Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Januar 2003

Das Dogma von der Gnade

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Man hat gesagt, das Christentum sei die Religion der Gnade im Unterschied und im Gegensatz zum Judentum, der Religion des Gesetzes. Das Christentum ist die Religion der Gnade – das ist tatsächlich so. Wenn der heilige Johannes das Ereignis der Menschwerdung beschreiben will, da sagt er: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen voll der Gnade und Wahrheit.“ Wenn der Evangelist Lukas die Verfaßtheit der Muttergottes beschreiben will, dann sagt er, sie sei die „Gnadenvolle“. So hatte der Engel Maria genannt, die, welche „voll der Gnade“ ist. Und beim Apostel Paulus kommt kaum ein Wort so häufig vor wie das Wort der Gnade. Wenn das Christentum die Religion der Gnade ist, dann müssen wir auch von der Gnade sprechen,vom Dogma der Gnade, denn auch dieses Dogma ist ein lebendiges Dogma, ein Dogma des Lebens.

Freilich kommt das Wort Gnade heute manchen Menschen fremd und eigenartig vor. Sie vertrauen auf die eigene Kraft und nicht auf etwas, was man geschenkt bekommt. Sie fordern ihr Recht ein und verlangen nach Gerechtigkeit und nicht nach Almosen. Man spricht von einem „gnädigen Herrn“ und einer „gnädigen Frau“, und diese Redeweise kommt uns einigermaßen komisch vor. Die Gnade wurde vielfach so vorgestellt, als ob es sich dabei um eine Mechanik handele, um Stoßkräfte, die auf den Menschen einwirken.

Aber nichts dergleichen! Die Gnade ist eine Liebesbeziehung zwischen Gott und dem Menschen, eine Liebesbeziehung, die den Menschen hinaufhebt in seine Gemeinschaft und ihn zum Vertrauten, ja zum Teilhaber seines göttlichen Lebens macht. Wir wollen deswegen sprechen erstens von dem gnädigen Gott, seiner Gesinnung und seiner Haltung, und zweitens von dem mit der Gnade erfüllten oder zur Gnade bereiten Menschen.

Die Gnade ist zunächst eine Haltung in Gott. Gott ist gnädig; er ist der Gott der Gnade. Diese Haltung in Gott ist eine Gesinnung und eine Bereitschaft, eine Gesinnung, sich gnädig zu erweisen, und die Bereitschaft, Gnade auszuteilen.

Zunächst einmal ist ja der Mensch ein Geschöpf Gottes, ein Werk Gottes, ein Werkzeug Gottes, ein Spielball Gottes, wenn man so sagen will. Aber Gott hebt diesen Menschen zu sich hinauf, er beruft ihn zum Partner. Er macht ihn zu seinem Gefährten; er schenkt ihm Vertraulichkeit und behandelt ihn wie etwas Gleichwertiges, wie ein Vater sein Kind, wie ein Gatte seine Gattin, wie ein Bruder seine Schwester. Gottes Haltung ist nicht wirkungslos. Wenn Gott dem Menschen gnädig ist, dann schafft diese Gnädigkeit etwas im Menschen; sie schafft in ihm ein neues Sein. Zu dem geschöpflichen Sein tritt ein neues Sein hinzu, ein höheres Sein, ein Sein auf einer höheren Ebene. Die gnädige Gesinnung wirkt sich im Menschen aus als der Gnadenzustand. Sie erinnern sich, meine lieben Freunde, an das, was Sie einst im Katechismus gelesen und im Religionsunterricht gelernt hatten, wo von der Gnade der Kindschaft, von der „heiligmachenden Gnade“ gesprochen wurde. Diese Worte sind wahr, sie sind echt; sie geben das wieder, was Gott in seiner gnädigen Gesinnung mit dem Menschen tut: Er nimmt ihn auf in den Gnadenzustand. Der Mensch empfängt dadurch einen neuen Glanz, er wird schöner, er wird emporgehoben, er wird in einen neuen Zustand versetzt, den Gnadenzustand. Dieser Zustand umfaßt das ganze menschliche Sein. Die ganze Seele wird von der Gnade ergriffen und durchwirkt.

Aber freilich, dieser Gnadenzustand dringt niemals ganz in unser Bewußtsein. Wir können den Gnadenzustand nicht messen, wir können ihn nicht wägen, wir können ihn nicht einmal erlebnishaft feststellen. Er ist in einer Weise verborgen, wie nur Gott verborgen sein kann – aus guten Gründen: damit wir uns nicht dieses Zustandes bemächtigen können, damit wir nicht seine Herren werden können, damit Gott Gott bleibt, auch in diesem Zustand, den er im Menschen hervorbringt. Gott muß Gott bleiben, indem er für den menschlichen Zugriff unerreichbar ist.

Dennoch wird der Gnadenzustand auch im bewußten Leben des Menschen sich bemerkbar machen. Der Gnadenzustand wirkt sich aus in Gnadenbewegungen. Diese Gnadenbewegungen ergreifen zunächst das Erkenntnisvermögen, den Verstand. Der Mensch bemerkt, daß er Erkenntnisse gewinnt, die ihm von außen kommen, daß ihm Gedanken gegeben werden, die ihm geschenkt werden. Der Mensch stellt fest, daß ihm Erleuchtungen werden und Einsprechungen: Das sollst du tun! So sollst du sein! Den Weg sollst du gehen! Das ist deine Aufgabe, das ist dein Beruf, das ist deine Sendung. Das sind die Gnadenbewegungen, die Gott in der Seele hervorbringt. Wenn es uns bewußt wird: Das ist deine Tat, das ist dein Gott, das ist deine Gefahr..., dann wissen wir, daß die Gnade in uns wirksam ist.

Aber diese Erkenntnisse bleiben nicht im Verstandesbereich stehen. Sie gehen über auf den Willensbereich. Jede Erkenntnis ist auch ein Antrieb. Jede Inspiration ist auch ein Impuls. Jedes Licht ist auch eine Kraft. Wir werden durch die Gnadenbewegungen angeleitet, das zu tun, was Gott von uns getan wissen will. Es kommen Kraftströme in uns, die unseren Willen – wenn wir nur willig sind – dahin leiten, wohin Gott uns haben will: zu seinem Ziele, zu seinen Absichten. Welches sind denn die Ziele Gottes mit uns? Welches sind denn die Absichten Gottes mit uns? Nun, daß wir würdig seiner Berufung leben, daß wir würdig unserer Berufung leben, daß wir standesgemäß leben, nämlich entsprechend dem Stand der Gnade, dem Zustand der Gnade, in dem wir uns befinden. Das ist das Ziel dieser Gnadenbewegungen. Sie sollen die Seele empfänglich machen und bereitwillig für Gottes Willen. Sie sollen der Seele den Antrieb geben, daß sie ihrem Stande gemäß, ihrem göttlichen Stande gemäß lebt, daß sie als Kind Gottes wandelt.

Wenn wir das tun, wenn wir den Gnadenbewegungen folgen, wenn wir uns von ihnen antreiben lassen, dann können auch wir Gott etwas bieten. Die Gnade ist eben nicht nur ein Ausströmen aus Gott, sondern auch ein Zurückströmen vom Menschen. Wir können Gott etwas bieten, was er mit Freuden aufnimmt, was wertvoll und groß und angesehen in seinen Augen ist. Die Gnade ist nicht nur ein Liebeserweis Gottes, sie ist auch ein Liebeserweis der Menschen. Wenn wir unter dem Antrieb der Gnade gut handeln, standesgemäß leben, dann erfreuen wir damit Gott, dann sind unsere Werke, wie wir sagen, Gott wohlgefällig, dann sind sie verdienstlich. Jawohl, wir wollen das Wort nicht meiden, das heute verpönt scheint: Unsere Werke, die Gott wohlgefällig sind, sind verdienstlich. Gott hat Wohlgefallen an ihnen. Sie sind wertvoll in seinen Augen, also unser Beten, unser Opfern, unser Bereuen, unsere gute Meinung. Das alles ist wertvoll in Gottes Augen.

Wir sehen jetzt, meine lieben Freunde, daß die christliche Religion tatsächlich die Religion der Gnade ist. Sie ist deswegen die Religion der Gnade, weil sie beherrscht ist von der Liebe. Gewiß spricht auch die Pflicht mit, gewiß hat auch das Recht seine Stelle, aber über alles hinaus ist die christliche Religion die Religion der Liebe. Sie ist beherrscht von der Liebe, von der verschwenderischen Liebe Gottes, die spricht: Nehmt mich hin und lebet von mir, und von der anderen, ebenso verschwenderischen Liebe des Menschen, die fragt: Was kann ich dem Herrn vergelten für das, was er mir getan hat?

Der wahre Christ ist der begnadete Mensch, und der begnadete Mensch ist der eifervolle Mensch. Der eifervolle Mensch ist jener, der bedrängt ist von der Liebe seines Gottes und von der Liebe zu seinem Gott. Die Liebe Christi drängt mich, so spricht der eifervolle Mensch. Der begnadete Mensch ist auch der kummervolle Mensch. Es kümmert ihn, daß er nicht genug seiner Liebe, seinem Liebesruf, seiner Liebesgabe entsprechend leben kann, es bedrückt ihn, daß er nicht genug an Liebe zurückschenken kann, was Gott ihm geschenkt hat. Er weiß zwar, daß er alle Gebote hält, aber das ist ihm noch zu wenig. Er möchte darüber hinaus noch mehr tun,um Gott zu erfreuen. Der begnadete Mensch ist auch der opfervolle Mensch. Er spricht: Ich habe fröhlich alles dargebracht, alles, was du von mir gewünscht hast alles, was du mir befohlen hast, das habe ich gebracht. Fröhlich habe ich alles dargebracht. Der begnadete Mensch ist schließlich auch der demutsvolle Menschen. Er weiß, und er wird es einst erfahren, eine ganze Ewigkeit lang ertragen müssen, daß Gott, daß Gottes Liebe ihn besiegt, überwältigt und überwunden hat. Die Liebe Gottes, die ohne Maß ist, und die Gnade Gottes, die über alles Maß hinaus ein Reichtum, ein unermeßlicher Reichtum ist. Fröhlich habe ich alles dargebracht!

Amen.

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