22. August 2004
Den Nächsten lieben
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Von Jugend auf kennen wir das Gleichnis, das im heutigen Evangelium vom Herrn vorgetragen wird. Und immer neu rührt es unser Herz an, wenn wir es vorgelesen bekommen. Anlaß zu der Erzählung des Herrn ist die Frage des Gesetzeslehrers: „Wer ist mein Nächster?“ Der Fragesteller und auch die Zuhörer, die Jesus umringten, waren starre Juden. Für sie kam als Nächster nur das jüdische Volk in Frage, der Stammesgenosse. Alle anderen waren von diesem Begriff ausgeschlossen. Hätte Jesus nun geantwortet: Jeder Mensch ist der Nächste, dann wären die Juden verständnislos davongegangen und hätten sich von ihm abgewandt. Aber der Herr wählt einen anderen Weg der Belehrung: Er nötigt den Gesetzeslehrer, selbst zu sagen, wer der Nächste ist, indem er an sein sittliches Gefühl appelliert.
In scharf umrissenen Linien ist das Gleichnis aufgebaut. Da ist der Reisende, den Räuber überfallen haben, ausgeplündert, verwundet, schmerzvoll liegt er verlassen in der Wüste. Dann kommen die Juden, der eine ein Priester. Der Diener der Barmherzigkeit geht erbarmungslos an ihm vorüber. Dann kommt der Levit, er schaut ebenfalls nicht hin oder schaut schnell wieder weg, um nicht helfen zu müssen. Nur der Stammesfremde, der Samariter, der zu dem verachteten Volk, zu dem verachteten Mischvolk der Samaritaner gehört, nur er wird von Mitleid gerührt. Er steigt herab von seinem Reittier, er belädt es mit dem Verwundeten und bringt ihn in die Herberge und sorgt für ihn.
Was Jesus hier lehren will, ist die Liebe, die uneigennützige, die selbstlose, die erbarmende Liebe, die keine Schranken des Volkes, der Verwandtschaft, der Zuneigung kennt, die alle Gegensätze überbrückt, die von Dünkel und Selbstsucht nichts weiß, für die auch der Fernste der Nächste ist. Von dieser Liebe sagt Jesus: „Gehe hin und tue desgleichen!“ Er legt damit das Fundament des praktischen Christentums. Es gibt keinen Menschen, von dem wir sagen könnten: Er geht mich nichts an.
Nun muß man allerdings unterscheiden zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Liebe. Die natürliche Liebe nährt sich aus natürlichen Gründen. Wir lieben diejenigen, die unseres Blutes sind, die Verwandten. Wir lieben diejenigen, die uns Gutes getan haben, denen wir dankbar sein müssen. Wir lieben jene, die angenehm sind, liebenswürdig, im Äußeren wir im Inneren herzerquickend. Das sind Personen, denen wir natürliche Liebe erweisen. Sie schaut auf den Menschen und findet sich von ihm angezogen.
Ganz anders die übernatürliche Liebe. Sie schaut zunächst gar nicht auf den Menschen, sie schaut auf Gott. Und die Gründe, die sie bewegen, dem Nächsten zu helfen, stammen von Gott. Weil Gott der Vater aller Menschen ist, weil er alle Menschen liebt und zum Heile führen will, deswegen muß uns auch der in Not befindliche Mensch der Nächste sein. Ein zweiter Grund liegt darin, dass Jesus, unser Herr und Heiland, sich zum Bruder aller Menschen gemacht hat. Wer mit Jesus verbunden ist, der ist der Bruder aller Menschen geworden. Jesus hat für alle Menschen sein kostbares Blut vergossen, und dadurch sind alle seine Brüder geworden. Und so müssen wir um Jesu willen alle Menschen, vor allem aber natürlich die Notleidenden als unsere Brüder betrachten.
Die natürliche Liebe findet ihre schnellen Grenzen. Wir wissen, dass es viele Menschen gibt, die uns nicht anziehend erscheinen. Es gibt Menschen, die uns abstoßend vorkommen. Es gibt Menschen, die keine guten Eigenschaften haben oder wenige, und von ihnen fühlen wir uns nicht angezogen. Es gibt auch Verwandte, die uns wenig zu sagen haben und zu denen wir uns nicht hingezogen fühlen. Das sind Eigenschaften der natürlichen Liebe, die bei der übernatürlichen Liebe keine Rolle spielen dürfen. Von Natur aus sind uns viele Menschen fremd und gleichgültig; aber weil alle Menschen von Gott geliebt sind, weil Gott an allen Menschen etwas Wertvolles findet, deswegen müssen auch wir die Menschen lieben und dürfen sie nicht als wertlos beiseite stoßen.
Der Herr verlangt in dieser übernatürlichen Liebe die Bereitschaft zum Helfen, nach Kräften zu helfen denen, die unserer Hilfe bedürfen. Jeder Mensch, der in Not ist, ist grundsätzlich unser Nächster. Selbstverständlich hat unsere Hilfsbereitschaft Grenzen. Wir können nur helfen im Rahmen unserer Kräfte. Über seine Kräfte hinaus kann niemand anderen sich zuwenden. Aber im Rahmen der Kräfte muß ein jeder sich dem anderen zuwenden, und er darf nicht vorschnell sagen: Das ist zu viel für mich, das kann ich nicht. Der Mensch kann mehr, als er meint. Der Mensch kann so viel, wie er will!
Wir können auch nicht immer unmittelbar allen Menschen helfen. Wir kennen die Werke der geistlichen und der leiblichen Barmherzigkeit, also Sünder zurechtweisen, Ratlosen raten, Unwissenden Belehrung zuteil werden lassen, Betrübte trösten, Lästige geduldig ertragen, gern verzeihen, für Lebende und Verstorbene beten. Das sind die Werke der geistlichen Barmherzigkeit. Dazu die Werke der leiblichen Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Gefangene Befreien, Kranke besuchen, Tote begraben. Das alles sollen wir, soweit es uns gegeben ist, soweit unsere Kräfte ausreichen, in die Tat umsetzen. Aber häufig ist es uns nicht möglich, unmittelbar zu helfen. Dann sollen wir aber wenigstens andere instand setzen, diese unmittelbare Hilfe zu leisten. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gehen mag, meine lieben Freunde, aber in meiner Post befinden sich jedes Jahr Hunderte von Bettelbriefen, Hunderte. Das reicht von den Ärzten ohne Grenzen bis zu den zahllosen Missionsorden, die um eine milde Gebe flehen und die wir nur, wenn wir hartherzig sind, abweisen können. Das ist die heute mögliche, uns allen mögliche, in verschiedenem Maße mögliche Hilfe, die wir anderen aus übernatürlichen Beweggründen gewähren können und sollen.
Es gibt manche Einwände, die Menschen machen, wenn sie helfen sollen. Sie fragen: Ja, ist denn der Mensch der Hilfe wert? Es gibt keinen Menschen, meine lieben Freunde, welcher der Hilfe nicht wert wäre. In Gottes Augen ist jeder der Hilfe wert, der in Not ist. Es gibt keine wertlosen Menschen. Dann machen manche den Einwand: Ja, der Mensch ist selber schuld, dass er in diese Not geraten ist. Mag sein. Zugegeben. Mag sein, dass er selber schuld ist, aber dadurch hört ja die Not nicht auf; dadurch wird er ja nicht weniger hilfsbedürftig, auch wenn er durch eigene Schuld in diese Lage gekommen ist.
Es wird von einem Kasseler Schutzpolizisten folgende Begebenheit berichtet. In Kassel (in Hessen) beobachtete ein Polizist, wie ein Knabe in der Nachkriegszeit, in der bitteren Not der Nachkriegszeit aus einer Bäckerei ein Brot stahl. Der Beamte eilte ihm nach und ergriff ihn. Vor Schrecken erbrach sich der Knabe, und was er erbrach, das erschütterte den Polizisten bis in die Seele. Er erbrach Kartoffelschalen. Der Kasseler Schutzpolizist nahm den Knaben an der Hand, ging zur Bäckerei, bezahlte das Brot, führte den Knaben zurück zu seiner Mutter und ließ der Mutter einen großen Korb mit Lebensmitteln zugehen. Dieser Kasseler Schutzpolizist hatte begriffen, was es heißt: „Gehe hin und tue desgleichen!“
Manche sagen: Dem kann man nicht helfen, die Not ist zu tief. O meine lieben Freunde, wer am tiefsten fällt, bedarf der größten Hilfe. Es kann kein Einwand gegen unsere Hilfe sein, dass einer in der tiefsten Not sich befindet. Und wenn die Not andauert und dann lästig wird, wenn unsere Geduld gefragt ist, wenn wir auf Dauer beansprucht werden, dann ist das kein Grund, sich von der Hilfe zurückzuziehen. Die Tiefe der Not muß ihr Äquivalent in der Größe der Hilfsbereitschaft finden. Manchmal hört man den Einwand: Ja, ich habe jetzt wichtigere Dinge zu tun. Das kann sein. Doch ist das peinlich, wenn diese wichtigeren Dinge in religiösen Übungen bestehen. Der selige Meister Eckehart hat einmal den schönen Satz geschrieben: „Und wäre der Mensch in Verzückung wie Sankt Paulus und wüsste einen Kranken, der ein Süpplein von ihm begehrt, ich hielte es für besser, du ließest aus Liebe die Verzückung fahren und dientest dem Bedürftigen in um so größerer Liebe.“ Not ist eben häufig so, dass sie uns ungelegen kommt, dass sie ungünstig für uns ist, aber um so größer ist unsere Barmherzigkeit, wenn wir uns von anderen Verpflichtungen frei machen, frei machen können, um der Not, die an uns dringt, abzuhelfen.
Die heutige Lesung müsste eine Gewissenserforschung in uns bewirken. Gleichen wir dem Priester und dem Leviten, welche die Not sehen und an ihr vorübergehen? Schließen wir die Augen vor der Not, die uns begegnet? Ist uns das Elend anderer gleichgültig? Rührt uns das schwere Schicksal, das andere tragen, nicht an? In hundert Gestalten steht die Not an unserem Lebenswege, und sie pocht an unser Herz und ruft uns zu: „Gehe hin und tue desgleichen!“
Der heilige Johannes Chrysostomus, der einmal über dieses Gleichnis gepredigt hat, hat dabei folgende Ausführungen gemacht: „Gibst du Christus jetzt nichts, drüben braucht er dich nicht mehr. Hier auf Erden dürstet er, hier hundert er. Er dürstet aber, weil er nach deinem Heil dürstet. Deshalb kommt er auch als Bettler, deshalb geht er nackt herum. Er will dir dadurch das ewige Leben verschaffen; übersieh ihn also nicht!“
Wahrhaftig, meine lieben Freunde, der Hilferuf der Notleidenden ist Gottes Ruf. Schon manchem ist durch das, was er an Menschen erleben musste, der Gottesglaube verloren gegangen. Aber manchem ist auch schon der Gottesglaube zurückgekommen durch das, was er an Barmherzigkeit von Menschen erleben durfte. „Gehe hin und tue desgleichen!“
Amen.