4. Mai 2003
Das Spannungsverhältnis zwischen Genuß und Entsagung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Feste der christlichen Kirche, die eine besonders nahe Beziehung zum persönlichen Leben Jesu haben, sind Feste des Leidens. Denken wir an das Fronleichnamsfest! Es wird mit großer Freude und mit Jubel begangen, aber wir feiern in diesem Feste einen Tod, die Hingabe Jesu in den Tod und das Gedächtnis dieses Todes, ja die Darstellung dieses Todes, die im heiligen Meßopfer sich vollzieht. Oder denken wir an das Herz Jesu-Fest! Hier gedenken wir des Lebens Jesu, und es war doch auf weite Strecken ein Leben des Leides. Und so stellen wir auch das Herz Jesu dar mit einer Dornenkrone umgeben, mit Blutstropfen, die daraus quillen, und mit einem Kreuz, das im Hintergrund steht. Ist vielleicht das Christentum eine bloße Religion des Leides? Ist die Predigt des Christentums nur eine Predigt vom Leid? Ist die Mystik des Christentums nur eine Mystik des Leides? Dagegen erhebt Einspruch unser Herr und Heiland selbst, wenn er sagt: „Das habe ich zu euch geredet, damit ihr Freude habt und damit meine Freude in euch vollkommen sei.“
Die Freude ist auch für den Christen ein wesentliches Element seines Lebens. Ohne Freude kann kein Mensch leben. In jedem Leben muß notwendig auch Freude stehen. Freilich gilt auch wieder das Wort des Apostels Petrus: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, daß ihr euch enthaltet von den fleischlichen Gelüsten.“ Und der Apostel Paulus vergleicht unser Leben mit einem Wettkämpfer, der sich allem enthält, um den Siegeskranz zu gewinnen. Es ist nicht falsch, wenn die alten Römer den Grundsatz hatten: „Sustine et abstine“- Ertrage und entsage! Das gehört zum menschlichen Leben. Und dennoch, noch einmal: Ohne Freude kann kein Mensch leben. Es gilt auch das andere Wort, das Pascal einmal geschrieben hat: „Der Mensch ist geboren für die Freude.“
Ja, aber wie verhalten sich nun Freude und Entsagung, Genuß und Enthaltung zueinander? Wer ist ein Mensch, der diese beiden spannungsgeladenen Pole in sich vereinigen kann, Genuß und Entsagung? Wer ist ein solcher Mensch? Wie beschaffen muß ein solcher Mensch sein, der Genuß und Freude in seinem Leben vereinen kann? Es muß erstens ein freier Mensch, zweitens ein ganzer Mensch, drittens ein guter Mensch sein.
Freude und Entsagung haben es mit der Freiheit zu tun. Die Freiheit ist nämlich bedroht vom Genuß. Dem Genuß haftet eine Gewaltsamkeit an; er sucht den Menschen zu überwältigen; er sucht ihn in sich hineinzuziehen; er sucht ihn an sich zu ketten. Der Genuß ist tatsächlich von einer schrecklichen Unersättlichkeit. Wenn er befriedigt ist, dann dauert dieser Friede nur kurze Zeit, dann meldet sich wieder das Begehren, und der Mensch kann so zum Sklaven des Genusses werden. Deswegen muß der Mensch, der richtig genießen soll und will, ein freier Mensch sein, ein Mensch, der innerlich frei bleibt. Und frei bleibt man nur, wenn man fähig ist, im Genuß auch zu sagen: Ich entschlage mich des Genusses, ich verzichte auf den Genuß. Nur ein Mensch, der in stetiger Bereitschaft zum Opfer steht, nur ein solcher Mensch ist fähig, den Genuß zu kosten.
Nur jene Freuden gehen mit uns, auf die wir auch jederzeit verzichten können. Nur jene Freuden gehen mit uns in die Ewigkeit, die wir jederzeit auch in Gottes Hände zu legen bereit sind. Nur der innerlich freie Mensch kann wahrhaft genießen. Nur der zur Entsagung bereite Mensch ist fähig, die Freude auszukosten. Nur wer ein innerlich zum Verzicht bereiter Mensch ist, der ist tatsächlich geeignet, den Genuß in den Schranken zu halten, die ihm notwendig gesetzt werden müssen, wenn der Genuß den Menschen nicht überwältigen soll. Der Mensch ist zur Freude geboren, das bleibt bestehen, aber der Mensch darf nicht zum Sklaven der Freude werden. Es darf nicht soweit kommen, daß er sagt: Ich kann nicht mehr leben, ich kann nicht mehr sein ohne den Genuß, ich muß ihn haben. Wenn es soweit gekommen ist, dann hat er die Freiheit schon verloren, und dann raubt er dem Genuß das Beste, was ihm anhaftet, nämlich den Schimmer des Göttlichen, den Schimmer der Herrlichkeit. Wer Freude, Lust und Genuß vereinen will mit der Entsagung, muß ein innerlich freier Mensch sein.
Er muß zweitens ein ganzer Mensch sein. Ein ganzer Mensch ist derjenige, der die Ganzheit des Lebens in sich verwirklicht, also ein Mensch, der nicht nur Geist ist, sondern auch Körper, oder umgekehrt nicht nur Körper, sondern auch Geist; ein Mensch, der nicht nur ein Individuum ist, sondern auch ein Gemeinschaftswesen; ein Mensch, der nicht nur auf der Erde zu Hause ist, sondern auch nach dem Himmel strebt. Kurz gesagt, ein ganzer Mensch ist derjenige, der in die ganze Wirklichkeit eingeordnet ist, in die irdische und in die himmlische Wirklichkeit, ein Mensch, der nicht nur ein Zeitwesen ist, sondern der weiß: Ich bin für ein ewiges Ziel bestimmt.
Nun ist aber jeder Genuß, jede Freude, jede Lust nur ein Teil. Sie dauert immer nur kurze Zeit, sie ist beschränkt, und sie droht uns aus unseren Aufgaben, Pflichten und Verantwortungen herauszureißen. Die Lust ist ein Teilwert. Sie ist etwas, was die Gesamtheit unserer Kräfte, Aufgaben und Wirklichkeiten in dieser Hinsicht tatsächlich bedroht. Sie ist nur ein Ausschnitt aus dem Ganzen, aber wir sollen ja Ganze sein, wir sollen unser ganzes Leben, unsere gesamten Aufgaben verwirklichen. Wir sollen in allen Bereichen zu Hause sein. Und deswegen müssen wir diesen Ausschnitt des Lebens, den die Freude, den die Lust, den der Genuß bedeutet, hineinstellen in die Ganzheit, in die Gesamtheit unseres Lebens. Also, um einige Beispiele zu bieten: Wir dürfen und sollen uns erholen, aber die Erholung muß bemessen werden an den Bedürfnissen des Berufslebens. Wir können und sollen essen und trinken, denn unser Körper bedarf der Spesie und des Trankes, aber die Bedürfnisse des Körpers müssen auch die Grenze bezeichnen für Essen und Trinken. Wir können und sollen das Schöne genießen; es gibt ja Freuden, die den Menschen nicht herabziehen, sondern die ihn erheben, die geistigen Freuden. Der Naturgenuß, der Kunstgenuß, die können den Menschen erheben. Und wir dürfen diesen Genuß haben, aber wir müssen ihn in Einklang bringen mit den Forderungen des inneren Lebens. Wir dürfen das Zusammensein mit einem Menschen genießen, aber wir dürfen nie die Verantwortung vergessen, die wir für dieses Zusammensein haben. Das gilt insbesondere für das Zusammensein mit einem Frauenwesen. Wir dürfen die Verantwortung für das Frauenherz niemals vergessen; wir dürfen die Verantwortung für unser Volk, für unsere Kirche niemals aus unserem Gedächtnis entfernen. Der Genuß muß also in die Verantwortung eingebunden sein, in die Gesamtheit unseres Lebens. Keine Lust darf um ihrer selbst willen gesucht werden. Deswegen haben die ernsten Menschen aller Zeiten und aller Religionen eine Scheu vor dem Genuß gehabt. Es hat Menschen gegeben, die sich jeglichen Genusses entschlagen haben. Die harten Einsiedler und Aszeten haben selbst die dürftigen Speisen, die sie noch zu sich nahmen, irgendwie zu verunstalten versucht, um ja nicht dem Genuß zu erliegen. Das sind freilich Übertreibungen. Das ist nicht übernatürlich, sondern das ist unnatürlich, denn diese Menschen wurden dadurch verängstigte, verkümmerte, verkrampfte Menschen. Aber wir haben die Aufgabe, den Genuß in die Gesamtheit des Lebens hineinzustellen, nicht den Genuß um des Genusses willen zu suchen, sondern ihn um höherer Bedürfnisse, um höherer Ansprüche willen uns zuzuführen. Das heißt ein ganzer Mensch sein, den Genuß in die Aufgaben, in die Verantwortungen, in alle Bezirke unseres Lebens einfügen.
Ein Mensch, der Genuß und Entsagung vereinen will, muß ein guter Mensch sein. Nur ein guter Mensch hat eigentlich eine lebendige Beziehung zur Freude, er hat auch ein Anrecht auf Freude. Der gute Mensch ist der schöpferische, der aufbauende, der mitteilende Mensch. Der gute Mensch ist derjenige, der sich verströmt für andere. Und wie kann man sich denn, meine lieben Freunde, wie kann man sich denn in dieser Welt verströmen für andere, wenn man nicht das Eigene hingibt? Ja, genauso ist es. Diese Mitteilung an andere muß oft, vielleicht immer erkauft werden durch Opfer an sich selbst. Wer anderen dienen will, wer anderen helfen will, wer andere beglücken will, der wird es fast immer nur dadurch können, daß er auf Eigenes verzichtet.
Freilich ist auch ein solcher Mensch durch den Verzicht und die Entsagung nicht freudlos. Wenn er keine Freude in sich hätte, wäre er ja ein armer Mensch. Wie kann ein armer Mensch einen anderen beglücken? Auch der Mensch, der sich für andere hingibt, muß ein Mensch der Freude sein, ein heller, ein aufbauender, ein freudiger Mensch, der selbst lebendig ist und der, weil er eben in der Freude lebt, auch anderen etwas bedeuten kann.
Nun gibt es eine Freude, die wechselseitig ist. Indem man schenkt, empfängt man. Ein Beispiel dafür ist die schenkende Liebe in der Ehe. Wenn Gatten sich mit der schenkenden Liebe lieben, dann geben sie und empfangen gleichzeitig etwas. Die schenkende Liebe ist immer doppelseitig. Ein herrliches Beispiel solcher schenkenden Liebe gibt es im Evangelium. Der Herr ließ sich von der Frau salben und machte sie dadurch glücklich. Aber indem er sie glücklich machte, empfing er selbst etwas, nämlich den Beweis ihrer Zuneigung und Liebe. Es gibt also eine solche Liebe, eine solche Zuwendung zum anderen, die immer mit einem Zurückempfangen verbunden ist. Ja, die Verbindung von Genuß und Entsagung geht noch weiter. Sie geht so weit, daß Genuß und Entsagung sich vereinen. Das ist dann der Fall, wenn der Mensch, der eine Freude empfängt, der einen Genuß erhält, wenn ein solcher Mensch in tiefer Demut sich diesem Geschenke naht, etwa so, wie wir zur heiligen Kommunion gehen sollen. Wir wissen aus heiligem Verlangen, welche Gabe uns zuteil wird, und doch sind wir von einer tiefen Demut erfüllt: „Ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach.“ Hier ist tatsächlich der Genuß zur Entsagung geworden, der Genuß mit der Entsagung verbunden. Und umgekehrt gibt es auch eine Entsagung, die zum Genuß werden kann. Das ist dort der Fall, wo ein Mensch dem Heiland sagt: Ich will es nicht anders, ich will es nicht besser haben als du. Du bist mein, mein Herr und Heiland, und das ist mein Glück, und das ist die Freude, und das ist der Inhalt meines Lebens. Aber ich will mit dir deine Schmach und Schande teilen. Ich will nicht anders und besser leben als du. Ich will mit dir den Weg gehen, den Weg des Kreuzes und der Einsamkeit und des Ausgestoßenseins.
Wer ein solches Empfinden in seiner Seele trägt, dem treibt jede Behaglichkeit dieses Lebens die Schamröte ins Gesicht. Ein solcher Mensch weiß, was der Apostel Paulus meint, wenn er einmal schreibt: „Diejenigen, die weinen, sollen sein, als ob sie nicht weinten. Diejenigen, die sich freuen, sollen sein, als ob sie sich nicht freuten. Und diejenigen, die diese Welt gebrauchen, sollen sein, als ob sie sie nicht gebrauchten, denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“
Amen.