19. März 2006
Über Natur und Gnade
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Mensch ist gleichsam in zwei Bereichen zu Hause, im Bereich der Natur und im Bereich der Gnade. Gott hat den Menschen wunderbar erschaffen, aber, wie wir in jeder heiligen Messe lesen, noch wunderbarer erneuert. Er hat es nicht bei der Natur belassen, sondern er hat ihn in das Übernatürliche erhoben. Und so ist das ganze Leben und Wirken des Menschen ein Zusammenwirken mit seinem Gott. Wir wollen an diesem Sonntage deswegen erstens das Wirken Gottes mit seiner helfenden Gnade und zweitens das Mitwirken des Menschen mit dieser Gnade betrachten.
Es gibt eine helfende Gnade, die unserem Tun zuvorkommt, es begleitet und es vollendet. Wie können wir die helfende Gnade verstehen? Nun, erstens: Sie ist ein inneres Mitwirken Gottes. Es gibt auch äußere Gnaden. Alles, was wir erleben, unsere Umstände, unsere Verhältnisse, die Naturerscheinungen, die Menschen, die Ereignisse, das alles sind äußere Gnaden, das heißt Anrufe Gottes, um das Leben zu bewältigen, um es in seinem Geiste zu bewältigen, um es zu seiner größeren Ehre zu bewältigen. Aber nicht davon soll heute die Rede sein, sondern von den inneren Gnaden, vom inneren Mitwirken Gottes. Gott greift in unsere Seele ein. Er, der Allmächtige, er, der Allweise versteht es, unser Herz zu lenken, ohne dabei seine Freiheit aufzuheben.
Das innere Mitwirken Gottes bezieht sich zunächst auf unseren Verstand. Gott hilft uns, dass wir das Rechte erkennen. Er berührt mit seinem Lichte unseren Verstand und lenkt den Verstand, dass er das Rechte erkennt, dass uns gute Gedanken kommen, dass wir wissen, was zu tun ist. Das ist nichts Außergewöhnliches, sondern alles, was uns innerlich einkommt, sind gewissermaßen Funken von dem Feuer Gottes. Ein guter Rat, den wir geben, eine Überwindung, die wir uns auferlegen, eine hilfreiche Tat, die wir für einen anderen setzen, das alles sind Einwirkungen Gottes, Einsprechungen, wie die Theologie sie nennt. Und alle Weckrufe und Warnrufe unseres Gewissens kommen von Gott. Im Gewissen meldet sich die Stimme Gottes. Deswegen gilt es auf diese Einsprechungen zu hören, sie nicht zu überhören. Wir wissen, wie da manchmal ein Wogen in unserem Inneren ist, wie ein Kampf in uns tobt, soll ich das jetzt tun oder soll ich das nicht tun? Ist es nicht bequemer, wenn ich das unterlasse? Das ist das Ringen des Menschen mit der helfenden Gnade Gottes. Im ganzen täglichen Leben begleitet uns die Gnade Gottes und wirkt auf unseren Verstand ein.
Aber nicht nur dies. Gott berührt auch unseren Willen. Und das ist vielleicht noch ein größeres Geheimnis, denn wie kann Gott den Willen berühren und der Mensch doch frei bleiben? Ja, wir müssen so sagen: Er berührt den Willen so, dass der Mensch frei ist. Die Freiheit ist auch sein Geschöpf. Dass wir frei handeln können, ist Gottes Wirkung. Genauso ist es. Gott berührt unseren Willen, indem wir das Böse meiden können und das Gute tun können. Auch da spüren wir immer wieder den Zwiespalt. Er ist nirgends besser geschildert als im 7. Kapitel des Römerbriefes. Da schreibt der Apostel Paulus: „Das Gute, das ich sehe, tue ich nicht, das Böse, das ich verabscheue, vollbringe ist. Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich befreien von diesem Leib des Todes?“ Genauso ist es. Wir spüren in uns die Anregungen, das Gute zu tun, aber die Trägheit, die Sinnlichkeit, die Bequemlichkeit rät uns, es zu unterlassen.
Derselbe Paulus, der diesen Zustand des Menschen beschrieben hat, hat aber auch im Philipperbrief den Satz niedergelegt: „Ich vermag alles in dem, der mich stärkt.“ Ich vermag alles in dem, der mich stärkt. Der Heilige Geist kommt unserer Schwachheit zu Hilfe. Gott ergreift unseren Willen und macht ihn fähig, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Und das ist ein harmonisches Zusammenwirken zwischen Gott und dem Menschen. Das ist also die helfende Gnade: ein inneres Einwirken Gottes.
Es ist zweitens ein notwendiges Einwirken. Es ist ein notwendige Hilfe; denn die helfende Gnade muss uns heilen und erheben. Die helfende Gnade muss uns zunächst heilen. Wir haben Wunden, Wunden der Erbsünde, Wunden, die niemals ganz verharschen, Schwäche des Willens, Trübung der Erkenntnis. Die helfende Gnade vermag es, diese Schwächen gutzumachen. Sie vermag uns über die Schwäche des Willens und über die Trübheit des Verstandes hinwegzuhelfen. Und deswegen ist die helfende Gnade absolut notwendig. Wir brauchen sie für unsere Natur, damit die Natur geheilt wird. Niemand kann sich zu Gott bekehren, wenn Gott ihn nicht zieht. Aber er zieht ihn so, dass seine Freiheit gewahrt bleibt. Es ist also die helfende Gnade eine heilende Gnade. Sie ist aber auch eine erhebende Gnade, das heißt sie lässt uns im Heiligen Geiste, in der heiligmachenden Gnade Gutes tun. Wir sind ja durch die heiligmachende Gnade schon im Sein erhoben. Dass wir jetzt auch in diesem Sein handeln können, das ist der helfenden Gnade zuzuschreiben. Unser übernatürlicher Lebenszustand ist eben nicht nur ein Sein in Christus, er ist auch ein Leben in Christus. Wie oft mahnt der Apostel Paulus: „Wenn ihr im Heiligen Geiste lebt, müsst ihr auch im Heiligen Geiste handeln!“ Das eine fordert und bedingt das andere. Und der Herr erklärt uns, dass dieses Heilshandeln nur möglich ist in seiner Kraft. Er sagt im Johannesevangelium: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Gemeint ist: nichts übernatürlich Wirksames, nichts für den Himmel Hilfreiches, nichts uns Seligmachendes. „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“ Er sagt nicht: Ohne mich könnt ihr wenig tun oder ohne mich könnt ihr es schlechter tun. Nein: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Nicht das geringste Heilswirksame vermögen wir ohne die Gnade Gottes, ohne die helfende Gnade Gottes zu tun. Das ist diese erhebende Gnade.
Und diese erhebende Gnade ist drittens ein für alle bereitstehendes Geschenk. Der Wahrheit von der absoluten Notwendigkeit der Gnade steht die andere gegenüber, dass Gott sie allen Menschen schenkt, oder noch besser gesagt, dass Gott sie allen Menschen anbietet, denn es kommt auf den Menschen an, ob er sie annimmt. Es ist ein Glaubenssatz unserer Kirche: Jeder Mensch erhält hinreichende Gnade. Jeder Mensch erhält soviel Gnade, dass er sein Heil wirken kann. Gott schließt niemanden von seiner Hilfe aus. Die Gnade steht für alle Menschen bereit.
Damit ist nicht gesagt, dass jeder gleich viel Gnade bekommt. Es gibt eben Gnadenkinder, besonders begnadete Menschen, die Gott in einer einzigartigen Weise führt. Aber er gibt jedem genügende Gnade. Im 1. Brief des Apostels Paulus an Timotheus steht der Satz: „Gott will, dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Gott will, dass alle Menschen – ohne Ausnahme – selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Aber es hängt eben am Menschen, wie wir gleich sehen werden, ob die Gnade im Menschen wirksam ist. Der heilige Augustinus hat einmal den schönen Satz geschrieben: „Gott verlässt dich nicht, wenn er nicht verlassen wird von dir.“ Gott verlässt dich nicht, wenn er nicht verlassen wird von dir. Aus all diesen Äußerungen Christi, der Apostel und der heiligen Konzilien hat die Kirche den Satz formuliert: Wenn der Mensch das Seine tut, verweigert ihm Gott die Gnade nicht. Es braucht sich also niemand zu betrüben, es braucht sich niemand zu betören: Wenn der Mensch das Seine tut, verweigert ihm Gott die Gnade nicht.
Aber jetzt kommt es eben darauf an, dass der Mensch das Seine tut, dass er mitwirkt mit dem Wirken Gottes. Wir müssen mit der Gnade wirken. „Der dich geschaffen hat ohne dich, will dich nicht selig machen ohne dich“, sagt wiederum der heilige Augustinus. Der dich geschaffen hat ohne dich, will dich nicht selig machen ohne dich. Oder unser schlesischer Dichter Angelus Silesius: „Es ist zwar wahr, dass Gott dich selig machen will. Glaubst du, er wills’s ohne dich, so glaubest du zu viel.“ Wie schön! Es ist zwar wahr, dass Gott dich selig machen will. Glaubst du, er will’s ohne dich, so glaubest du zu viel. Es kommt also auf unser Mitwirken mit der Gnade Gottes an. Und dieses Mitwirken richtet an uns drei Befehle, nämlich erstens: Gib der Gnade Einlaß! „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“, heißt es in der Offenbarung des Johannes. Gott klopft mit der Gnade an die Tür unseres Herzens. An uns ist es, ob wir öffnen oder den Riegel vorschieben. Er zwingt uns nicht. Er lässt uns das Geschenk der Freiheit; er nimmt es nicht weg. Wir sollen uns frei für ihn oder gegen ihn entscheiden. Es gibt im Himmel, aber auch in der Hölle, nur Freiwillige, nämlich solche, die sich dieses Schicksal selbst bereitet haben, weil sei entweder der Gnade einstimmten oder sich der Gnade versagten. Und so gilt das Wort der Heiligen Schrift, das wir schon im Alten Testament lesen: „Siehe, ich habe vor dich hingelegt Leben oder Tod, Segen oder Fluch. So wähle, und wähle das Leben!“ Bald setzt in unserer Kirche die Passionszeit ein. In der Passionszeit beten wir Priester im Breviergebet öfter als sonst ein besonders ergreifendes Gebet, nämlich aus dem Psalm 94: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“ Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht. Gott hat so viel an Gnaden, an äußeren und inneren Gnaden auf dich gehäuft, o Christ, gibt der Gnade Einlaß!
Das zweite ist: Wirke mit ihr! Man kann viele Gnaden bekommen und doch sich ihnen versagen. Jede Gnade ist eben auch eine Aufgabe und verlangt, dass wir mit ihr wirken, dass wir in ihrer Kraft uns betätigen. Denken Sie an das ergreifende Beispiel von den Talenten. Alle bekamen Talente, der eine mehr und der andere weniger. Aber der faule Knecht hat das Talent vergraben. Er hat nicht damit gearbeitet, und deswegen wird er bestraft. Und der Apostel Paulus mahnt uns im 2. Korintherbrief: „Wir ermahnen euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfanget.“ Nicht vergeblich empfangen. Man kann also sich der Gnade versagen, anders als die Jansenisten wollten, die Jahrhunderte lang mit ihren irrigen Ansichten das religiöse Leben verwüstet haben. Nein. Es ist durchaus denkbar, sich der Gnade zu versagen. Man muss mit ihr wirken, und wir haben das schönste Beispiel am Apostel Paulus, wie er einmal im 1. Korintherbrief schreibt: „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und seine Gnade ist in mir nicht unwirksam geblieben, denn ich habe mehr gearbeitet als sie alle, doch nicht ich, sondern Gottes Gnade in mir.“ Hier haben wir die wunderbare Dialektik des menschlichen Wirkens und des göttlichen Einwirkens beschrieben. „.Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und seine Gnade ist in mir nicht unwirksam geblieben, denn ich habe mehr gearbeitet al sie alle.“ Doch jetzt zuckt er zurück: „Doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes in mir.“ Gott gibt das Wachstum, aber wir müssen pflanzen, und wir müssen begießen.
Und schließlich noch ein Drittes. Wir müssen um die Gnade flehen. Wir müssen um die Gnade beten. Die Gnade ist und bleibt eben ein freies Geschenk Gottes, das Gott niemandem schuldet. Aber er gibt die Gnade allen, die ihn darum bitten. Wenn er schon das tägliche Brot und die irdischen Güter an uns austeilt, wie vielmehr wird er den Heiligen Geist geben denen, die ihn darum bitten? „Bittet, und ihr werdet empfangen!“ Wenn wir diese Heilandsmahnung beim wichtigsten Anliegen unserer Seele, nämlich beim Beten um Gottes Licht und Gnade, nicht vergessen, dann werden wir aus seiner Fülle empfangen Gnade um Gnade. Es gibt auch Gnadenmittel, das sind die Sakramente, und wir sollten sie nicht geringschätzen. Die Sakramente bringen uns mit Gewissheit und mit Sicherheit, weil Gott sich dafür verbürgt, Gnade ins Herz.
Es kommt also alles darauf an, meine lieben Freunde, dass wir Gottes lautere Mitarbeiter werden, Gott steht bereit, und niemand braucht sich zu beklagen: Gott hat mich verlassen. Aber wir müssen einstimmen in seine helfende Gnade, müssen unser Herz bereiten, damit er unseren Verstand erleuchtet, um das Rechte zu erkennen, damit er unseren Willen stärkt, um es zu ergreifen, um auf diese Weise heilswirksam tätig zu werden bis zum letzten Tage dieses armen Lebens.
Amen.