Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Juli 2000

Die Unanschaulichkeit des Gnadenstandes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orleans, vor ihren ungerechten Richtern stand, da fragte sie einer von ihnen: „Bist du im Gnadenstande?“ Darauf gab Jeanne d’Arc zur Antwort: „Ich hoffe, daß ich im Gnadenstande bin und daß Gott mich darin erhalten möge. Aber wenn ich nicht darin bin, bitte ich ihn, mich in den Gnadenstand zu versetzen.“ Aus diesen Worten des heiligen Mädchens spricht eine göttliche Weisheit. Mit diesen wenigen Worten hat sie etwas ausgedrückt, was uns heute an diesem Tage beschäftigen wird, nämlich eine Eigenschaft des Gnadenstandes, die wir als seine Unanschaulichkeit bezeichnen. Der Gnadenstand ist verborgen. Wir können ihn weder mit den Sinnen des Leibes noch mit den Augen des Geistes ergreifen. Er kann nicht wahrgenommen werden, er kann nicht gemessen, er kann nicht gezählt und auch nicht gewogen werden. Die Verborgenheit, die Unanschaulichkeit ist eine wesentliche Eigenschaft des Gnadenstandes. Deswegen gibt es auch keine letzte, auf Glaubensüberzeugung gründende Sicherheit, daß jemand im Stande der Gnade ist, und eben dies hat Jeanne d’Arc ausgedrückt. Wenn sie im Gnadenstande ist, dann möge Gott sie erhalten; wenn nicht, möge er sie in den Gnadenstand versetzen.

Ganz anders – und falsch – die sogenannten Reformatoren des 16. Jahrhunderts. Sie meinten, es gäbe eine untrügliche Sicherheit und Gewißheit über den Gnadenstand. Im Vertrauensglauben ergreift der Mensch die Rechtfertigung, Gott deckt seine Sünde zu und behandelt ihn als einen Gerechten. Im Vertrauensglauben hat der Mensch nicht nur die Rechtfertigung, sondern auch die Gewißheit der Rechtfertigung, und ohne den Vertrauensglauben, ohne die Gewißheit ist er auch nicht gerechtfertigt.

Gegen diese Lehre Luthers hat das Konzil von Trient die katholische Lehre lichtvoll an den Tag gebracht, indem es folgendes erklärte: „Wer behauptet, es sei für jeden Menschen zur Nachlassung der Sünden notwendig, daß er sicher und ohne alles Zaudern wegen seiner Schwäche und mangelnden Bereitung glaube, seine Sünden seien ihm nachgelassen, der sei ausgeschlossen. Wer behauptet, der Mensch werde dadurch von seinen Sünden befreit und gerechtfertigt, daß er sicher an seine Befreiung und Rechtfertigung glaube, oder niemand sei wirklich gerechtfertigt, wenn er nicht glaubt, er sei gerechtfertigt, und durch diesen Glauben allein komme Befreiung und Rechtfertigung vollkommen zustande, der sei ausgeschlossen. Wer behauptet, der wiedergeborene und gerechtfertigte Mensch sei aufgrund des Glaubens gehalten zu glauben, er sei sicher in der Zahl der Vorherbestimmten, der sei ausgeschlossen.“ Es sind drei Irrtümer, die das Konzil von Trient hier zurückgewiesen hat, 1. der bloße Vertrauensglaube bewirke die Rechtfertigung, 2. der Mensch müsse an seine persönliche Rechtfertigung glauben wie an eine Glaubenswahrheit, 3. ohne den Vertrauensglauben und die dadurch zustande gekommene Gewißheit sei niemand gerechtfertigt. In diesem Vertrauensglauben aber habe er die Gewißheit, die untrügliche Gewißheit, gerechtfertigt zu sein.

Ohne eine besondere Offenbarung ist es nach katholischer Lehre unmöglich, zu wissen, daß man im Gnadenstande ist. Solche Offenbarungen sind einigen, im Neuen Testament erwähnten Personen zuteil geworden. Der Gichtbrüchige erhielt eine solche Offenbarung, als Jesus ihm sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Die Sünderin, die zu ihm kam, als er beim Gastmahl war, hörte ebenfalls das tröstliche Wort: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Weil sie viel geliebt hat, deswegen ist ihr auch viel vergeben. Auch sie konnte gewiß sein – mit Glaubensgewißheit –, daß sie gerechtfertigt sei. Und schließlich der Schächer am Kreuze, den seine Reue getrieben hat, durfte das tröstliche Wort hören: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Im Paradiese kann niemand sein, der nicht gerechtfertigt ist. Eine solche Offenbarung ergeht aber nicht an jeden Menschen. Man kann nicht sagen: Im Evangelium steht doch: „Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet werden.“ Das ist keine persönliche Zusicherung des Gnadenstandes, sondern das ist eine allgemeine Erklärung, welche Bedingungen notwendig sind, um ins Leben einzugehen. Aber ob die Bedingungen im Einzelfalle erfüllt sind, das ist mit diesem Satz nicht ausgesagt. Noch einmal: Es gibt keine Glaubenssicherheit, daß jemand im Rechtfertigungs-, im Gnadenstande sich befindet.

Wir unterscheiden je nach dem Gegenstand eine dreifache Gewißheit. Für die obersten Denkgesetze gibt es eine metaphysische Gewißheit, also z. B. der Satz: A kann nicht gleichzeitig B sein. Das ist ein Satz, der mit metaphysischer Sicherheit uns gewiß ist. Eine andere Gewißheit ist diejenige, die wir die physische Gewißheit nennen. Sie leitet sich von den Naturgesetzen her. Die können wir konstatieren durch Messen und Wägen. Diese beiden Gewißheiten kommen nicht für die Gewißheit des Glaubens in Frage. Für die Glaubensgewißheit kommt nur die sogenannte moralische Gewißheit in Frage. Was ist eine moralische Gewißheit? Eine moralische Gewißheit besteht darin, daß man sich auf das Wort eines zuverlässigen Freundes verläßt. Diese Gewißheit gründet sich auf Zuverlässigkeit und Treue, die in der Freundschaft und in der Liebe ihre Stätte haben. Das Konzil von Trient wollte ja nicht, indem es die Glaubensgewißheit der Reformatoren verwarf, jede Gewißheit verbannen, sondern es wollte nur an die Stelle der falschen Gewißheit die richtige Gewißheit setzen, und die richtige Gewißheit ist eben die, die wir als moralische Gewißheit bezeichnen. Der Mensch kann in seiner Liebe und in seinem Vertrauen und in der Zuversicht auf Gottes Wort und Verheißung des Gnadenstandes gewiß sein. Er kann sich darauf verlassen. Das Konzil von Trient wollte dem Vertrauen auf Gott keine Schranken setzen, es wollte der Zuversicht auf Gott keine Grenze bestimmen. Wir können Gott nicht mehr beleidigen, als wenn wir ihm nicht vertrauen, und wir können ihn nicht mehr kränken, als wenn wir seiner Macht und seiner Liebe eine Schranke setzen. Deswegen ist im Neuen Testament sowohl von der Ungewißheit des Gnadenstandes als auch von der Gewißheit die Rede. Beides muß gesehen werden. Wer nur eine Seite beachtet, der verkennt die Dialektik des Gnadenstandes.

Der Apostel Paulus hat an mehreren Stellen die Ungewißheit des Gnadenstandes deutlich hervorgehoben, etwa wenn er an die Korinther schreibt: „Mir liegt gar wenig daran, daß ich von euch gerichtet werde oder überhaupt von einem menschlichen Gerichte. Doch auch nicht einmal über mich selbst fälle ich ein Urteil. Ich bin mir zwar nichts bewußt, doch deswegen noch nicht gerechtfertigt. Der mich richtet, ist der Herr. So richtet denn nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt. Er wird auch das im Finsteren Verborgene ans Licht bringen und die Gesinnungen der Herzen offenbar machen. Dann wird jeder von Gott sein Lob erhalten.“ An einer anderen Stelle im selben Briefe erklärt er: „Ich laufe, aber nicht wie ins Blaue hinein; ich kämpfe, aber nicht wie einer, der Luftstreiche tut, vielmehr züchtige ich meinen Leib und mache ihn mir untertan, um nicht, während ich anderen Herold war, selber dazustehen wie einer, der die Prüfung nicht bestand.“ Und noch eine letzte Stelle aus dem Philipperbriefe bezeugt diese Ungewißheit: „Darum, meine Lieben, die ihr allezeit gehorsam gewesen seid, wirket nicht bloß in meiner Anwesenheit, sondern noch weit mehr in meiner Abwesenheit, euer Heil mit Furcht und Zittern!“ Furcht und Zittern eben deswegen, weil man letztlich nicht gewiß ist, daß man das Heil erlangen wird.

Das sind Stellen, die von der Ungewißheit des Heiles sprechen. Aber selbstverständlich gibt es auch viele Stellen und Texte im Neuen Testament, die uns des Heiles gewiß machen, etwa die klassische Stelle im Markusevangelium, wo es heißt: „Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet werden.“ Das ist eine ganz einfache und dem schlichten Gemüt eingängige Aussage. Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet werden. Das sind die Bedingungen. Freilich, ob wir sie im einzelnen erfüllen, das ist eine andere Frage. Aber wir wissen jedenfalls, was uns zum Heile führt, nämlich glauben im umfassenden Sinne und sich taufen lassen, also sich Christus eingliedern lassen, das ist es, was zum Heile führt. Der Apostel Paulus, der ja eben mit mehreren Stellen für die Ungewißheit des Gnadenstandes angeführt wurde, hat aber auch die Heilsgewißheit deutlich ausgesprochen, indem er im Römerbrief schreibt: „Wer wird uns trennen von der Liebe Christi? Wer wird uns verdammen? Christus Jesus? Nein, er ist gestorben, er ist auch wiedererstanden, er sitzt zur Rechten Gottes und legt Fürsprache für uns ein. Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Es steht ja geschrieben: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag, werden geachtet wie Schlachtschafe. Aber in all dem überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben noch Engel noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Mächte noch Höhe noch Tiefe noch irgendein Geschöpf vermag uns zu trennen von der Liebe Gottes, welche ist in Christus Jesus, unserem Herrn.“ Das ist wie ein Triumphlied, nämlich ein Triumphlied auf die Gewißheit des Heiles, das denen geschenkt ist, die in Christus Jesus sind. Deswegen ist der ganze Gesamtton des Neuen Tetsmantes nicht auf Furcht vor der Hölle gestimmt, sondern auf Freude und Friede, Freude an dem jetzt schon geschenkten Heil und Friede durch die Gemeinschaft mit Jesus Christus.

Freude und Friede sind grundlegende Begriffe im neuen Testament. Ich will Ihnen einige dieser Stellen, die uns auch freudig und friedvoll machen sollen, vortragen. Johannes etwa schreibt in seinem Evangelium: „Das habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Jetzt komme ich zu dir (Christus spricht zu seinem Vater) und spreche dies in der Welt, damit sie meine Freude vollkommen in sich haben.“ Im ersten Johannesbrief ist noch einmal ausführlich von dieser Freude die Rede: „Wir haben das Leben gesehen und gehört. Das tun wir euch kund, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns und wir so Gemeinschaft haben mit dem Vater und mit Jesus Christus, seinem Sohn. Wir schreiben euch dies, damit ihr euch freuet und unsere Freude vollkommen sei.“ Diese Freude spricht auch der Apostel Paulus an vielen Stellen seiner Briefe aus, etwa, wenn er an die Philipper die Aufforderung richtet: „Übrigens, meine Brüder, freuet euch im Herrn!“ Und wenig weiter unten fordert er nochmals auf zur Freude: „Abermals sage ich: Freuet euch!“ Diese Freude geht auch in Drangsalen nicht unter. Als die Apostel vor das Gericht geführt wurden und von dem Gericht verurteilt wurden, da gingen sie „freudig“ vom Hohen Rat davon, weil sie gewürdigt worden waren, für den Namen Jesu Schmach zu leiden. Ein anderes Wort, das uns zuversichtlich macht, ist das vom Frieden. Wiederum hat Johannes das Wort vom Frieden oft für uns aufbewahrt: „Frieden hinterlasse ich euch“, sagt der Herr. „Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.“ An einer anderen Stelle: „Das habe ich euch gesagt, auf daß ihr Frieden in mir habt. In der Welt habt ihr Drangsal, doch seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Und der Apostel Paulus stimmt in diesen Ruf vom Frieden ein. Er schreibt im Brief an die Philipper: „Der Friede Gottes, der jeden Begriff übersteigt, behüte eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus.“

Friede und Freude sind Hauptworte des Neuen Testamentes, in denen wir unseres Heiles gewiß sein können. Es gibt auch objektive Merkmale, die uns des Gnadenstandes gewiß machen können. Etwa, wenn ein Mensch ergeben ist in Gottes Willen, wenn er Furcht hat, in Sünde zu fallen, wenn er opferbereite Liebe zeigt, dann würfen wir das als Zeichen des Gnadenstandes ansehen. Ergebenheit in Gottes Willen, opferbereite Liebe und Furcht vor der Sünde sind Kennzeichen des Gnadenstandes. Freilich noch einmal: Es ist nichts zurückzunehmen von dem, was am Anfang gesagt wurde: Eine mit Glaubensüberzeugung verbundene Gewißheit gibt es in diesem Pilgerstande nicht. Es muß eine letzte Ungewißheit bleiben aus mehreren Gründen; einmal: Gott will jedem Pharisäismus wehren. Wenn jemand sich mit untrüglicher Glaubensgewißheit gewiß wäre, im Gnadenstande zu sein, dann könnte er sich dessen brüsten. Er könnte sich so verhalten wie der Pharisäer im Tempel: Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die anderen. Er ist der einzige Gerechte, und die anderen sind alle Sünder. Er hatte diese an Hybris, an Vermessenheit grenzende Überzeugung von seinem Gnadenstande. Das will Gott nicht, und deswegen muß eine letzte Ungewißheit bleiben. Wir sollen uns in der Demut bewähren, die eben auf die Barmherzigkeit Gottes hofft und baut. Ein zweiter Grund liegt darin, daß wir gerade durch die Ungewißheit gehalten sind, uns ständig neu um die Liebe Gottes zu bemühen. Wir haben eben den Gnadenstand nicht wie ein Möbelstück, das wir in unserer Wohnung vorfinden, sondern wir müssen uns ständig bemühen, daß wir im Gnadenstand sind und bleiben, daß wir in der Gnade verharren, daß wir das große Gut der Beharrlichkeit im Guten gewinnen. Dazu ist es notwendig, sich ständig um die Liebe Gottes zu bemühen. Je mehr wir in der Liebe zu Gott und im Vertrauen auf Gott wachsen, um so gewisser werden wir auch der Liebe und des Vertrauens, die Gott uns entgegenbringt.

Das christliche Leben vollzieht sich so in der Spannung, in der Spannung zwischen Gewißheit und Ungewißheit, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Furcht und Liebe. Die Furcht bewahrt uns vor Selbstsicherheit, Sorglosigkeit und Zudringlichkeit; die Liebe bewahrt uns vor Mutlosigkeit und Verzweiflung. Halten wir uns an das, was der Apostel uns sagte: „Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle!“

Amen.

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