1. Mai 2005
Von den Eigenschaften Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben an den vergangenen Sonntagen Gott als den Wirklichen, Lebendigen, Persönlichen, Überweltlichen erkannt. Wir haben ihn gleichsam aus der Ferne betrachtet. Wir müssen ihn uns jetzt aus der Nähe anschauen, soweit das menschlichem Vermögen gegeben ist.
Vom heiligen Augustinus wird berichtet, dass er einmal am Meere saß (er lebte ja in Nordafrika) und dem Spiel der Wellen zuschaute, und dabei kam ihm der Gedanke, ob nicht die Fluten göttlichen Wesens seien. Er fragte sie: „Seid ihr mein Gott?“ Da antworteten ihm die Wellen: „Wir sind es nicht. Suche höher!“ Der Tag sank, und die Nacht zog herauf, ein sternenklarer Himmel, wie er ja in Afrika häufig ist. Als er die Pracht der Sterne sah, da kam ihm der Gedanke, ob nicht der Sternenhimmel göttlichen Wesens sei. Er fragte sie: „Ihr Sterne, seid ihr mein Gott?“ Die Sterne antworteten: „Nein, wir sind es nicht. Suche höher!“ Da lenkte er sein inneres Auge auf die göttlichen Begleitmannschaften im Himmel, auf die Engel, und er fragte sie: „Seid ihr mein Gott?“ Und wiederum, zum letzten Mal, hörte er: „Wir sind es nicht. Suche höher!“ Da richtete er sein Augenmerk endlich auf den Thron Gottes selber, auf seine Schönheit und seinen Glanz und seine Vollkommenheit. Da sank er in die Nie und sagte: „Mein Gott, wie groß, wie schön und wie herrlich bist du! Dir allein ziemt Anbetung.“
Gott ist die Summe aller Vollkommenheiten, d.h. in Gott ist alles Gute, was überhaupt denkbar und wirklich ist, und alles Gute nimmt von ihm seinen Ausgang. Die Theologie hat Wege ausgebildet, wie wir aus den geschöpflichen Wirklichkeiten auf die Eigenschaften Gottes schließen können. Der erste Weg besteht darin, dass man alles Gute, Schöne, Edle und Reine, was auf Erden sich findet, bejaht und Gott zuschreibt. Alles was gut ist auf Erden, das muss in Gott sein, denn von ihm stammt es. Der zweite Weg besteht darin, dass man von diesem Guten, das man Gott zuschreibt, alles Begrenzte und alles Beschränkte abzieht. Unsere Tugenden sind ja alle beschränkt. Unser Gutes ist immer irgendwo mit Bösem gemischt. Bei Gott ist nichts von Bosheit, nichts von Begrenztheit in seiner Güte, in seiner Vollkommenheit zu finden. Und schließlich der dritte Weg, die via eminentiae, man muss das Gute, das wir auf Erden finden, ins Unendliche steigern, dann kommen wir zur Vollkommenheit Gottes.
Nun dürfen wir nicht meinen, dass diese Vollkommenheiten in Gott getrennt seien oder dass sie gar in Widerstreit miteinander treten, dass also die eine Eigenschaft die andere hindert, wie bei uns manchmal die Liebe die Gerechtigkeit hindert oder umgekehrt. Nein, in Gott sind alle Eigenschaften eins, ja sie fallen mit seinem Wesen zusammen. Wir müssen unterscheiden, weil wir anders nicht denken können. Unser Denkvermögen ist so arm, dass wir nur nebeneinander und hintereinander die Vollkommenheit Gottes uns vor Augen führen können. Aber nichts dergleichen in Gott. In Gott fällt alles zusammen in einer unendlichen Einfachheit.
Die erste Eigenschaft, die wir uns vor Augen führen wollen, ist, dass Gott ewig und unwandelbar ist. Wenn man sich den Begriff „ewig“ vorstellen will, dann kommt man an keinen befriedigenden Endpunkt. Man mag vorwärts oder rückwärts gehen, Jahrhunderte um Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrtausende, man kommt an kein Ende, denn überall ist Gott. Er ist immer da, und er wird immer da sein. Alles andere ist nicht ewig: die Menschen, die Städte, die Berge. Wenn auch langsam, wenn auch im Verlauf riesiger Zeiträume, aber auf Erden gilt der Grundsatz: Alles fließt. Alles nimmt ab oder nimmt zu, während Gott immer ist, der Ungewordene. „Ehe denn die Berge waren“, heißt es in einem Psalm, „ehe gebildet ward die Erde und ihr Umkreis, bist du, o Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Und Gott wird immer sein. Für alles Irdische kommt ein Ende. Die Menschen sterben, die Häuser zerfallen, die Berge werden abgetragen durch die Erosion, alles schwimmt im Strom der Zeit – Gott bleibt in Ewigkeit. Wir dürfen uns auch die Ewigkeit nicht vorstellen als eine lange Zeit. Ewigkeit besagt Zeitfreiheit. Ewigkeit besagt, dass ein Wesen, das ewig ist, über der Zeit steht. Es ist nicht an die Zeit gebunden; es ist frei von der Zeit. Also: Gott ist die Vergangenheit genauso nahe wie die Gegenwart und die Zukunft. Er wird von der Zeit nicht berührt; „er altert nicht“, wie es im Buche Sirach heißt.
Wie anders ist sein Leben als das unsere, meine lieben Freunde. Unser Leben ist immer ein Fliehen, Gottes Leben ist immer bleibend. Wir haben das Leben immer nur im Augenblick und wissen nicht, was der nächste Augenblick bringt. Gott ist immer ganz da. Das Vergangene ist ihm gegenwärtig, und das Zukünftige ist ebenso in ihm aufbewahrt. Er hat sein ganzes Sein und Leben, alle Vollkommenheit und alle Glückseligkeit in einem dauernden Jetzt. Die Theologen des Mittelalters haben Gott deswegen als das „nunc stans“ bezeichnet, als das „stehende Jetzt“, nämlich als das immer Bleibende, das niemals Vergehende, das ungewordene Jetzt. Gott ist ewig, und Gott ist unwandelbar. Gott ändert sich nicht. Die Natur ändert sich fortwährend. Wir erleben es ja wieder jetzt, wenn das Blühen beginnt nach dem Winter, immer der Wechsel von Sommer und Winter, von Tag und Nacht, von Hitze und Kälte. Die Blumen blühen auf, und dann verwelken sie. Die Tiere werden und entstehen, und dann sterben sie. „Bei Gott ist kein Wechsel, ist kein Schatten der Veränderung“, heißt es im Briefe des Apostels Jakobus. Und im Psalm 101 lesen wir: „Im Anfang hast du, o Herr, die Erde gegründet, und die Werke deiner Hände sind die Himmel. Sie vergehen, du aber bleibst. Sie veralten wie ein Kleid, und wie ein Gewand änderst du sie, und sie werden geändert, du aber bleibst derselbe, und deine Jahre nehmen kein Ende.“
Wie sein Wesen sind auch die Ratschlüsse Gottes unveränderlich. Gott ändert seine Ratschlüsse nicht. Wir sind heute froh und morgen unglücklich; wir sind heute gut und morgen böse; wir sind heute gesund und morgen krank. Wir ändern uns fortwährend. Wir haben einen Plan, und morgen lassen wir ihn fallen oder müssen ihn fallen lassen, weil etwas Planwidriges uns widerfahren ist. Gott bleibt immer derselbe. „Ich bin der Herr und ändere mich nicht“, heißt es beim Propheten Malachias. Und in dem großen Lobgesang des Ambrosius singen wir ja: „Wie du warst vor aller Zeit, so bleibst du in Ewigkeit.“ Die heilige Theresa von Avila hat die schönen Worte geschrieben: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich betrüben. Alles geht vorüber, Gott bleibt immer derselbe, Gott allein genügt.“ Gott ist ewig und unveränderlich.
Er ist auch unermesslich und allgegenwärtig. Die Zeit vermag das Wesen Gottes nicht einzufangen; die Zeit kann ihm keine Grenze ziehen. Aber auch der Raum kann es nicht. Gott ist überall wie die Luft, die alles umgibt, wie das Licht, das alles erleuchtet. Er ist in jeder Beziehung ganz anders als die Menschen. Wir sind nur an einem Orte, er ist an allen Orten. Im Psalm 138 heißt es in ergreifender Weise: „Wohin könnte ich vor Gott entfliehen? Wo wäre Gott nicht gegenwärtig? Steig ich hinauf bis in den Himmel, so find ich ihn in allen Himmeln. Steig in den Abgrund ich der Erde, so werd ich ihn dort wieder treffen. Und würd ich mit der Morgenröte bis an des Meeres Grenzen fliehen, ich bliebe auch dort ihm nicht verborgen; mich würde seine Hand erreichen.“ Gott ist überall, überall ganz mit seinem Wesen und mit seinem Wirken. „Die Himmel der Himmel vermögen dich nicht zu fassen“, sagte Salomon, als er seinen Tempel gebaut hatte.
Wie groß ist Gott, der an keinen Raum gebunden ist! Wie kann man sich das klarmachen? Ich versuche es manchmal damit zu erklären. dass ich auf die Gesetze des Denkens verweise, die Gesetze der Logik. Zum Beispiel das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten, also Denkgesetze, die unverbrüchlich und überall gelten. Man kann sie nicht festmachen. Man kann nicht sagen: Sie sind in Budenheim oder in Mainz. Nein, sie sind überall, denn sie gelten überall. Das mag ein schwacher, ein mehr unähnlicher als ähnlicher Vergleich sein mit der Allgegenwart Gottes. Gott ist auch in uns, und wir sind in ihm, denn wie erklärt der Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Wie gewissermaßen die Fischlein im Meere sind, so bewegen wir uns in Gott. Er trägt uns, er umgibt uns, er ist unser Leben.
Das ist sehr trostreich, meine lieben Freunde. Ob ich ruhe oder arbeite, ob ich bete oder mich erhole, Gott ist immer bei mir. „Ja“, so heißt es im Psalm 22, „selbst wenn ich wandern müsste in Todesschatten, du bist ja bei mir.“ Darum können wir auch immer und überall uns an Gott erinnern und zu ihm beten. Freilich versäumen viele Beter, sich vor dem Gebet in die Gegenwart Gottes zu versetzen. Man soll nicht anfangen Worte zu sprechen, bevor man sich nicht erinnert hat: Gott ist in mir, er ist mir nahe, er ist näher als das Kreid, das ich trage, näher als die Luft, die ich atme. Dann erst, wenn man sich an die Gegenwart Gottes erinnert hat, soll man ins Gebet eintreten, damit es ein gelingendes Gebet wird.
Wenn Gott überall ist, kann man auch überall zu ihm beten, nicht nur in der Kirche. Manche Menschen meinen, allein die Kirche sei zum Gebet da. Ja natürlich ist sie der vorzügliche Ort des Gebetes; wir können hier gesammelter und erfolgreicher beten. Aber wir können auch in der Natur unser Herz zu Gott erheben, und wir sollen es. Freilich, diejenigen, die immer sagen: Ich brauche nicht in die Kirche zugehen, ich bete in der Natur, die beten in der Natur am wenigsten. Aber wir sollten es tun, denn die Natur ist ein Loblied auf Gott und regt uns an, zu Gott zu beten. Man kann auch eine andere Frage stellen, nämlich warum beten wir denn: Vater unser, der du bist im Himmel? Warum sagen wir nicht: Vater unser, der du bist in der Welt und in der Umwelt? Das könnten wir auch sagen, es wäre nicht falsch. Aber wenn wir sagen: Vater unser im Himmel, so erinnern wir uns daran, dass es eine Gott vorbehaltene Sphäre gibt, in der die Vollendeten leben, in der die Menschen leben, die Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Und das meinen wir, wenn wir sagen: Vater unser, der du bist in deinem Himmel. Eine Gegenwart ganz anderer Art ist die Gegenwart des Gottmenschen Christus in unseren Tabernakeln. Da ist Gott mit der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth verbunden, in geheimnisvoller Weise. Ich kann es nicht erklären, obwohl ich seit Jahrzehnten darüber nachdenke. Aber es ist sicher, denn Gottes Wort kann nicht trügen. Es ist sicher, dass er bei uns wohnt in unseren Tabernakeln und dass er sich in der Hostie verbirgt, damit wir mit ihm eins werden können.
Gott ist auch allwissend und allweise. Er weiß alles, er sieht alles. Gottes Augen sind heller als die Sonne; sie durchdringen die tiefsten Abgründe und die verborgensten Winkel des Herzens. Im Buche des Propheten Jeremias heißt es: „Gott erforscht die Herzen und die Nieren.“ Das heißt, er sieht ins Verborgene. Gott ist allwissend. Wenn wir uns vorstellen, meine lieben Freunde, die 6 Milliarden Menschen, die auf der Erde leben, würden in einer Reihe stehen, dann wüsste Gott doch von einem jeden, was er in diesem Augenblick denkt, was er je getan hat und was er in Zukunft tun wird. Gott ist allwissend. Denken Sie an die riesenhafte Bibliothek des Vatikans, die vatikanische Bibliothek mit Hunderttausenden von Bänden. Gott braucht keinen dieser Bände aufzuschlagen. Er weiß, was in einem jeden steht, er weiß, was auf jeder Seite steht. Es gibt unter Menschen schon manchmal erstaunliche Gedächtnisphänomene. Eines Tages kam der Kontrabassist in einem großen Orchester zu dem italienischen Dirigenten Toscanini und sagte zu ihm: „Ich kann heute nicht spielen, die E-Saite an meinem Instrument ist gerissen.“ Ja, wie kann ein Kontrabassist ohne die E-Saite spielen? Toscanini dachte einen Augenblick nach, dann sagt er: „Heute abends brauchen Sie für Ihren Part die E-Saite nicht.“ Er hatte die ganze Partitur im Kopf. Er wusste, was jeder einzelne Instrumentalist zu spielen hatte. „Heute abends brauchen Sie die E-Saite nicht.“ Ich will das nur als kleines Beispiel anführen für eine ähnlich-unähnliche Eigenschaft Gottes, nämlich seine Allwissenheit. Er kennt jede Sprache, er hört jeden Seufzer, er weiß und sieht alles. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ihm gleich nahe. Das ist wiederum für uns sehr bedeutsam. Wir alle spüren ja, dass in uns, in unserer Brust Unholde wohnen und dass man, wenn man sich unbeobachtet glaubt, geneigt ist, dem inneren Schweinehund zu folgen. Nicht so, wenn man weiß, dass Gott alles sieht. Er sieht bei Tag, und er sieht bei Nacht. Er sieht in der Tiefe, und er sieht in der Höhe. Als der Kölner Dom im 19. Jahrhundert fertiggebaut wurde, da arbeitete ein Steinmetz an der Kreuzblume, die ganz oben am Turm angebracht werden sollte, und er gab sich die größte Mühe. Ein Besucher fragte ihn: „Ja, warum machen Sie sich soviel Mühe? Das sieht doch kein Mensch.“ „Richtig“, sagt er, „das sieht kein Mensch, aber Gott sieht es.“ Und für Gott hat dieser Steinmetz gearbeitet.
Seine Allwissenheit verbindet sich mit der Weisheit, und die Weisheit verbindet sich mit dem Wirken, und so richtet Gott alles aufs Beste ein und führt es zum Ziele. Wir müssen uns immer wieder, meine lieben Freunde, die Wunder der Natur vor Augen führen, um zu ahnen, mit welcher Weisheit Gott alles eingerichtet hat. Denken Sie etwa an die Bienen. Wir herrlich ist da alles eingerichtet! Die eine Königin, die 2000 Eier jeden Tag legt, und die Drohnen, die zum Befruchten da sind, und die Arbeitsbienen, die ihre sechseckigen Waben bauen nach strengen mathematischen Gesetzen. Niemand hat sie gelehrt, und niemand hat ihnen ein Winkelmaß in die Hand gegeben, aber sie verstehen es, diese Waben zu bauen. Gottes Weisheit ist die einzige Erklärung für diese Herrlichkeiten der Natur. Und die Schicksale der Menschen? Auch sie sind geordnet. Freilich geht unser irdischer Sinn oft nicht mit den Plänen Gottes in eins. Wir meinen es besser zu wissen. Wir meinen, wir wüssten, was uns dient. Als ich im vorigen Jahre schwer krank wurde, da sagte eine Nachbarin zu mir: „Womit haben Sie das verdient?“ Ja, das weiß Gott. Das weiß Gott, womit man das verdient. Er weiß, womit man geschlagen werden muss, damit man sich endlich zu ihm bekehrt. Er weiß es. Manchmal in Jahren, manchmal in Jahrzehnten erkennen wir, warum es so kommen musste, manchmal auch gar nicht in dieser Weltzeit. Aber einmal werden uns die Schatten von den Augen genommen, und wir werden erkennen, dass Gott in seiner Weisheit unseren Lauf gelenkt hat. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege. So weit wie der Himmel über der Erde ist, so sind meine Wege über euren Wegen und meine Gedanken über euren Gedanken.“ Wenn wir die Heilsgeschichte betrachten, die Menschwerdung des Herrn, die Führung der Menschen durch Christus, sein Werk und schließlich die Kirche, dann erkennen wir, dass wir vor Anbetung die Knie beugen müssen und rufen: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis! Wie unerforschlich, o Gott, sind deine Wege, wie unaufspürbar deine Ratschlüsse! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Wer ist sein Ratgeber gewesen? Von ihm und für ihn und durch ihn ist alles in alle Ewigkeit.“
Amen.