27. Juni 2004
Über Angriffe gegen die Wahrheit der Evangelien
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In diesen Tagen hielt ein indischer Theologe einen Vortrag in Eisenach. In diesem Vortrag fiel das Wort: „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“ Ich wiederhole noch einmal diesen folgenschweren Satz: „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“ Dieser indische Theologe war offenbar davon überzeugt, dass die europäische Theologie Gift ist und dass, wer dieses Gift genießt, daran zugrunde geht. „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“
Selbstverständlich hat er nicht alle europäischen Theologen einbezogen, aber doch den Mainstream, diejenigen, die heute maßgebend sind, die gehört werden, die in der Öffentlichkeit beachtet werden und die von den Bischöfen gefördert werden. Wir haben es ja eben wieder erlebt, wie der Vorsitzende der Bischofskonferenz den ehemaligen katholischen Theologen Hans Küng als einen „Bruder in Christus“ begrüßte und ihm sagte, er solle ein Segen bleiben, er solle ein Segen bleiben – der er doch nie war. „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“ Jawohl, so ist es! Ein Großteil, der maßgebende Teil der europäischen Theologie ist vergiftet. Er baut den Glauben nicht auf, sondern er zerstört ihn. Das gilt in erster Linie für die Glaubensurkunde des Christentums, für das Neue Testament. Die Zerstörung der Glaubwürdigkeit des Neuen Testamentes hat begonnen durch protestantische Theologen. Es fing an mit David Friedrich Strauß in Tübingen, setzte sich fort über Bruno Bauer, schritt weiter zu Adolf Harnack und fand seinen vorläufigen Höhepunkt bei Rudolf Bultmann in Marburg. Zu unserem Bedauern sind diese Erscheinungen aber nicht auf den protestantischen Bereich beschränkt geblieben, sondern immer mehr katholische Theologen haben sich diesen Zerstörern des Glaubens angeschlossen und ihre Thesen übernommen.
Die Grundthese der Glaubenszerstörer lautet: Das Neue Testament ist ein Glaubenszeugnis und keine Geschichtsquelle. Im Neuen Testament übermächtigt das Dogma den Glauben. Das heißt: Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften haben ihre theologischen Gedanken in Geschichte umgesetzt. Sie haben aus dogmatischem Interesse Worte und Taten Jesu erfunden. Nach diesen Zerstörern haben die wuchernde Phantasie und die berechnende Absicht die Worte und die Taten Jesu hervorgetrieben, die wir in den Evangelien lesen. Wer das Motiv einer Erzählung kennt, so sagen sie, der kann ihre Entstehung erklären, denn dieses Motiv hat die Erklärung aus schriftstellerischem Interesse erzeugt. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien sind Phantasten; sie sind Fälscher; die Schriften des Neuen Testamentes sind Fälschungen. Es ist ganz selbstverständlich, meine lieben Freunde, dass, wenn diese Positionen sich behaupten, das Ende des Christentums gekommen ist, nicht nur das Ende der europäischen Theologie, sondern das Ende des Christentums.
Was haben wir diesen Aufstellungen entgegenzusetzen? Zunächst einmal die Absicht der Evangelisten. Sie wollen Geschichte berichten, nicht Mythen. Sie sind nicht Fabeln nachgelaufen, sondern sie haben bezeugt, was sie gehört und gesehen haben. Es ist falsch, wenn man sagt, sie hätten ihren Glauben dargestellt. Nein. Sie haben aufgrund ihres Glaubens Geschichte getrieben, und ihr Glaube ist aus der Geschichte begründet. Was sie glauben, haben sie erfahren und nicht erdichtet. Es sind gläubige Männer, die aufgrund der Ereignisse, die sie berichten, zum Glauben gekommen sind. Jawohl, so ist es; aufgrund von geschichtlichen Begebnissen haben sie Glauben gefasst. Den Evangelien wird von den Ungläubigen der Geschichtswert abgesprochen. Nicht nur das Johannesevangelium, das als der erste „Leben-Jesu-Roman“ bezeichnet wird, der erste Leben-Jesu-Roman! Nein, auch die synoptischen Evangelien, also Matthäus, Markus und Lukas, werden als Erzeugnisse von Schriftstellern bezeichnet und nicht als Niederschlag von Geschichte. Wenn Sie das hören und bei sich überdenken, dann brauchen Sie sich nicht mehr zu wundern, meine lieben Freunde, warum es keine Priester mehr gibt, warum es keine gläubigen Jugendlichen mehr gibt, warum sich die Kirchen leeren. „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“
Alle Evangelien sind Geschichtsquellen. Selbstverständlich unterscheiden sie sich, wie sich die Eigenart der Schriftsteller eben in der schriftstellerischen Tätigkeit niederlegt. Der eine ist tiefer in das Geheimnis des Christusereignisses eingedrungen, der andere nicht so tief. Am weitesten ist zweifellos der Liebesjünger, Johannes, in das Geheimnis Christi eingedrungen, und so stellt sein Evangelium die reifste Frucht der Evangelienschreibung dar. Aber es besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem ersten Evangelium, nämlich wahrscheinlich Markus, und dem jüngsten, nämlich Johannes. Ich habe in meiner Studentenzeit den Kommentar des evangelischen Theologen Lohmeyer zum Markusevangelium gelesen. Lohmeyer war ein gläubiger evangelischer Christ, und er hat in seinem Kommentar zum Markusevangelium immer aufgezeigt, wie eng dieses Evangelium sich mit dem Johannesevangelium berührt. So ist es. Zwischen den Evangelien besteht lediglich ein gradueller Unterschied in dem Eindringen in die Wirklichkeit des Herrn Jesus Christus, aber die Wurzel aller Evangelien ist die Geschichte.
Die Ungläubigen sagen weiter, die Messianität Jesu sei erfunden, ein Erzeugnis der Gemeinde. Die Gemeinde habe nach dem Tode Jesu über ihn nachgedacht, und dann habe sie gemeint, er sei der Messias gewesen, was er in Wirklichkeit nicht war. Meine lieben Freunde, auch hier ist die Axt an die Wurzel gelegt. Wenn Jesus nicht der Messias war, wie können wir ihn dann als den Christus bezeichnen, denn Christus ist ja das griechische Wort für Messias? Das ganze Neue Testament bezeugt, dass Jesus der Messias, der von Gott gesandte Christus, war. Das ganze Neue Testament versteht Jesus als Messias, und das ist nicht anders zu erklären, als dass es auf seinem Selbstzeugnis beruht. Schon als der Täufer nach ihm fragt, bekennt Jesus, dass er „der Kommende“ ist, der Kommende, der vorausgesagt ist, nämlich der Heilbringer. Er weist darauf hin, dass seine Taten für ihn zeugen: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird Heilsbotschaft verkündet.“ Das sind die Taten des Messias, wie sie beim Propheten Isaias vorausverkündet wurden. Also, wer diese Taten verrichtet, das ist der Messias. Sein Einzug in Jerusalem ist eine messianische Kundgebung: „Hosanna dem Sohne Davids!“ So singen die Scharen, und der Sohn Davids ist natürlich der Messias. Ganz eindeutig ist das Messiasbekenntnis Jesu im Angesichte des Todes. Der Hohepriester fragte ihn: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ „Ja, ich bin es“, sagt der Herr. Und dieses Zeugnis Jesu wird bestätigt durch dir Befragung des Pilatus, denn als Pilatus ihn fragt: „Bist du der König der Juden?“, dann setzt das die Anklage der Juden voraus, dass er sich als der König der Juden, d. h. als den Messias, ausgegeben hat. Das bezeugt ja auch der Titel, den Pilatus an das Kreuz schlagen ließ: „Jesus von Nazareth, König der Juden.“
Erst recht bestreiten die Ungläubigen die Göttlichkeit Jesu. Sie sagen, Jesus war ursprünglich ein Mensch wie jeder andere. Aber mit zeitlichem Abstand hat man ihm immer mehr göttliche Züge zugesprochen, bis er am Ende völlig vergottet war. Es müsste also dann das älteste Zeugnis des Neuen Testamentes am wenigsten von der Gottessohnschaft Jesu enthalten und das jüngste am meisten. Das älteste Zeugnis ist aber bei Paulus zu finden. Seine Briefe sind die ältesten Schriften des Neuen Testamentes, und in der Paulusbriefen ist die Gottheit Christi so deutlich ausgesagt wie nirgends sonst. Die Hypothese trifft also nicht zu, dass mit fortschreitendem Abstand vom Leben Jesu die Vergottung fortgeschritten ist. Nein, sie war von Anfang an da, weil Jesus sich als den wahren Sohn Gottes verstanden hat.
Jesus hat sich selbst als den Sohn Gottes bezeugt. Er hatte ein einzigartiges Sohnesbewußtsein. Er fasst sich niemals mit seinen Jüngern in einem „wir“ gegenüber Gott zusammen, sondern er spricht von seinem Gott und „eurem“ Gott, denn er steht eben in einem anderen Verhältnis, in einer anderen Beziehung zu Gott als die Jünger. Jesus wurde als Rabbi bezeichnet, d. h. als Lehrer. Aber sein ganzes Reden und Tun sprengt den Begriff des Rabbi. Er fordert die Jünger, die Schüler zur persönlichen Nachfolge auf. Das hat kein Rabbi getan. Sein Reden ist zunftwidrig. „Er spricht“, so sagen die Massen, „wie einer, der Vollmacht hat“, nicht wie ihre Rabbinen. Er erklärt den Willen Gottes authentisch. „Den Alten ist gesagt worden… Ich aber sage euch…“ Er lehrt wie einer, der Vollmacht hat, und er versteht sich selbst als heilsentscheidend. An seinem Schicksal, an der Stellung zu ihm entscheidet sich das Schicksal der Menschen. „Wer mich vor den Menschen bekennt, den werde ich vor dem Vater im Himmel und vor den Engeln bekennen.“ Jesus war ein Rabbi, aber ein Rabbi ganz anderer Art als seine Zeitgenossen. Er war der göttliche Rabbi, den der Vater in diese Welt gesandt hat.
Jesus wurde auch als Prophet bezeichnet, und er war ein Prophet. Aber er sprengt weit die Kategorie des Prophetischen. Bei den Propheten wird immer eine Berufungsgeschichte erzählt oder ein Jahwe-Spruch. Das fehlt bei Jesus. Er tritt auf, weil er von Anfang an als der Gottgesandte sich wusste. Er braucht keine Berufung, denn er ist von Gott gesandt, um seinen Willen den Menschen zu bringen. Deswegen sagt er auch, dass die Propheten der Vergangenheit ihm in keiner Weise gewachsen sind. „Hier ist mehr als Jonas und Salomon“, sagt er. Jonas, der große Prophet von Ninive. „Hier ist mehr als Jonas und Salomon.“ Seine Ansprüche passen nicht in die eschatologischen Kategorien, die die Zeit ihm darbot. Sein Bewußtsein sprengte auch die Erwartungen der Menschen. Er ist der unvergleichliche Heilsbringer, der sich nicht neben Gott setzt, sondern der Gott selber ist.
Die Ungläubigen geben sodann die Worte Jesu als literarische Komposition aus. Lediglich harmlose Worte lassen sie als echt gelten, alles andere ist erfunden, von den Evangelisten Jesus in den Mund gelegt. In Wahrheit schöpfen die Evangelisten aus der Tradition, die auf die mündliche Predigt der Augenzeugen zurückgeht. Die Menschen der Zeit Jesu waren nicht von einer Informationsflut überwältigt wie wir. Sie lasen keine Zeitungen, sie hörten kein Radio, sie saßen nicht vor dem Fernseher, und sie hatten deswegen ein gutes Gedächtnis. Was sie hörten, das bewahrten sie. So haben sie auch die Worte Jesu aufbewahrt und den anderen übermittelt, und sie wussten sich in eine heilige Pflicht genommen, die Worte Jesu so zu übermitteln, wie sie sie gehört hatten. Selbstverständlich konnten die Evangelisten auswählen aus den vielen Worten, Reden, Aussprüchen, die Jesus im Laufe seiner öffentlichen Wirksamkeit gemacht hatte, und sie haben ausgewählt. Deswegen gibt es eben Unterschiede zwischen den Evangelien. Aber authentisch, echt sind alle Worte, die im Evangelium von Jesus berichtet werden.
Insbesondere bezweifelt man, dass Jesus Leidensweissagungen gemacht hat. Man sagt, er konnte seinen Tod nicht voraussehen. O, meine Freunde, das finde ich geradezu lächerlich. Jesus wusste doch, welchen Widerstand er fand. Er hat doch erlebt, wie die Pharisäer ihn zu fangen suchten mit Fangfragen: „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen?“ Er hat doch sicher Verbindungsmänner gehabt, die ins Synedrium reichten. Johannes war gut bekannt mit Leuten aus dem Synedrium, und er hat deswegen von dem wachsenden Widerstand gegen ihn erfahren. Also schon rein menschlich, rein natürlich, rein vernünftig musste er gewusst haben: Das kann nicht anders ausgehen als mit meinem Tod. Aber nicht nur, dass er damit rechnen musste und dass er damit gerechnet hat. Er wusste sich auch als den Knecht Jahwes, als den Knecht Gottes, der durch sein sühnendes Leiden die Welt erlösen muß. Der Vater hatte ihm geoffenbart, welchen Auftrag er ihm gab und was er von ihm erwartete. Und weil er um die erlösende Kraft seines Todes wusste, deswegen ist er bewusst in den Tod hineingegangen. Auch andere haben ihren Tod vorausgesehen. Wenn Sie einmal die Lebensgeschichte des englischen Lordkanzlers Thomas More lesen, dann finden Sie an mehreren Stellen, wie er lange, lange vor seinem Tode wusste, Heinrich VIII., der König werde ihn zu Tode bringen. Und so ist es ja gekommen.
Man sagt weiter, die Heilungswunder Jesu seien erfunden, seien Täuschungen. Der Mann am Teiche Bethesda, das sei ein eingebildeter Kranker gewesen, und er sei dann demaskiert worden. Und so verfährt man mit den übrigen Wundern Jesu. Ach, meine lieben Freunde, ich frage. Warum sind denn die Massen ihm nachgefolgt? Warum hat er so viele Menschen angezogen? Ja, weil sie geheilt wurden, weil er ihre Krankheiten von ihnen nahm. Der Zustrom zu ihm ist gerade nur zu erklären dadurch, dass er Heilungskräfte besaß. Und viele seiner Heilungen sind mit Worten verknüpft, die unbezweifelt sind. Ich erwähne eines solcher Worte: „Weh dir, Korrazin, weh dir, Bethsaida, denn wären die Wunder in Tyrus und Sidon geschehen, die in euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan.“ Hier wird eindeutig gesagt, dass Jesus Wunder, viele Wunder gewirkt hat und dass die Menschen sich darauf hin nicht bekehrt haben, und das wird ihnen zum Verhängnis, den Städten Korrazin und Bethsaida. Auch die Jünger haben die Wunder Jesu als Beglaubigung seiner Sendung angesehen, und der Hohe Rat sah darin eine Gefahr: „Alles Volk läuft ihm nach!“ Ja, wegen der Wunder. Wie kann man dann sagen, die Wunder, die Heilungswunder Jesu seien erfunden? Das ist doch reine Willkür.
Dasselbe gilt von den Dämonenaustreibungen. Man sagt, man wollte Jesus von dem Verdacht reinigen, dass er mit dem Teufel in Verbindung stehe, und so hat man ihm Teufelsaustreibungen zugeschrieben. O meine Freunde, wenn der Messias gekommen ist, um die Bollwerke des Teufels zu zerstören, dann musste er doch den Kampf mit dem Satan aufnehmen, und dann musste der Satan doch diesen Kämpfer angreifen in der Versuchung. Jesus wusste, dass der Satan ihn begleitete wie der Schatten das Licht. In der Passionsgeschichte wird uns berichtet, dass der Satan in den Judas fuhr und dass der Satan verlangt hatte, die Jünger zu schütteln, zu sieben, wie man den Weizen siebt. Aber er hat den Starken gebunden, weil er stärker war als der Satan. Außerdem haben die jüdischen Behörden die Dämonenaustreibungen Jesu gar nicht geleugnet. Sie haben sie bestätigt, denn sie sagten: „Durch Beelzebul, den obersten der Teufel, treibt er die Teufel aus.“ Also die Tatsache der Austreibung haben sie nicht bestritten.
Meine lieben Freunde! „Wenn du willst, dass deine Gemeinde stirbt, lerne europäische Theologie!“ Das ist leider ein wahres Wort. Und was Ihre Kinder und Ihre Enkel in Schulbüchern lesen, ist oft nichts anderes als ein Abguß dieser falschen europäischen Theologie. Deswegen predige ich über dieses Thema, damit Ihr wisst, Ihr müsst den Respekt vor den Theologen ablegen. Ihr müsst euch an den Glauben halten und nicht an Phantasiegebilde von Theologen.
Johannes schreibt am Ende seines Evangeliums: „Jesus hat noch viele andere Wunder gewirkt, die nicht in diesem Buche aufgeschrieben sind. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes, ist und dass ihr durch den Glauben das Leben habt.“
Amen.