Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Oktober 2000

Berufen zum Heil

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Mehrfach ist im Evangelium des Matthäus die Rede von einem Satz des Herrn, der uns bedenklich machen kann. Dieser Satz lautet: „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“ Hier wird unterschieden zwischen zwei Gruppen, zwischen den Berufenen und zwischen den Auserwählten. Von der ersten Gruppe, den Berufenen, wird gesagt, daß ihrer viele seien, aber von der zweiten Gruppe, den Auserwählten, wird bemerkt, es seien nur wenige. Wie ist dieser Satz zu verstehen? Ich antworte: Es gibt eine göttliche Vorherbestimmung zum Heil, und es gibt ein göttliches Vorherwissen um das Unheil.

Es gibt eine göttliche Vorherbestimmung zum Heil. Gott will, daß alle Menschen selig werden, ohne Ausnahme. Seine Liebe erstreckt sich auf alle, denn alle Geschöpfe sind Darstellungen seiner Liebe. Gott will das Heil also auch aller Menschen, aber der Mensch ist verantwortlich dafür, daß ihm das Heil zuteil wird. Wenn er sich auf Gottes Heilswillen einläßt, gewinnt er das Heil; wenn er sich ihm widersetzt, verspielt er das Heil. Nun ist das Maß der Gnade und der Glorie, das Gott dem einzelnen Menschen gibt, ungleich. Gott handelt nicht willkürlich; er schafft ein Reich der Schönheit und der Ordnung, aber in diesem Reich der Schönheit und der Ordnung gibt es eine ungleiche Verteilung der Gnade und der Glorie. Diese ungleiche Verteilung zeigt sich darin, daß Gott Menschen zur Seligkeit vorherbestimmt. Es gibt einen Plan Gottes, wonach Gott bestimmte Menschen mit Sicherheit zum Heile führt. Er hat ein Programm, wonach er einem Menschen die Seligkeit bereitet hat, und zwar so, daß er sie auch sicher erreicht. Vorherbestimmung besagt also, daß Gott den Menschen gar nicht erst fragt, ob er das Heil will, sondern er bestimmt ihn zum Heil, ohne ihn um seine Meinung anzugehen. Es gibt eine echte Vorherbestimmung zum Heil. Aber es gibt keine Vorherbestimmung zum Unheil. Gott weiß, wer auf seine Gnade eingehen wird, und deswegen weiß er auch um diejenigen, die sich der Gnade verweigern und sich dadurch das Unheil bereiten. Aber sie gehen nicht deswegen des Heiles verlustig, weil Gott darum weiß, sondern sie gehen deswegen des Heiles verlustig, weil sie sich gegen Gottes Liebe gewehrt haben, weil sie sich ihr widersetzt haben. Es gibt keine Vorherbestimmung zum Bösen und infolgedessen auch keine Vorherbestimmung zum Unheil, nur ein Vorherwissen.

Das Konzil von Orange vom Jahre 529 hat diese Wahrheit wie folgt ausgesprochen: „Nach katholischem Glauben bekennen wir, daß nach der in der Taufe empfangenen Gnade alle Getauften unter Beihilfe und Mitwirkung Christi alles zum Seelenheil Notwendige erfüllen können und müssen, wenn sie sich treu abmühen wollen. Daß aber einige durch göttliche Macht zum Schlechten vorherbestimmt werden, das glauben wir nicht nur nicht, sondern wenn es solche gibt, die so Schlechtes glauben wollen, so sagen wir ihnen mit allem Abscheu den Bann an. Auch das bekennen und glauben wir zu unserem Heil, daß in jedem Guten Werk nicht wir es sind, die beginnen und dann später durch die Barmherzigkeit Gottes unterstützt werden, sondern er selbst gießt uns ohne jedes vorhergehende Verdienst seinen Glauben und seine Liebe ein, damit wir die Taufgnade getreulich erstreben und nach der Taufe mit seiner Hilfe das, was ihm wohlgefällt, erfüllen können.“ Also: Es gibt eine echte Vorherbestimmung zum Heil, aber es gibt nur ein Vorauswissen, ein Vorherwissen Gottes zum Unheil.

Das Konzil von Trient spricht dasselbe aus mit dem Satz: „Wer behauptet, es liege nicht in der Gewalt des Menschen, seine Wege schlecht zu machen, sondern die schlechten sowohl wie die guten Werke wirke Gott, nicht nur, indem er sie zulasse, sondern im vollen und eigentlichen Sinne, so daß der Verrat des Judas nicht weniger sein eigenes Werk sei als die Berufung des Paulus, der sei ausgeschlossen.“

Es gibt eine echte Vorherbestimmung zum Heil. Die Heilige Schrift bezeugt uns diese Vorherbestimmung, wenn der Herr im Matthäusevangelium sagt, als ihn die Jünger bitten, er möge ihnen die Plätze zur Rechten und zur Linken zuteil werden lassen: „Das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu verleihen, sondern das gebührt denen, welchen es bereitet ist von meinem Vater.“ Von Ewigkeit her ist die Gemeinschaft mit Christus – und das ist ja gemeint mit Sitzen zur Rechten und zur Linken – denen bereitet, die Gott dazu auserwählt hat. Ebenso wird an einer anderen Stelle gelehrt, daß der König, also Gott, beim Gerichte sagt: „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt Besitz von dem Reich, das euch seit Grundlegung der Welt bereitet ist!“ Also von Anfang an hat Gott Menschen für seine Herrlichkeit im Reiche Gottes, d. h. für den Himmel, vorherbestimmt. Auch wenn vom Buche des Lebens die Rede ist, dann ist damit gemeint die Vorherbestimmung Gottes zum Heile. Einmal hat Jesus die Jünger ausgeschickt, um Kranke zu heilen und Dämonen zu vertreiben. Sie kommen jubelnd zurück, weil sie große Erfolge gehabt haben. Da erklärte ihnen der Herr: „Freut euch nicht darüber, daß euch die Geister untertan sind, freut euch vielmehr darüber, daß eure Namen im Himmel aufgezeichnet sind.“ Es wird also gleichsam ein Buch geführt, in dem die Namen derer stehen, die das Heil nach Gottes Willen und Vorherbestimmung erlangen sollen. Auch im Philipperbrief ist die Rede von diesem Buch des Lebens. Da sind nach der Meinung des Apostels diejenigen eingeschrieben, die mit ihm gearbeitet und gekämpft haben. Ihre Namen stehen in dem Buch des Lebens.

Es gibt eine Vorherbestimmung zum Heil. Diese Vorherbestimmung hat zwei Eigenschaften. Erstens: Sie ist ewig und unwandelbar. Gott hat von Ewigkeit her für jeden Menschen Verfügungen getroffen, die unbeirrbar ausgeführt werden. Er weiß und er bestimmt vorher, wer zur Seligkeit kommt, er weiß, welche Gnaden diesem Menschen zuteil werden werden und welche Bemühungen er in seinem Leben vollbringen wird, denn die Vorherbestimmung Gottes macht die Bemühungen des Menschen nicht überflüssig; die Bemühungen des Menschen sind in den Ratschluß Gottes einbezogen. Er weiß, wie der Mensch auf die Gnade, die ihm angeboten wird, reagieren wird, und er hat diese Reaktionen in seine Entscheidung, einem Menschen das Heil zu verleihen, einbezogen. Also Gottes Vorherbestimmung ist ewig und unwandelbar; sie nimmt nicht ab, und sie nimmt nicht zu, sie bleibt, was sie war, und sie führt die Erwählten zum Heile.

Aber zweitens: Es gibt kein sicheres Wissen, ob einer zum Heil berufen ist oder nicht. Es gibt keine unfehlbare Gewißheit, es gibt keine Glaubenssicherheit, ob einer für das Heil berufen ist oder nicht. Das war ja die tröstliche, aber falsche tröstliche Lehre von Luther, daß er behauptete: Im Glauben gewinnen wir die untrügliche Gewißheit, daß wir zum Heile berufen und auserwählt sind. Gegen diese falsche Sicherheit hat sich das Konzil von Trient deutlich ausgesprochen: „Niemand darf, solange er in diesem sterblichen Leben wandelt, so weit in das verborgene Geheimnis der göttlichen Vorherbestimmung eindringen wollen, daß er mit Sicherheit behaupten könnte, er sei in der Zahl der Vorherbestimmten.“ Daß er mit Sicherheit behaupten könnte, er sei in der Zahl der Vorherbestimmten. „Ohne besondere Offenbarung Gottes kann man nicht wissen, wen Gott sich erwählt hat.“ Das wird dann noch unterstrichen in zwei Lehrsätzen:

„Wer mit unbedingter und unfehlbarer Sicherheit behauptet, er werde sicher jenes große Geschenk der Beharrung bis zum Ende besitzen, ohne daß er es aus einer besonderen Offenbarung weiß, der sei ausgeschlossen.“

„Wer behauptet, der wiedergeborene und gerechtfertigte Mensch sei aufgrund des Glaubens gehalten, zu glauben, er sei sicher in der Zahl der Vorherbestimmten, der sei ausgeschlossen.“

Es bleibt eine nicht aufhebbare Unsicherheit. Gewiß, wir dürfen hoffen, wir sollen hoffen und wir müssen hoffen, daß wir zu der Zahl der Auserwählten gehören. Wir sollen auch alles tun, um in diese Zahl der Auserwählten aufgenommen zu werden. Der Apostel Petrus fordert uns auf, durch gute Werke unsere Berufung sicher zu machen, und der heilige Augustinus sagt: „Wenn du nicht gezogen wirst, so mache, daß du gezogen wirst!“ Wir haben es also in unserer Hand, ob wir das Heil gewinnen wollen oder nicht, wenn wir nämlich auf die Gnade Gottes eingehen. Aber noch einmal: Eine unfehlbare Gewißheit gibt es nicht; eine Glaubenssicherheit, daß wir zu der Zahl der Auserwählten gehören, ist uns nicht gewährt.

Diese Unsicherheit muß bleiben, denn die Sicherheit würde uns fahrlässig machen. Wenn wir es mit Glaubensgewißheit wüßten, daß wir das Heil erlangen werden, dann könnte einer sagen: Jetzt sündige ich drauflos, ich komme ja doch in die Seligkeit Gottes. Es muß diese Unsicherheit bleiben, damit der Mensch seine Bemühungen um das Heil nicht einstellt, damit er in seinem Ringen um das Heil nicht nachläßt.

Das Gemüt der Menschen wird von der Frage bewegt, ob es viele oder wenige sind, die in die Seligkeit des Himmels eingehen. Sind es Tausende, Millionen, die verlorengehen? Die Antworten der Theologen sind verschieden. In der Vergangenheit haben die meisten Theologen angenommen, daß es sehr viele sind, die verlorengehen. In der Gegenwart hat sich eine optimistischere Haltung breitgemacht. Ob sie vom Heiligen Geist bewirkt ist, wage ich zu bezweifeln. Die Offenbarung Gottes schweigt über die Zahl der Auserwählten. Sie sagt uns nicht, ob es viele oder wenige sind. Sie sagt uns nur, daß denen, die sich der Liebe Gottes widersetzen, das Unheil bereitet ist. Auch aus der Erfahrung können wir keinen Schluß ziehen, ob viele verlorengehen oder wenige. Große, sehr große Theologen, fromme, heilige Theologen meinten, es seien mehr, die verlorengehen als die gerettet werden. Ich wage keine Entscheidung zu treffen. Wir können nicht in das Innere des Menschen schauen; wir wissen nicht, ob seine Abkehr von Gott mit voller Freiheit und mit klarer Erkenntnis vollzogen wird, und wir wissen auch nicht, ob er reuelos in dieser Abkehr von Gott verharrt. Deswegen ist uns aus der Erfahrung kein Urteil möglich, ob ein Mensch verloren ist oder nicht. Abwegig scheint mir die Meinung zu sein, daß niemand verlorengehe. Ich halte diese Ansicht, die von manchen modernistischen Theologen vorgetragen wird, für unvereinbar mit dem Befund der Heiligen Schrift. Dort ist so oft von denen die Rede, die verlorengehen, daß man das nicht als leere Drohung abtun kann. Die modernistischen Theologen sagen nämlich: Ja, das wird eben gesagt, damit die Menschen sich zum Guten bewegen lassen und vom Bösen ablassen. Aber verloren geht niemand. Meine lieben Freunde, diese Argumentation ist brüchig, denn wenn man das einmal durchschaut, daß man auch bei größten Sünden nicht verlorengeht, dann wird man eben keine Bemühung um das Gute mehr anstellen, dann erkennt man die Drohung als leer, und dann ist sie keine Drohung mehr. Eine Möglichkeit, die niemals verwirklicht wird, ist keine reale Möglichkeit.

Deswegen müssen wir dem Wort der Offenbarung treu bleiben, müssen uns das furchtbare Wort vor Augen führen: „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“ Wir müssen danach trachten, daß wir in das Reich Gottes eingehen, daß wir die enge Pforte durchschreiten, daß wir den steilen Weg betreten, der zum Leben führt.

Amen.

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