29. Januar 2006
Der freie Wille
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag haben wir uns mit dem Gewissen beschäftigt. Wir haben erkannt, dass es ein Urteil der praktischen Vernunft ist über die Sittlichkeit unseres Handelns. Es sagt uns, was recht und was unrecht ist, was gut und was böse ist. Freilich muss es zuvor die rechten Maßstäbe aufgenommen haben. Wir müssen uns von Gott belehren lassen, was gut und böse, was recht und unrecht ist. Aber wenn wir es erkannt haben, dann mahnt uns das Gewissen, das Gute zu tun und das Böse zu fliehen. Neben dem Gewissen haben wir noch andere Kräfte in unserer Natur, die auf die Heilung und Erhebung durch das Übernatürliche warten. Eine solche Kraft ist der menschliche Wille.
Wir haben in uns ein geistiges Strebevermögen. Dieses geistige Strebevermögen nennen wir Willen. Der Wille kann nur ein Gut erstreben. Was immer wir wollen, kann nur etwas sein, was wir für ein Gut halten. Wir täuschen uns manchmal, wir betrügen uns manchmal, aber ein Gut, und nur ein Gut ist das einzige, was der Wille erstreben kann. Nun ist aber jedes Gut ein Abglanz des höchsten Gutes, und schließlich stehen wir an, das höchste Gut zu erstreben, nämlich Gott selber.
Innerhalb der Güter gibt es eine Rangordnung. Die Güter sind nicht alle von gleichem Wert. Die unterste Stufe sind die sinnlichen Güter, die unserem Leibe und unseren Sinnen dienen und Freude bringen, also das Essen und Trinken, die geschlechtlichen Betätigungen. Das sind die sinnlichen Güter, die zuunterst stehen. Dann kommen die geistigen Güter. Es ist eine Freude, zu erkennen. Ich erinnere mich noch, wie ich als Schüler beglückt war, als ich den Satz des Pythagoras begriffen habe. Es ist eine Freude, eine geistige Freude, die Gesetze der Mathematik oder der Physik zu erkennen. Dann kommen die übernatürlichen Güter, also die Gnade, die Tugend, die heiligen Sakramente. Und schließlich das allerhöchste Gut, nämlich Gott selber. Diese Wertordnung ist objektiv von Gott so angeordnet, und wir haben sie zur Kenntnis zu nehmen. Aber sie ist durch die Erbsünde in Unordnung geraten. Jetzt drängen sich die minderwertigen Güter vor die höherwertigen. Wie sagt doch Bert Brecht: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ O wie falsch, meine lieben Freunde. Man kann auch die Nahrungsaufnahme nicht ohne Moral betreiben; auch sie untersteht dem Gesetze Gottes. Aber es ist nun einmal so, dass sich die niederen Güter aufdrängen und vordrängen und sich über die höheren Güter erheben wollen. Die höheren Güter erscheinen oft so fern und so blaß, dass die niederen Güter vorgezogen werden. Dem verdunkelten Verstand bieten sich Scheinwerte als echte Werte an, und dem geschwächten Willen schmeicheln die falschen und verbotenen Dinge und suchen sich vor die echten und wertvollen Güter zu stellen.
Ich habe neulich gelesen, wie die chinesische Regierung, also die Kommunisten, versucht haben, die chinesischen Seeleute von den primitiven Genüssen in den Hafenstädten abzubringen. Sie hat Heime eingerichtet, wo die Seeleute Belehrung, Bildung, Betreuung erfahren sollten, eben um sie von dem Trinken und von Bordellbesuchen abzuhalten. Aber das ist bei den Seeleuten sehr schlecht angekommen. Sie haben es mehr mit Trinken und Bordellbesuchen gehalten als mit geistigen Genüssen, mit Belehrung und Bildung.
Damit wir aber die wahren Güter über den falschen uns aneignen, damit wir die niederen Güter zurückstellen hinter den höheren, dafür hat uns Gott den Willen gegeben. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, in freier Selbstentscheidung unter den Gütern auszuwählen. Das ist das Königsgeschenk Gottes an uns. Wir können unser Leben formen, wie wir wollen. Das menschliche Leben ist nicht einfach ein mechanischer Ablauf, nein, wir greifen in das Leben ein, wir gestalten es und wir geben uns selbst unser inneres Gepräge. In königlicher Freiheit vermögen wir durch Selbstentscheidung das Gute zu wählen und das Böse zu lassen. Frei mit der Kraft der Selbstbestimmung und Eigenmächtigkeit ist der Mensch von Gott geschaffen. Nirgendwo ist seine Ähnlichkeit mit Gott größer als dort, wo er sich frei für das Gute entscheidet. Erst diese Kraft ermöglicht es uns, uns Gott hinzugeben.
Das Leben stellt uns vor die großen Entscheidungen. Das Gewissen sagt uns, was gut und recht ist, was wir tun sollen und was wir lassen sollen, und der Wille wählt aus, was recht ist und was gut ist. Negativ besagt die Willensfreiheit Freiheit von äußerem Zwang und von innerer Nötigung. Positiv besagt sie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung für die Fülle der Möglichkeiten menschlicher Wesensentfaltung, die als Motive vor uns treten. Wir handeln selbstverständlich immer nach Motiven, das heißt also nach Beweggründen; sonst wären wir ja unvernünftig. Aber die Motive zwingen uns nicht. Wir stellen die Motive uns vor; wir wählen unter den Motiven aus. Wir erheben also die Motive zum Beweggrund unseres Handelns. Wir sind kein Spielball der Motive, sondern wir sind ihre Herren. Man kann ein niederes Motiv ausschalten und ein höheres Motiv wählen.
Nun hat es immer wieder Philosophen gegeben, welche die Willensfreiheit leugnen. Auch heute gibt es solche, die den Determinismus vertreten, also die Lehre, wonach der Mensch nur ein Bündel von Einflüssen aus Umwelt, Charakter, Vererbung ist. Diese falsche Ansicht ist relativ leicht zu widerlegen, meine Freunde. In allen Völkern gibt es Gebote und Verbote, gibt es Gesetze und Verordnungen, gibt es Auszeichnungen und Strafen, gibt es Gerichte und Gefängnisse. Wozu das alles, wenn der Mensch notwendig das tut, was er tut, wenn er nicht verantwortlich ist? Was für einen Sinn hätte es, ein Gebot zu geben, wenn der Mensch alles aus äußerem Zwang oder aus innerer Nötigung tun müsste wie die Tiere? Man hängt keine Gebote in einen Pferdestall, und man gibt keine Gebote für eine Lokomotive. Aber die Menschen – die Menschen! – brauchen Gebote. Sie sind für ihr Tun haftbar, uns sie haben die freie Entscheidung. Auch die Sünde hat die Willensfreiheit nicht vernichtet. Es gibt bei Luther, diesem verwirrten Menschen, viele Äußerungen, die so wie Leugnung der Willensfreiheit klingen: „Der Mensch wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten“, schreibt er einmal. Das ist doch Unsinn. Der Mensch wird nicht geritten, weder von Gott noch vom Teufel, sondern er gibt entweder Gott Raum, oder er gibt dem Teufel Raum. Aber er ist es, der die Entscheidung fällt. Nein, das Konzil von Trient hat völlig recht, wenn es sagt: „Wer behauptet, der freie Wille des Menschen sei durch die Sünde verloren oder ausgelöscht, der sei ausgeschlossen.“ Gott selber bestätigt die Willensfreiheit. Er gibt ja Gebote und Verbote. Er verheißt Lohn und Strafe. Er ruft den freien Willen des Menschen auf. Im Deuteronomium, dem 4. Buch Moses, heißt es: „Siehe, ich habe vor dich hingelegt und dir vorgestellt Leben und Tod, Segen und Fluch. So wähle denn das Leben.“ Und unser Herr Jesus Christus sagt dem reichen Jüngling: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Als er über Jerusalem weinte, da sagte er: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt, aber ihr habt nicht gewollt!“
Der menschliche Wille bleibt auch unter dem Einfluß der Gnade wirksam. Das war wieder der Irrtum der Jansenisten, die meinten, es gibt keine unwirksame Gnade. Wenn immer die Gnade wirkt, dann wirkt sie absolut sicher, setzt sich gegen jeden menschlichen Willen durch. Nein, die Gnade ist nicht unwiderstehlich. Das Zusammenwirken von Gnade und Willen ist schwer zu erklären, aber es ist dennoch wirklich. Es gilt das Wort des heiligen Augustinus: „Der dich geschaffen hat ohne dich, macht dich nicht gerecht ohne dich.“ Der dich geschaffen hat ohne dich, macht dich nicht gerecht ohne dich.
Dem Willen ist eine Führungsrolle im seelischen Haushalt übertragen. Es gibt ja eine ganze Reihe von Kräften in uns, die seiner Herrschaft unterstehen. Das sind zum Beispiel die natürlichen Tugendanlagen. Wir haben solche Anlagen: die Anlage zur Gottesfurcht und zur Gottesliebe, die Anlage der Liebe zum Kind und zu den Eltern, die Anlage der Liebe zur Heimat und zum Vaterland, die Anlage zu Keuschheit und Mäßigkeit, zu Treue und Opferwilligkeit, zu Mut und Tapferkeit, zu Arbeitsamkeit und Ehrlichkeit. Alle diese Anlagen sind in uns, aber wir müssen sie entfalten. Sie sind wie Keime, die erweckt werden wollen. Keine Schwäche, kein Laster, keine Leidenschaft ist uns zu eigen, die nicht auch Anlage zur Tugend wäre. Von Natur besitzen wir keinen Fehler, der nicht zur Tugend, und keine Tugend, die nicht zum Fehler werden könnte. Es liegt an uns, was wir aus diesen Anlagen machen. An uns ist es zu arbeiten, unablässig an uns zu arbeiten, damit die Anlagen zur Tugend auch wirkliche Tugenden werden können. Dazu ist eben der Wille, die Übung des Willens, notwendig.
Als wir Kinder waren, wurde uns beigebracht, wie wir den Willen üben können, eben durch Verzichte, durch Überwindungen, durch Abhärtung. Das ist durchaus berechtigt. Überwindungen bei Tisch, Überwindungen im Reden, Überwindungen im Handeln, das sind die Weisen, wie wir den Willen schulen, wie wir ihn üben und kräftigen. Wer dagegen allen seinen schlechten Anlagen nachgibt, der wird niemals die Herrschaft des Willens erringen.
Das gilt auch für die Gefühle. Wir alle tragen Gefühle in uns, Lust und Unlust, Furcht und Hoffen, Liebe und Abneigung, Freude und Trauer. Diese Gefühle sind sehr wichtig. Mit Gefühlen kann man Großes erreichen. „Lust und Liebe sind Fittiche zu großen Taten“, heißt es bei Schiller. Und das ist richtig. Die Gefühle können aber auch Hemmnisse sein, wenn wir uns von ihnen zu unrecht leiten lassen. Sie entstehen ohne unser Zutun, aber der Wille kann sie weithin beherrschen und ihren Einfluß regeln. Nehmen wir etwa an, wie haben einen Lehrer. Er hat vor sich eine Klasse von 30 Kindern. Unter diesen Kindern sind angenehme und weniger angenehme. Es besteht die Versuchung, dass der Lehrer die angenehmen Kinder bevorzugt und die weniger angenehmen benachteiligt. Das ist ganz falsch. In dieser Weise darf er sich von seinen Gefühlen nicht leiten lassen. Er muss gerecht sein. Er muss die Kinder so behandeln, wie sie es für ihre Entwicklung benötigen. Wir sind in der Lage, die Gefühle dem Willen unterzuordnen. Wir können vor allem Abneigungen überwinden. Wir müssen eben die Gefühle beobachten, sortieren, reinigen und erheben. Wir sollen sie nicht auslöschen, wir sollen sie in den Dienst nehmen. Wir sollen sie in den Dienst nehmen, damit sie unseren Willen stärken. Gemüt, Gefühl und Phantasie dürfen niemals Fährmann sein, sondern das rechte Steuerruder ist immer nur die christlich erleuchtete Vernunft.
Jesus war selber ein gefühlsstarker Mensch. Wir wissen, wie er einmal in einen Jubelruf ausbrach: „Ich danke dir, Vater des Himmels, dass du dich gewürdigt hast, mir deine Geheimnisse zu offenbaren.“ Ein andermal freute er sich: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen.“ Aber er kannte auch andere Gefühle. Am Grabe des Lazarus war er erschüttert und weinte. Tränen vergoß er auch über Jerusalem, und am Ölberg überfiel ihn die Todesangst. Er hatte Gefühle, und er hat sie nicht unterdrückt, aber er hat sie beherrscht und eingeordnet.
Schließlich haben wir in uns auch Triebe, die starken Regungen des sinnlichen und des geistigen Begehrungsvermögens. Triebe, die wir nur allzu gut kennen, die sich mit leidenschaftlicher Gewalt geltend machen und uns in bestimmte Richtung drängen wollen: der Trieb nach Besitz und Reichtum, der Trieb nach Liebe und Freude, der Trieb nach Macht und Größe, der Treib nach Geltung und Genuß, der Trieb nach Freiheit und Wissen. Diese Triebe sind wie Rosse am Wagen. Sie helfen der Seele mit mächtiger Kraft, einem Ziel entgegenzujagen, sei es einem guten, sei es einem bösen, je nachdem wohin sie gelenkt werden. Der Lenker aber dieser Rosse, ihr Zwingherr, muss der Wille sein. Er muss den Weg und das Ziel bestimmen. Besonders zu schaffen machen uns die verbotenen Triebe. „Nach dem Verbotenen streben wir, das Versagte begehrend“, sagt der römische Dichter Ovid. Nach dem Verbotenen streben wir, das Versagte begehrend. Und Goethe hat einmal das treffliche Wort geschrieben: „Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen.“ Wahrhaftig, wir schlafen sämtlich auf Vulkanen. Böse Neigungen sind jedem angeboren, und nicht Gewalt, nur Gnade kann sie meistern. Es liegt nicht in der Macht des Menschen, ohne Triebe zu sein, aber es steht in seiner Macht, das Triebleben so niederzuhalten, dass es ihn nicht überwältigt. Auch das Triebleben muss ständig beobachtet, bewacht und gelenkt werden. Da hilft nicht nur – wie so manche sagen –, da hilft nicht nur beten. Nein, meine lieben Freunde, was nur durch Bändigung der Neigungen erreicht werden kann, das kann man nicht vom Gebet erwarten. Gott will, dass wir beten und arbeiten, dass wir zu ihm flehen und gleichzeitig unseren Willen einsetzen, um die Triebe zu beherrschen.
Diese Lebensgestaltung ist unsere Aufgabe das ganze Leben über. Wir sollen in klarer Verantwortung, wie unser Gewissen es uns vorschreibt, diese Aufgabe wahrnehmen. Wir wissen, dass unsere Erkenntnis getrübt und unser Wille geschwächt ist. Wir wissen aber auch, dass diese Wunden heilbar sind durch die Gnade der Erlösung, dass wir durch die äußere Offenbarung Licht empfangen, um zu wissen, was zu tun und zu begehren ist, dass wir unseren Willen stärken können durch Übung und dass wir die Natur in die Übernatur einbringen können und die Übernatur in die Natur einfügen müssen. Am 3. Sonntag nach Ostern betet die Kirche im Kirchengebet: „Herr, durch diese Geheimnisse werde es uns ermöglicht, die irdischen Begierden zu zähmen und Himmlisches lieben zu lernen.“ Und am 4. Sonntag, da heißt es sogar: „Zwinge all unser Wollen, auch das aufrührerische, in deiner Güte zu dir hin.“
Amen.