Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. August 2002

Die Bedeutung von Vater und Mutter für die Kinder (4.)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Auf dem Sinai hat Gott dem Moses zwei Tafeln übergeben. Auf der ersten Tafel standen die Gebote Gottes, die sich auf Gott selbst richten. Auf der zweiten Tafel standen die Gebote Gottes, die sich auf die Menschen richten. Die erste Tafel gilt der Gottesgemeinschaft, die zweite Tafel gilt der Menschengemeinschaft; beides gehört zusammen. Man kann nicht zu Gott kommen, wenn man nicht über die Menschen geht. Es gibt keine Verbindung mit Gott, wenn wir nicht in rechter Weise mit den Menschen zusammenleben. Wer ein Liebhaber Gottes sein will, der muß die Menschen lieben. Wer auch nur einen Menschen richtig liebt, der ist schon ein Liebhaber Gottes, und wer ein Gotteskind ist, der ist auch ein Menschenfreund.

Unter den Gemeinschaften, von denen auf der zweiten Tafel der Sinai-Gebote die Rede ist, ist die erste die Familiengemeinschaft. Das Gebot lautet: „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ In die Familiengemeinschaft kann man von zwei Seiten hineinschauen, nämlich von seiten der Eltern auf die Kinder und von seiten der Kinder auf die Eltern. Wir wollen heute den Blick von den Kindern auf die Eltern richten. Wir wollen fragen: Was bedeuten die Eltern, was bedeuten Vater und Mutter für die Kinder?

Wenn wir von unseren Eltern sprechen, dann werden in den einen heiße Ströme des Dankes aufbrechen, ein Heimweh und ein seliges Erinnern. Aber es gibt auch Menschen, nicht wenige Menschen, die mit Wehmut an ihre Eltern denken, die wenig oder keine Elternliebe empfangen haben, die niemals den seligen Namen Vater und Mutter mit Freude und Dankbarkeit ausgesprochen haben. Aber für sie alle, für die erste und für die zweite Gruppe, ist das vierte Gebot von großer lebensentscheidender, seligkeitsentscheidender Wichtigkeit: „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Vater und Mutter sind Namen von schenkenden Menschen. Wir empfangen von den Eltern. Wir empfangen fast alles, was wir besitzen, von den Eltern, das körperliche Leben, das seelische Leben und das geistige Leben.

Wir empfangen von den Eltern das körperliche Leben; sie sind unsere Erzeuger. Aber mit der Erzeugung ist es ja nicht getan; es muß auch das erzeugte Leben bewahrt werden, es muß geschützt werden, es muß genährt und gefördert werden. Je höher ein Wesen steht, um so zerbrechlicher ist es auch, und niemand steht höher als der Mensch. Deswegen braucht er auch die meiste Sorge und die meiste Pflege. Jedes Leben ist darauf angewiesen, daß es vor Gefahren bewahrt wird, daß ihm Schutz geschenkt wird, daß ihm Förderung zuteil wird. Aber niemand braucht mehr Mittel, mehr Schutz, mehr Bewahrung als der Mensch, denn niemand ist gefährdeter als das Menschenkind. Was ein Menschenkind braucht, was es nötig hat, wessen es bedarf, das weiß eigentlich nur ein Mensch genau, das ist die Mutter. Die Mutter allein ist imstande zu wissen, was ein Menschenkind nötig hat. Man kann Kinder nicht aufziehen wie vielleicht junge Tiere, die alle in der gleichen Weise behandelt werden, sondern jedes Kind ist ein Individuum und braucht eine individuelle Pflege. Das zu wissen ist allein die Mutter imstande.

Die Eltern geben den Kindern das körperliche Leben, sie geben ihm die Bedingungen, die Bestimmungen des körperlichen Lebens, sie vermitteln ihm die Anlagen, die Grundlagen der körperlichen Gesundheit, auch die Grundlagen des Charakters, soweit diese mit dem Körper verbunden sind, und das sind sie in weitem Maße. Alles, was die Eltern selbst empfangen haben von ihren Vorfahren und was sie sich im Laufe des Lebens errungen haben an Heiligkeit, an Selbstüberwindung, an Zucht und an Gediegenheit des Charakters, das vermitteln sie, wenn auch in kleinsten Spuren, dem Menschenkind weiter. Wir leben von dem Kapital, das unsere Eltern erdarbt und erschafft haben. Wir leben aber auch von dem geistigen Kapital, von der Selbstlosigkeit, von der Selbstverantwortung, von der inneren Freiheit und von der charakterlichen Treue, von der sittlichen Haltung unserer Eltern. Das alles wird uns in irgendeiner Weise über die Pflege unseres körperlichen Lebens durch die Eltern vermittelt.

Die Eltern beeinflussen aber auch unser seelisches Leben. Gewiß, die Seele, die geistige Potenz in uns, die Kraft, die niemals stirbt, die Seele wird in dem Augenblick der Zeugung von Gott eingeschaffen. Die Seele wird nicht von den Eltern den Kindern übertragen, sondern sie wird von Gott geschaffen. Aber was das Zusammen von Körper und Geist, das Zusammen von Leib und Seele betrifft, da ist ein Einfluß von seiten der Eltern zu beobachten. Wie sich Leib und Seele miteinander vertragen, wie sie miteinander wachsen und sich fördern, das hängt zum erheblichen Teil von den Eltern ab. Das hängt nämlich ab von der Luft und von der Atmosphäre, die in einem Elternhaus herrschen. Kinder brauchen körperliche Nahrung; sie brauchen Milch, sie brauchen Speise, sie brauchen Ruhe, sie brauchen Bewegungsfähigkeit. Auch die Seele braucht Nahrung, und diese Nahrung müssen die Eltern ihm geben, dem Kind. Das ist die Geborgenheit, das ist die Liebe, das ist die Heimat, die sie ihm im Elternhaus verschaffen. Ohne Vater- und Mutterliebe entbehrt ein Kind Unersetzliches. Dann bleiben ihm ganze Lebensbereiche verschlossen; dann lernt er nicht als Kind, was es heißt, ein Gemütsleben zu besitzen, ein Herzensleben, ein Gefühlsleben; dann lernt es nicht, was es heißt, Takt und feines Empfinden zu besitzen; dann bleiben ihm ganze Bereiche verschlossen, und es geht schlecht ausgerüstet in das Leben hinaus. Die Eltern tragen große Verantwortung, wie gerüstet die Kinder in das Leben hineingehen.

Die Eltern vermitteln uns aber auch das geistige Leben. Was sie an Innerlichkeit und Idealismus, an sittlicher Treue und an religiöser Haltung besitzen, das übergeben sie dem Kind, nicht in systematischer Weise wie in einem Lehrsaal, sondern infolge von Fingerzeigen und Hinweisen. Durch Vermittlung der Formen und der Stoffe, mit denen der junge Mensch selber sich das geistige Leben aufbaut, beeinflussen die Eltern das geistige Leben der Kinder. Sie regen sie an, sie bewahren sie, sie führen sie, sie weisen sie hin, und selig die Kinder, die zum erstenmal aus Vatermund oder aus Muttermund Hinweise auf Gott, auf das Jesuskind, auf die heilige Mutter Maria empfangen haben! Selig die Kinder, die sich auf eine religiöse Erziehung im Elternhaus berufen können! Die Eltern sind die ersten und wichtigsten Förderer des geistigen Lebens des Kindes. Sie sollen es unterrichten und unterweisen, sie wollen es führen, damit es sich selbst eine geistige Welt erschafft. Aber nicht vom Wissen allein und noch viel weniger von Begriffen lebt der Mensch, sondern von der Tat und vom Willen. Und darum ist die Ausbildung des Willens mindestens ebenso wichtig wie die Ausbildung des Wissens. Die Eltern sind auch auf diesem Gebiete die ersten und wichtigsten Bildner des Menschenkindes. An ihnen soll der junge Mensch lernen, was es heißt, nicht den eigenen Einfällen folgen, sondern sich vor dem beugen, was Pflicht, was Notwendigkeit, was Gesetz ist. Die Eltern sind die Träger, die ersten Träger der Autorität. An ihnen muß das Kind lernen, was es heißt, sich Notwendigkeiten zu beugen. Es kommt nicht auf das eigene Belieben, nicht auf die Willkür, nicht auf die Laune, nicht auf die Leidenschaft an, sondern es kommt auf das an, was notwendig, was wirklich, was im höchsten Sinne bewegend ist. Die Kinder müssen lernen, und sie müssen es an den Eltern lernen, geradlinig und unbedingt zu gehorchen, zu gehorchen auch ohne eigene Prüfung und auch ohne eigenes Gutdünken.

Die Leistung des Gehorsams kann nicht vom Hochstand der Eltern abhängig gemacht werden. Gewiß, wenn wir selbstlose, kluge, treue, gottgehörige Eltern hatten, dann wurde uns der Gehorsam erleichtert. Aber auch bei dem das nicht der Fall ist, der darf nicht davor zurückschrecken, Gehorsam zu leisten. Der Gehorsam kann nicht von der hohen Begabung, vom sittlichen Hochstand, von der Unfehlbarkeit der Eltern abhängig gemacht werden. Das Kind muß lernen zu gehorchen, auch wenn die Eltern keine begnadeten Erzieher sind, auch wenn die Eltern ihrer hohen Aufgabe nicht allerwegs gewachsen sind. Das Kind muß lernen zu gehorchen. Und wehe dem, der es nicht in frühester Kindheit gelernt hat!

Freilich hat der Gehorsam seine Grenzen. Es gibt eine untere Grenze und eine obere Grenze. Die untere Grenze ist da gelegen, wo es sich um geistig oder sittlich unfähige oder minderwertige Eltern handelt. Hier kann der Gehorsam, die Gehorsamspflicht sich vermindern, ja sogar erlöschen. Einem verbrecherischen Vaterwillen darf man nicht gehorchen. Aber die untere Grenze umfaßt auch noch ein Weiteres, nämlich die anderen Autoritäten. Die Eltern sind nicht die einzigen Träger der Autorität. Neben ihnen stehen andere Träger, nämlich der Staat und die Kirche. Auch wenn die Eltern in ihrem Bereich die ersten und ursprünglichen Autoritätsträger sind, so gibt es doch auch andere Notwendigkeiten. Im bürgerlichen Bereich ist es der Staat, im religiösen Bereich ist es die Kirche, und ihnen müssen sich auch die Eltern beugen.

Neben dieser unteren Grenze gibt es eine obere Grenze. Die Kinder wachsen heran, und mit wachsendem Alter und mit zunehmender Reife wird auch ihre Selbständigkeit größer. Sie werden immer mehr aus dem strikten Autoritätsverhältnis entlassen. Sie wachsen heraus. Sie sollen nicht herausbrechen, gewaltsam, gewalttätig, sie sollen herauswachsen. Die elterliche Autorität soll nicht verneint werden, sie soll sich wandeln. Dieser Wandel muß von der fast physischen Gewalt über das Kind zu einer helfenden, einer freundschaftlichen, einer kameradschaftlichen Führung werden. Ja, das sollen die Eltern dem Kinde werden: Freunde und Kameraden. Und es liegt auch an den Kindern, ob wir es den Eltern leicht machen, zu unseren Freunden und Kameraden zu werden.

Wenn es sich so wandelt, das Verhältnis von Eltern und Kindern, dann hört die Autorität und die Autoritätsausübung niemals auf. Sie erreicht ihren Gipfel in einem Vertrauensverhältnis, das bis zum Tode der Eltern bestehen bleibt. Ja, es kann sogar sein, daß sich das Autoritätsverhältnis umkehrt. Einst haben die Eltern das Kind auf dem Schoß getragen und an die Brust gedrückt. Wenn aber die Eltern hinfällig, krank und siech werden, dann kann es sein, daß die Kinder die Eltern auf ihren Händen tragen müssen, daß sie sie an ihre Brust nehmen müssen, daß sie in Fürsorge und Betreuung sich den Eltern zuwenden müssen. Das ist dann auch höchste Erfüllung des vierten Gebotes. Das vierte Gebot heißt: „Du sollst deine Eltern ehren!“ Das besagt: Du sollst ihnen Gehorsam leisten, und du sollst ihnen untertänig sein. Aber auch: Du sollst dich ihrer annehmen und sollst für sie besorgt sein. So ehrt man Eltern.

Diese Sorge für hinfällig gewordene Eltern gilt für jedes Kind, auch für diejenigen Kinder, die niemals in ihrem Leben echte Elternliebe erfahren haben, die dunkle und schwere Erinnerungen mit sich schleppen an ihre Eltern. Auch für sie gilt diese Pflicht der heiligen Fürsorge. Ehrfurcht und Liebe muß auch den Eltern, die versagt haben, die den Elternnamen nicht zu Recht trugen, zugewendet werden.

Vor einiger Zeit hat einmal ein Lehrer die Kinder in der Schule gefragt: „Kann man denn einen Vater, der im Gefängnis sitzt, auch noch ehren?“ Darauf antwortete ein Kind, die Tochter eines Arbeiters: „Ja, sonst wird er ja ganz verstockt.“ Wie recht hat dieses Kind! Man muß auch einen Vater, der im Gefängnis sitzt, noch ehren. Er bleibt der Vater, und das Kind bleibt ihm zu Gehorsam, zu Ehrfurcht im Rahmen des göttlichen Gesetzes verpflichtet. Wenn aus Menschen, die niemals den Vater- oder Mutternamen mit Liebe und mit Freude gesprochen haben, wenn aus solchen Menschen doch noch reife und starke Menschen geworden sind, dann wird in ihnen auch die Güte, die reife Güte, aufstehen, das Verstehen und Erbarmen mit diesen Eltern. Sie werden dann auf die Höhe des vierten Gebotes steigen, nicht bloß Martyrer des vierten Gebotes sein, sondern seine Erfüller. Gerade solche Menschen, die Leidvolles in ihrer Kindheit erlebt haben, gerade solche Menschen werden wissen, was es ist, wenn man betet: Vater unser, der du bist in deinem Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Name, der Vatername, sei und bleibe ein heiliger Name!

Amen.

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