Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. Februar 2006

Die Kraft der göttlichen Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Christ muss demütig und stolz zugleich sein. Zwar nicht in jeder Hinsicht, sondern in verschiedener Hinsicht, in verschiedener Hinsicht demütig und stolz. Was sein eigenes Handeln und Unterlassen angeht, muss er demütig sein, denn er weiß, dass er, wie der Priester ja in jeder heiligen Messe von sich selbst bekennt, „unzählige Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten“ aufzuweisen hat, unzählige Sünden, Fehler und Unterlassungen. Aber er muss auch stolz sein, und zwar stolz auf das, was Gott an ihm gewirkt, was Gott ihm geschenkt hat, und zwar im Geschenk der Taufe. „Wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf.“ So verkündet Paulus im ersten Korintherbrief. Wer in Christus ist, ist ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Die Mohammedaner wissen nichts von diesem Neuen. Sie kennen ihren Allah, der in seiner Furchtbarkeit die Beugung des Hauptes und des ganzen Körpers verlangt, aber sie verstehen nichts von seiner Barmherzigkeit und seiner Liebe. Sie wissen vor allem nicht, dass er göttliches Leben in den Menschen eingießen will.

Wir haben ein Ewigkeitsziel, das weit über unsere Naturanlage hinaus liegt. Und für dieses Ewigkeitsziel müssen wir vorbereitet werden, müssen wir geeignet gemacht werden. Wir müssen eine Kraft in uns tragen, die uns zur Erreichung dieses Ewigkeitszieles fähig macht. Diese Kraft nennen wir heiligmachende Gnade, nennen wir göttliches Leben in uns. Das Meer des göttlichen Lebens ist der Schoß des dreifaltigen Gottes. In Gott ist ein Ozean von Leben und Licht und Liebe, und dieser Ozean flutet vom Vater zum Sohn und vom Sohn zurück zum Vater im Heiligen Geiste. Dieser Ozean von Licht und Leben und Liebe ist aber auch in der Menschennatur Christi. Er ist, als er Mensch wurde, von diesem göttlichen Licht und Leben erfüllt worden. „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit“, sagt der Apostel Paulus im Kolosserbrief. In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit. Sie wohnt in ihm, damit er sie weitergeben kann; denn von uns gilt das Wort aus der Litanei vom heiligsten Herzen Jesu: „Herz Jesu, aus dessen Fülle wir alle empfangen haben.“ Das heißt: Wir alle, die wir Christen sind, die wir uns Christen nennen, dürfen am göttlichen Leben und Licht Christi teilhaben. Die Menschheit Christi ist der Grundquell des göttlichen Lebens für uns geworden. „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben, und dass sie es in Fülle haben.“ „Wer dürstet, der komme zu mir und trinke“, sagt der Heiland im Johannesevangelium. „Wer an mich glaubt, aus dessen Inneren werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Mit diesen Strömen des lebendigen Wassers, die aus ihm hervorkommen, meint er den Geist, den jene empfangen sollten, die an ihn glauben. Das alles ist geschehen im heiligen Sakrament der Taufe. Da sind wir in lebendige Verbindung mit Christus durch seinen Heiligen Geist getreten, da sind wir Glieder seines geheimnisvollen Leibes geworden. Seitdem durchflutet uns der Lebensstrom der göttlichen Gnade. Wir haben einen neuen Lebensgrund, und wir haben neue Lebenskräfte.

Dieses göttliche Leben in uns hat eine Struktur, hat einen Aufbau, ist ein bestimmtes, kunstvolles Gebilde. Es ist die heiligmachende Gnade gewiß der übernatürliche Lebensgrund, die Wurzel, aber aus ihr erwachsen die göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung, Liebe. Dass wir glauben können, dass wir hoffen dürfen, dass wir zu lieben versuchen, das ist uns ermöglicht durch die heiligmachende Gnade, die Gott in uns eingegossen hat. Darum sind wir vergöttlicht worden, jawohl, teilhaftig göttlicher Natur. „Gedenke, Christ, deiner Würde“, ruft Papst Leo uns zu. Und diese Würde ist eben geschaffen worden durch die Vergöttlichung unserer Natur. Dann kommen die übernatürlichen Tugenden, die wir durch die Gnade erwerben, und die Beistandsgnaden, die uns helfen, übernatürliche Früchte zu bringen.

Die Gnade ist nicht, meine lieben Freunde, ein neues Kleid, das wir anziehen, sondern die Gnade durchdringt unser ganzes Wesen. Das natürliche Leben wird durch die Gnade überflutet und durchtränkt und verklärt. Keine zwei Leben in uns, sondern das natürliche Leben wird durchhellt und durchflutet vom übernatürlichen Leben. Alle Handlungen, die wir als begnadete, als geheiligte Menschen tun, werden durch die heiligmachende Gnade übernatürlich erhoben und verklärt. Deswegen kann der Apostel sagen: „Alles, was ihr tut in Wort oder Werk, tut alles zur Ehre Gottes!“

Wir sind mit Gott verbunden – wir in Gott und Gott in uns. Das ist die Wirklichkeit des göttlichen Lebens in uns: wir in Gott. Wir sind Kinder Gottes. Die Mohammedaner wissen nur davon, dass wir Knechte Gottes sind. Aber das Christentum sagt uns: Wir sind Kinder Gottes. „Ihr seid nicht mehr Fremdlinge und Beisassen, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“, schreibt der Apostel Paulus im Epheserbrief. Wir haben nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, damit wir uns wieder fürchten müssen, sondern den Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba – lieber Vater. Der heilige Johannes drückt es so aus: „Seht, welche große Liebe uns der Vater geschenkt hat. Wir dürfen uns Kinder Gottes nennen, und wir sind es.“ Wir dürfen uns Kinder Gottes nennen, und wir sind es. Wir sind nicht bloß Adoptivkinder, die ja irgendwie fremd bleiben, sondern es ist eine wahre Geburt aus Gott geschehen. Wir sind, wie Johannes sagt, „aus Gott geboren“. Wir sollen gleichgestaltet werden dem Bilde des Eingeborenen, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Jawohl, wir dürfen uns Brüder Christi im Heiligen Geiste nennen. „Wir sind wiedergeboren aus unvergänglichem Samen“, schreibt der Apostel Petrus. „Er hat uns aus seiner Liebe gezeugt durch das Wort der Wahrheit“, erklärt Johannes, der Evangelist.

Und so kann in der Fortführung dieser Gedanken der heilige Cyrill von Jerusalem sagen: „Wir sind der Gnade nach, was der Sohn Gottes der Natur nach ist.“ Er ist der eingeborene, d.h. der einziggeborene Sohn Gottes, der Natur nach. Denn wir bekennen ja: „Aus Gott geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott.“ Wir sind Geschöpfe und bleiben es, aber wir werden Kinder Gottes aus Gnade. Wir werden tatsächlich gottförmig, gottähnlich, gleichgestaltet dem Bilde seines Eingeborenen. Wir sind seine Abbilder, wenn auch in beschränktem Maße, aber in Wahrheit und in Wirklichkeit durch die Gnade. Wir tragen seit der Taufe göttliches Leben in uns; wir haben teil an der göttlichen Natur.

Wir sind Kinder Gottes und Glieder Christi. Kinder Gottes werden wir eben dadurch, dass wir in Verbindung treten mit Christus. Die übernatürliche Lebensverbindung mit dem Vater kommt zustande durch die ebenso innige Lebensverbindung mit dem Sohne. Er sagt es ja: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Ich bin der Weg.“ Das heißt: Er ist die Brücke, die zum Vater führt. In ihm kommt alle Gnade zu uns. Wir werden durch die Taufe in Christus eingegliedert; wir werden Glieder des Herrn, seines geheimnisvollen Leibes, und dadurch auch gleichzeitig Brüder untereinander. Wir sind Kinder Gottes, wir sind Brüder Christi.

Wir sind aber auch Tempel des Heiligen Geistes. Die dritte Person in der Gottheit, der Heilige Geist, tritt in der Taufe in eine besondere Beziehung zu uns; wir werden nämlich aus dem Wasser und dem Heiligen Geiste wiedergeboren. Der Heilige Geist nimmt uns auf und gliedert uns dem geheimnisvollen Leibe Christi ein. Er lebt in uns und bewirkt die Gotteskindschaft und die Christusgliedschaft zugleich. Von diesem Heiligen Geiste lesen wir im ersten Buch der Heiligen Schrift, dass er über den Wassern schwebte, als das natürliche Leben geschaffen wurde. Von diesem Geist lesen wir, dass er die Jungfrau überschattete, als sie den Sohn Gottes aufnehmen sollte. Und so ähnlich schwebt der Heilige Geist auch über der Menschenseele, die in der Taufe das göttliche Leben empfängt. Der Heilige Geist haucht sein Leben der Seele ein, hält sie umfangen, wir sind in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes und damit auch in der Gemeinschaft der Heiligen. Wahrhaftig, das bewirkt die Taufe: Wir sind in Gott.

Aber auch umgekehrt: Gott ist in uns. Wir sind nicht nur in der Nähe Gottes, sondern wir leben in Gott, wir leben im dreifaltigen Gott. Unsere Seele ist tatsächlich ein Tempel Gottes. Das ist eine unbegreifliche, nicht genug zu rühmende, aber freilich auch nicht leicht zu erklärende Tatsache. Wir leben im dreifaltigen Gott.

Der dreifaltige Gott wohnt in uns. Das ist das große Geheimnis des Christentums, dass Gott nicht nur fern ist und über den Sternen waltet, sondern dass er Wohnung nimmt im Menschen. Im Paradiese, lesen wir, wandelte Gott unter den Menschen; er geleitete das auserwählte Volk in der Wolkensäule und führte es in das gelobte Land; er wohnte im heiligen Zelt und im Tempel Salomons. Auch im Neuen Bunde wandelte Gott unter uns, im Heiligen Lande. Er wohnt in unseren Zelten, in unseren Tabernakeln. Aber die allertiefste Freude in dieser christlichen Zeit besteht darin, dass Gott im Herzen des begnadeten Menschen wohnt. Der getaufte und begnadete Mensch wird tatsächlich eine lebendige Wohnung Gottes. „Wer mich liebt“, sagt der Herr im Johannesevangelium, „den liebt auch mein Vater. Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Und Wohnung bei ihm nehmen. Und ähnlich mahnt der Apostel Paulus: „Wißt ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ Mehr kann man nicht sagen, mehr ist unmöglich zu erklären. Gott wohnt im Menschen, er hat dort seine Wohnstätte aufgeschlagen, und er wirkt im Menschen. Er schafft sich eine Wohnstätte im Menschen durch die heilige Taufe, ein Daheim in der Menschenseele.

Ach, meine lieben Freunde, wenn uns das ständig vor Augen stünde, wie sähe doch unser Leben anders aus! Wie würden wir doch bedenken, was wir denken, reden und tun! Wie würde unser Leben doch aus der tiefsten Quelle hervorgehen, die es überhaupt gibt, aus dem dreifaltigen Gott! Das göttliche Leben der Gnade würde unser ganzes Denken, Reden und Tun umgestalten. „Mensch, glaube dies gewiß, wo du nicht lebst in Gott, lebst du gleich tausend Jahr’, du bist so lange tot“, dichtet unser schlesischer Dichter Angelus Silesius. „Mensch, glaube dies gewiß, wo du nicht lebst in Gott, lebst du gleich tausend Jahr’, du bist so lange tot.“ Und dann fährt er fort: „Mein Christ, wo laufst du hin? Der Himmel ist in dir. Was suchst du ihn denn erst bei eines anderen Tür?“ Mein Christ, wo laufst du hin? Der Himmel ist in dir. Was suchst du ihn denn erst bei eines anderen Tür?

Amen.

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