 1942 erklärte er dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B und dem Kommandeur der 6. Armee, von Weichs und Paulus, die Rote Armee sei am Ende ihrer Kraft und zu strategischen Gegenangriffen nicht mehr befähigt. Zwei Monate später brach die Offensive der Roten Armee los. 300.000 deutsche und rumänische Soldaten wurden eingeschlossen im Kessel von Stalingrad. Dort ging die Lüge weiter. „Der Führer haut uns raus“, so hieß es. „Der Führer haut uns raus.“ Aber der Führer hat niemanden rausgehauen. Im Kessel von Stalingrad rief der Oberbefehlshaber, Generaloberst Paulus, seinen erfrierenden und verhungernden Soldaten zu, standzuhalten und zu siegen. Zu siegen! Meine Freunde, dieser Befehl zeigt die ganze Verlogenheit der Armeeführung, denn der Untergang der 6. Armee war nur noch eine Frage von Tagen, und der Oberbefehlshaber sprach von Siegen!
Die Lüge gegen sich selbst ist Schwäche. Denn was soll man von einem Menschen sagen, der es nicht fertig bringt, sich selbst zu sehen? Der es nicht fertig bringt, zu sich selbst zu stehen? Was immer der Mensch auch sein mag, das ist das mindeste, was er sich schuldig ist: Er muss sich sehen wollen, und er muss sich aushalten so, wie er ist. Die Flucht vor sich selbst ist schimpflich. Wer sie versucht, entbehrt des elementarsten Würdebewußtseins. Wer sich selbst belügt, der vergisst, wer er in Wirklichkeit ist. Friedrich Nietzsche, der Philosoph, hat geschildert, was im Menschen vor sich geht, wenn er sich selbst belügt: „Das hast du getan, sagt mein Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben, sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ So ist es. Wir sind gewohnt, uns vor uns selbst zu verstecken.
Wer sich selbst verstellt, der vergiftet das Verhältnis zum Nächsten und zu Gott. Der Schaden, den diese Selbsttäuschung anrichtet, ist in gewisser Hinsicht gefährlicher als die bewusste Täuschung des anderen. Denn wer die anderen täuscht, kann sich über sich selbst immer noch im klaren sein. Aber wer sich selbst zuvor betrog, hat die Kontrolle über sich verloren und setzt Fälschungen des Wortes, des Gefühls und des Handelns in Umlauf. Ein solcher Mensch hat nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit verloren, Freundschaft zu schließen. Er vermag sich nicht zu geben, weil er sich nicht besitzt. Seine Selbstbekenntnisse sind Schein, seine Versprechen sind ohne Gewähr, seine Gebete sind peinliche Phrasen.
Die Lüge gegen sich selbst erfaßt auch die Umwelt, die Wirklichkeit, die Tatsachen. Wer sich selbst belügt, will die Tatsachen nicht mehr wahrhaben; er verzeichnet sie. Man spricht dann von Zweckoptimismus, von Schönfärberei, von Selbstberuhigung und von Harmoniebedürfnis. O wie häufig ist das, meine lieben Freunde! Wie häufig ist das! Ein Mensch, der sich selbst belügt, ist nicht mehr imstande, die Wirklichkeit zu sehen. Er leidet entweder an Selbstüberschätzung oder an Unterschätzung der anderen. Ein solcher Mensch war Adolf Hitler. Er hat sich einmal selbst als den größten Schauspieler Europas bezeichnet, und das war er. Er litt an Realitätsverlust. Er sah nicht die Dinge, wie sie sind, sondern wie er sie sehen wollte. Als er einmal eine Melodie falsch pfiff, da machte ihn seine Umgebung aufmerksam auf den Fehler. Er erwiderte: „Nicht ich pfeife falsch, sondern der Komponist hat hier einen Schnitzer gemacht.“ Er verachtete die Wirklichkeit und schaltete sie aus. Vor dem Kriege verbat er sich warnende Denkschriften. Im Kriege betrachtete er jede nüchterne Lagebeurteilung als persönliche Beleidigung. Als der Generalstabschef Halder ihn darauf aufmerksam machte, dass die Russen jeden Monat 600 bis 700 Panzer anfertigen, da schlug er mit der Faust auf den Tisch und sagte, das sei unmöglich, der Russe sei tot. Als ihm der General Gehlen im Januar 1945 meldete, dass anderthalb Millionen russische Soldaten an der Weichsel bereitstünden, um dem Deutschen Reich den Todesstoß zu geben, da erklärte er den General Gehlen für verrückt.
Wenn wir nur noch das sehen, meine lieben Freunde, was wir sehen wollen und was wir zu sehen wünschen, dann sind wir mit geistiger Blindheit geschlagen. Nein, wir müssen der Wahrheit und der Wirklichkeit die Ehre geben. Wir müssen die Lüge, die Verstellung, die Täuschung abwerfen. Die bitterste Wahrheit ist wohltätiger als die süßeste Täuschung. Wir wollen nicht Gott, den Nächsten oder uns selbst betrügen. Wir wollen der Wahrheit die Ehre geben. Wir wollen die Wirklichkeit sehen, wie sie ist. Wer Gott liebt, muss die Wirklichkeit lieben, muss die lebendige Begegnung lieben. Er muss die Wahrheit tun und sich der Wirklichkeit aussetzen. Wahrhaftigkeit ist der Wille zum wirklichen Leben. Nur der Wahrhaftige kommt zu sich selbst, kommt zum Nächsten, kommt zu Gott. Ein Greuel für den Herrn ist ein falsches Herz!
Amen.