10. Juli 2005
Die Menschwerdung des Erlösers
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In Berlin erscheint eine Wochenzeitung, die in jeder Ausgabe einen Fragebogen veröffentlicht und die Antworten auf diesen Fragebogen. Darin – ich habe ihn vor mir – wird zum Beispiel gefragt: Wo möchten Sie jetzt am liebsten sein? Wofür lassen Sie alles stehen und liegen? Was ist Ihnen wichtig im Leben? Was haben Ihnen Ihre Eltern mitgegeben? Und dann kommt eine Frage, die von besonderer Werthaltigkeit ist: „Welches Ereignis ist für die Welt das einschneidendste gewesen?“ Welches Ereignis ist für die Welt das einschneidendste gewesen? Als mir dieser Fragebogen vor kurzem vorgelegt wurde, habe ich die Frage beantwortet mit dem Satze: „Die Geburt des Sohnes Gottes aus der Jungfrau Maria.“ Das ist das einschneidendste Ereignis der gesamten Weltgeschichte. Dass Gott ein Mensch geworden ist, das ist ein Ereignis, über das kein anderes hinausgeht.
Wir haben an den vergangenen Sonntagen die allmähliche Entwicklung zu diesem Ereignis betrachtet. Wir haben gesehen, wie Gott die Menschheit und vor allem das Volk Israel vorbereitet hat auf den Tag, als Gott ein Mensch wurde. Der Engel, von Gott gesandt, hat Maria das Ja der Bereitschaft abgefordert. Maria hat ihr Ja gesprochen mit dem unsterblichen Satze: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Worte.“ In diesem Augenblick hat Gott das Wunder über allen Wundern gewirkt, dass sein Sohn Mensch wurde im Schoße der Jungfrau von Nazareth. Maria war eine andere, eine bessere Eva, unschuldig und frei von Sünde, bereit, seinen Willen zu tun. Das herrliche, bisher ungekannte Gotteswunder nahm durch die Bereitschaft Mariens seinen Ausgang, dass sie Jungfrau und Mutter zugleich sein darf. „Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Worte.“ Sie wollte nicht wie Eva das Gesetz Gottes brechen, sondern sie wollte dieses Gesetz erfüllen. Sie hörte Gottes Willen, und sie sprach ihr gehorsames Ja. Eva hat den Tod gebracht, Maria brachte das Leben. Und das geschah in jener wunderbaren Nacht, die wir jedes Jahr zu Weihnachten feiern, in jener Nacht, wo das Wort Gottes auch sichtbar auf Erden wurde, in einem Stall, in einer Grotte in Bethlehem – nicht in Nazareth, wie die falschlehrenden Theologen sagen, nicht in Nazareth, in Bethlehem ward er geboren: „Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein.“ Jeder musste in die Stadt gehen, wo seine Stammeszugehörigkeit ihn hinführte. Und da eben Josef und Maria Abkömmlinge Davids waren, so mussten sie in die Davidsstadt ziehen – nach Bethlehem. Und dort draußen, in einer der Grotten der Stadt, da vollzog sich dieses Wunder. Hier wurde Gott als Mensch geboren. Heute zeigt ein silberner Stern die Stelle, an der Gott auf dieser Erde sich sichtbar gezeigt hat, als er aus dem Schoß der Jungfrau hervortrat. Jetzt liegt das Kind in der Krippe. Gott hat das Große beschämt und das Kleine auserwählt. Das ist seine Sprache, das ist seine Methode, auf Erden zu handeln. Und dann ergeht der Ruf an die Krippe. Hirten eilen herbei, unverdorbene, naturverbundene, gottnahe Menschen werden gerufen, und sie eilen – sie sind nicht langsam gegangen – sie eilen zur Krippe, denn der Engel hat sie gerufen. Und dann kommt die ganze Engelschar und singt ihr Jubellied, verkündet das Programm dieses geborenen Kindes: Ehre in der Höhe Gott und Friede den Menschen seiner Gnade auf Erden.
Jahrtausendelang hat die Menschheit ihr Kyrie-eleison gerufen, bis dann endlich die Engel ihr Gloria singen konnten. Drüben im Osten aber steigt ein wunderbarer Stern auf und ruft die Weisen zur Krippe. So steht an unseren Weihnachtskrippen die Armut neben dem Reichtum, die schlichte Frömmigkeit der Hirten neben der Weisheit der Sterndeuter aus dem Osten, der Jude neben dem Heiden, anbetend, denn derjenige, der da vor ihnen liegt in der Krippe, ist Gott. „Jesus Christus ist sein Name.“ So hat ihn der Engel genannt. Jesus heißt soviel wie Heiland, Heilbringer, Erlöser, und Christus ist der Name, in dem die Vorbereitungszeit ihre Erfüllung findet, nämlich er ist der Messias, freilich nicht ein Messias, wie sich ihn die Zeitgenossen Jesu träumten, nämlich ein machtvoller Herrscher, der das „Schwein“, wie man die Römer nannte, aus dem Lande jagen wird, sondern ein Messias in Menschengestalt, aber mit göttlicher Würde bekleidet.
Der Name Jesus ist uns teuer, ist allen teuer, die an ihn glauben. Kein Name wird so oft gesprochen, wird mit so viel Liebe genannt und weckt so viel Furcht in der Hölle wie der Name Jesus. Und Christus ist der Herr. „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Da haben wir all die drei Namen beisammen: Heiland, Messias, Herr. Die Erfüllung der Verheißungen ist in diesem Kind beschlossen. Er ist der große Prophet, er ist der große Priester, und er ist der erhabene König, der über alles gesetzt ist. Er ist der Mittelpunkt der Welt. Und deswegen muss man tatsächlich sagen: Das einschneidendste Ereignis, das es in der Weltgeschichte je gegeben hat, ist die Menschwerdung Gottes im Schoß der Jungfrau Maria.
Der Berliner Philosoph Hegel hat recht, wenn er einmal geschrieben hat: „Bis hieher und von daher geht die Geschichte.“ Wahrhaftig, so ist es. Bis hieher und von daher geht die Geschichte. Vor Christus und nach Christus. Nach diesem Ereignis rechnen wir die Zeit, denn er ist der Höhepunkt, er ist der Gipfel aller Zeiten. In ihm wollte, wie Paulus sagt, Gott alles zusammenfassen, alles auf Erden und alles im Himmel. Nach seiner menschlichen Natur, nach seinem Leib gehört er in die stoffliche Welt; nach seinem Geiste, nach seiner Seele gehört er in die geistige Welt, und kraft seiner Gottheit gehört er in die Welt Gottes. In seiner Person ist tatsächlich alles zusammengefasst. In ihm ist die Menschennatur vollkommen erneuert. Er ist Gott und Mensch in einer Person. Gott war er von Ewigkeit, und er ist es geblieben, auch als er ein Mensch wurde. Die göttliche Natur bleibt ihm immer zu eigen und auch die göttliche Person. Aber er nahm eine menschliche Natur an. Der große Papst Leo I. hat diese Wirklichkeit in Worte gefasst, die unsterblich sind, nämlich: „Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er nicht hatte.“ Genau so ist es. Er blieb, was er war – nämlich Gott –, aber er nahm an, was er nicht hatte. Er leidet und stirbt und herrscht doch in Ewigkeit. Als armes Kind liegt er in der Krippe, und doch jauchzen Engel seine Würde und seine Herrlichkeit. Er ist Maria und Josef untertan, und doch staunen die Schriftgelehrten über seine Weisheit, als er im Tempel mit ihnen redet. Er lässt sich wie ein anderer Mensch am Jordan taufen, aber der Himmel zerreißt, und die Stimme des Vaters bekennt, dass dieser der geliebte Sohn ist, auf dem sein Wohlgefallen ruht. Er ist ein Toter im Grabe, aber er erscheint nach drei Tagen lebendig und zeigt sich als den Sieger über den Tod.
Ach, meine lieben Freunde, immer wieder kommen Theologiestudenten zu mir, der ich schon seit zehn Jahren die Lehre eingestellt habe, und klagen darüber, dass in ihren Studien der Glaube nicht auferbaut, sondern zerstört wird, erschüttert wird, vor allem der Glaube an den Gottmenschen. Was viele unserer Theologiestudenten von den Kathedern hören, das ist ein wirrer Aufguß einer liberalen Leben-Jesu-Theologie. Am Mittwoch dieser Woche hat der gläubige katholische Schriftsteller Martin Mosebach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diesen Zustand wie folgt beschrieben: „Die Kenntnisse von der Religion sind auch bei Gebildeten vielfach gleich null gesunken. Was allenfalls noch verbreitet ist, sind vulgarisierte Aufklärungssätze. Heute weiß jeder Theologiestudent, dass Jesus nicht der Sohn Gottes ist. Jedes Kind erfährt im Religionsunterricht, dass Jesus nicht der Sohn der Jungfrau und nicht von den Toten auferstanden ist. Ein katholischer Theologe, der heute vom Gottmenschen Jesus spricht, setzt sich dem Gespött der gesamten Theologenzunft aus, wie es Klaus Berger gerade eben wieder geschehen ist.“ Jawohl, meine lieben Freunde, so ist es weithin, wie Martin Mosebach es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschildert hat: Die ungläubigen Theologen zerstören ihren Hörern den Glauben.
Wir aber bekennen mit dem Te Deum: „Du scheutest nicht vor dem Schoß der Jungfrau zurück, um die Menschheit zu retten.“ Es musste so geschehen. Es konnte weder die Niedrigkeit des Menschen ohne die Majestät Gottes noch die Majestät Gottes ohne die Niedrigkeit des Menschen unser Geschlecht erlösen. „War er nicht wahrer Gott, so brachte er keine Erlösung“, so schreibt Papst Leo. „War er nicht wahrer Mensch, so bot er uns kein Beispiel.“ Es ist tatsächlich so, meine lieben Freunde, wer von Jesus redet, ohne seine Gottheit und seine Wesenseinheit mit dem Vater zu bekennen, hat um Jesus herumgeredet. Nur wenn er Gott ist, ist er die überragende Majestät im kirchlichen Leben, im bürgerlichen Leben, im staatlichen Leben, im Völkerleben. Dass Jesus, der Zimmermann von Nazareth, sich Gott gleichstelle, warfen ihm seine Feinde vor, und er ließ diesen Vorwurf auf sich ruhen. Es war der gerechteste, der ihm je gemacht wurde.
Amen.