15. August 2003
Maria, Mutter der Gnade
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zur Verehrung der in den Himmel aufgenommenen Jungfrau Versammelte!
Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Schlußteil der Konstitution über die Kirche Maria gewidmet. In diesen Kapiteln sind erhabene und tröstliche Gedanken über die allerseligste Jungfrau enthalten. Vor allem spricht das Konzil deutlich aus, daß Maria mit dem Heilswerk Christi mitgewirkt hat und auf diese Weise zur Mutter der Gnade geworden ist. Das ist die entscheidende Aussage: Maria ist Mutter der Gnade, weil sie mit dem Heilswerk Christi mitgewirkt hat.
Ich zitiere aus diesem Text: „Die selige Jungfrau wurde von Ewigkeit her zugleich mit der Menschwerdung des göttlichen Wortes als Mutter Gottes vorherbestimmt und war nach dem Ratschluß der göttlichen Vorsehung hier auf Erden die erhabene Mutter des Erbarmers und Erlösers, seine großmütige Gefährtin und die demütige Magd des Herrn.“ Sie war die Mutter des Erlösers, sie war die Gefährtin des Erlösers. Der lateinische Ausdruck heißt „socia“, und sie war die demütige Magd des Herrn. Sie hat aus freien Stücken mit dem Erlösungswerk ihres Sohnes mitgewirkt. Sie hat mitgewirkt durch die göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Und weil sie mitgewirkt hat zur Wiederherstellung des übernatürlichen Lebens, deswegen ist sie in der Ordnung der Gnade unsere Mutter.
Wir haben eine andere Mutter in der Ordnung der Natur, das ist Eva. Aber diese Mutter der Natur ist weit unterlegen der Mutter der Gnade, und das ist Maria. Diese Mutter der Gnade hat beim Erlösungswerk gewiß in untergeordneter Weise, aber in unübersehbarer Weise mitgewirkt. Die Kapitel über die Muttergottes in der Konstitution über die Kirche sprechen an drei Stellen von der Mitwirkung Mariens mit dem Erlösungswerk des Herrn. Cooperatio ist der lateinische Ausdruck, und cooperare. Diese Mitwirkung ist eine echte, wenn auch eine abhängige. Maria ist in einem echten Sinne an dem Erlösungswerk beteiligt, wenn auch in einer untergeordneten Weise. Aber sie ist so beteiligt, wie auch der katholische Priester daran beteiligt ist. Er ist ja auch am Erlösungswerk beteiligt, indem er die Gnade, die Jesus erwirkt hat, vermittelt, und das ist eine echte Weise der Mitwirkung am Erlösungswerke. Ähnlich-unähnlich, freilich noch weit übertreffend ist die Mitwirkung Mariens am Erlösungswerk des Herrn.
Diese Mitwirkung hat nicht aufgehört, als Maria die Bahn des irdischen Lebens vollendet hatte und in den Himmel aufgenommen wurde. Eine große Heilige des Mittelalters hat dieses Mitwirken der in den Himmel aufgenommenen Jungfrau ergreifend ausgedrückt, Gertrud von Helfta. Die heilige Gertrud schreibt: „Während die seligste Jungfrau in unermeßlicher Herrlichkeit unter der sanften Umarmung ihres Sohnes zum Himmel erhöht wurde, ergriff sie die rechte Hand des Sohnes und segnete mit dieser die ganze Kirche“ – ergriff sie die rechte Hand des Sohnes und segnete mit dieser die ganze Kirche. Die Mutterschaft Mariens in der Gnadenökonomie, in der Gnadenwirksamkeit dauert unaufhörlich fort. Sie dauert fort bis zur endlichen Vollendung aller Auserwählten. Sie, in den Himmel aufgenommen, ist dem Herrn nun nahe, näher, als wir uns vorstellen können, und diese Nähe nutzt sie durch ihre vielfältige Fürbitte, um uns die Gaben des ewigen Heils zu erwirken.
Auch Christus ist unser Fürsprecher beim Vater; so sagt es ja der Hebräerbrief: „Er tritt laufend für uns ein“, – für die, die das Heil erwerben sollen. Aber seine Fürsprache ist priesterlichen Charakters, während die Fürsprache Mariens mütterlichen Charakters ist. Maria verbindet ihre mütterliche Fürsprache mit der priesterlichen Fürsprache ihres Sohnes. Und sie trägt in ihrer mütterlichen Liebe Sorge für die Brüder ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen, bis sie zum seligen Vaterland gelangen.
Das Konzil gibt Maria in dieser Funktion vier Namen. Es nennt sie die Fürsprecherin, die Helferin, den Beistand und die Mittlerin. Die Fürsprecherin, das ist die Übersetzung des lateinischen Wortes advocata. Was ein Anwalt tut, was ein Rechtsanwalt tut, nämlich zugunsten seines Klienten reden, das tut Maria für uns im Himmel. Sie ist unser Anwalt, sie ist unsere Fürsprecherin. Sie ist aber auch Helferin, auxiliatrix, wie der lateinische Ausdruck heißt. Sie ist die Hilfe der Christen, sie ist die Helferin der Christenheit und hat diese Hilfe tausendfach bewährt. „Ich habe schon so viel aus diesem Herzen geschöpft“, sagt der heilige Pfarrer von Ars, „daß es längst leer sein müßte, wenn es nicht unerschöpflich wäre.“ Ja, unerschöpflich ist Maria als unsere Helferin, als auxiliatrix. Und dann wird sie auch genannt der Beistand, adjutrix. Adjuvare heißt helfen, unterstützen, beistehen. Und Maria ist der Beistand in ähnlicher, freilich abhängiger und untergeordneter Weise wie der Paraklet. Der Geist, der Heilige Geist ist ja auch unser Beistand, er freilich in göttlicher Souveränität, sie in geschenkter Weise als unsere mächtige adjutrix, als unsere mächtige Beiständin in unseren Sorgen und Nöten bei Gott. Und schließlich der erhabenste Ausdruck, nämlich Mittlerin. Maria ist Mittlerin, sie vermittelt uns das Heil. Freilich wehrt das Konzil, und das mit Recht, den Gedanken ab, als ob sie in Konkurrenz träte zur Mittlerschaft Jesu. Die Mittlerschaft Jesu ist selbstverständlich unendlich erhaben, weil sie eine gottmenschliche Mittlerschaft ist. Die Mittlerschaft Mariens ist untergeordnet, sie ist abhängig, aber sie ist eine echte Mittlerschaft. Sie – und das ist richtig gesagt – fügt der Würde und Wirksamkeit Christi, des einzigen Mittlers, nichts hinzu. Sie nimmt ihm aber auch nichts weg. Ihre Mittlerschaft ist eine kreatürliche, aber es ist eine echte Mittlerschaft, die sich vereint mit der Mittlerschaft des Herrn und Erlösers. Sie trägt unsere Gebete zu Gott, und sie trägt die Gnaden Gottes zu uns herab.
Wir dürfen also, meine lieben Freunde, heute an diesem Fest und das ganze Jahr über und jeden Tag Maria als unsere Helferin, als unsere Fürsprecherin, als unseren Beistand und als unsere Mittlerin anrufen. Wir dürfen es tun in den großen Sorgen um unser Heil, denn das muß unsere erste und oberste Sorge sein, daß wir den Himmel gewinnen. Aber wir dürfen es auch tun in den irdischen Sorgen. Auch da hat Maria ein mütterliches Herz. Sie weiß, was uns bewegt und was uns bedrückt, und sie macht unsere Sorgen zu den ihren.
Ein frommer Priester hat zu Maria die folgenden Verse gerichtet:
„Alles möcht' ich dir erzählen,
alle Sorgen, die mich quälen,
alle Zweifel, alle Fragen
möcht' ich, Mutter, zu dir tragen.
Wege, die ich selbst nicht kenne,
liebe Namen, die ich nenne,
Schuld, die ich mir aufgeladen,
andern zugefügten Schaden,
Ärgernisse, so ich gegeben,
all mein Wollen, all mein Streben,
mein Beraten, mein Verwalten,
mein Vergessen, mein Behalten,
mein Begehren, mein Verzichten
und mein Schweigen und mein Richten,
all die kleinen Kleinigkeiten,
die so oft mir Müh' bereiten,
jedes Lassen, jede Tat,
Mutter, dir vom guten Rat
leg ich alles in die Hände,
du führst es zum rechten Ende.“
Amen.