14. Mai 2000
Die Gnade der Gotteskindschaft
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag hatten wir gesehen, daß diejenigen, die gerechtfertigt sind, zu Freunden Gottes gemacht werden. Die Gerechtfertigten sind Freunde Gottes. Die Offenbarung von der Gottesfreundschaft bedarf jedoch der Ergänzung, denn man darf sich das Gegenüber von Gott und Mensch nicht so vorstellen wie die Gegenüberstellung von zwei Gleichen. Gott ist der Schöpfer, der Mensch ist das Geschöpf; Gott ist der Begnadiger, der Mensch ist der Begnadete; Gott ist der Schenker, der Mensch ist der Beschenkte. Darum bedarf die Offenbarung von der Gottesfreundschaft der Ergänzung durch die andere von der Gotteskindschaft. Der Gerechtfertigte ist Freund Gottes, aber er ist gleichzeitig Kind Gottes. Gottesfreundschaft und Gotteskindschaft stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, sie ergänzen sich.
Das Konzil von Trient, das sich ja lichtvoll über die Rechtfertigung ausgesprochen hat, lehrt auch die Gotteskindschaft der Gerechtfertigten. „Die Rechtfertigung ist die Überführung aus dem Stand, in dem der Mensch als Sohn des ersten Adam geboren wird, in den Stand der Gnade und der Annahme zum Gotteskind durch den zweiten Adam Jesus Christus, unseren Heiland.“ An einer anderen Stelle: „Der himmlische Vater sandte Christus, seinen Sohn, zu den Menschen, damit er die Juden loskaufe, damit auch die Heiden die Gerechtigkeit erlangten und alle als Söhne angenommen würden.“ Die Lehre von der Gotteskindschaft ist von den Menschen erträumt und ersehnt worden. Der Mythos, also diese selbstgemachte Religion der Menschen, die aus der Erde emporsteigt, erwartet die Rettung von einem Kind. Das ist verständlich; denn im alten Menschen deutet sich ja die Vergänglichkeit und das Ende an, im Kind dagegen symbolisiert sich die Jugendfrische, und deswegen hat der Mythos vom Gotteskind geträumt. Was der Mythos erahnt und ersehnt hat, das ist in Erfüllung gegangen in der Offenbarung. In den drei Verheißungen, die Abraham zuteil wurden, ist die Rede von dem Gotteskind, das aus seinem Volke hervorgehen wird; und es ist wohl auch kein Zufall, daß dieses Gotteskind, als es erschienen war, in jungen Jahren gestorben ist. In der Fülle seiner Jahre hat der Herr den Tod erlitten und ist in die glänzende Auferstehung eingegangen. Daran gewinnen alle Anteil, die zu Gotteskindern gemacht werden. Sie gewinnen Anteil an der Auferstehungsherrlichkeit Christi, an seiner unvergänglichen Jugend, ja, an der Jugend Gottes, die in Christus mächtig geworden ist.
Die Heilige Schrift redet oft von der Gotteskindschaft, und zwar in doppelter Weise. Einmal versichert sie uns, daß wir Gottes Kinder sind, zum anderen fordert sie uns auf, als Gotteskinder zu leben. Wir haben die Versicherung vom Zustand der Gotteskindschaft, aber wir hören auch die Aufforderung, der Gotteskindschaft würdig zu wandeln. Vor allem der Apostel Paulus hat oft von der Gotteskindschaft gesprochen. Im Römerbrief erklärt er: „Der Vergänglichkeit ist die Schöpfung unterworfen, nicht freiwillig, sondern um dessentwillen, der sie unterworfen hat, in der Hoffnung, daß auch die Schöpfung selbst befreit wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ Zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes! An einer anderen Stelle, nämlich im ersten Brief an die Korinther, schreibt der Apostel: „Das Geistige und das Sinnliche sind einander entgegengesetzt. Der erste Mensch (Adam) ist aus der Erde, ist Staub, der zweite Mensch (Christus) ist vom Himmel, ist himmlisch. Wie der Irdische, so auch die Irdischen, und wie der Himmlische, so auch die Himmlischen. Wie wir da das Bild des Irdischen getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen.“ Das heißt, wir werden eben Christus ähnlich gemacht. Im Brief an die Galater heißt es: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft wurdet, habt Christus angezogen. Da ist nicht mehr Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Frau, ihr alle seid ja einer in Christus Jesus. Wenn ihr Christi Eigentum seid, so seid ihr auch Abrahams Nachkommen, Erben aufgrund der Verheißung.“ Und schließlich noch eine letzte Stelle aus dem Briefe an die Epheser: „In Liebe hat er uns vorherbestimmt, daß wir in ein Kindesverhältnis zu ihm treten sollten durch Jesus Christus nach seinem gnädigen Willensentschluß zum Preis seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadigt hat, in dem Geliebten.“
Diese Gotteskindschaft wird den Menschen zuteil durch den Heiligen Geist. Indem der Gerechtfertigte den Geist Christi, den Heiligen Geist, empfängt, wird er zur Sohnschaft erhoben. Der Heilige Geist bewirkt die Sohnschaft. So heißt es im Römerbrief: „Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. Ihr habt ja nicht wieder empfangen den Geist der Knechtschaft, damit ihr euch fürchten müßtet, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: ,Abba, lieber Vater‘.“ Ähnlich heißt es auch im Briefe an die Galater, daß wir durch den Geist, den Christus in uns ausgegossen hat, zu Kindern Gottes gemacht sind. „Als die Fülle der Zeit gekommen, sandte Gott seinen Sohn, der aus dem Weibe geboren und dem Gesetz unterworfen war. Er sollte die unter dem Gesetz Stehenden erlösen, damit wir die Annahme an Kindes Statt empfingen. Weil ihr ja nun Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: ,Abba, lieber Vater‘.“ Also die Geistesgemeinschaft bringt uns in die Sohnesgemeinschaft, bringt uns in die Brudergemeinschaft mit Christus.
In ähnlicher Weise schildert der Apostel Johannes die Gotteskindschaft. Sie ist in der Geburt aus Gott begründet. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: „Das wahre Licht kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ Also Kind Gottes wird man nicht durch ethische Anstrengung, auch nicht durch ein kosmisches Geschehen, sondern Kind Gottes wird man dadurch, daß Gott uns Anteil gibt an der Sohneseigenschaft des Eingeborenen vom Vater. Christus ist ja der neue Mensch. Durch seine Auferstehung hat er die Neuheit des Lebens gewonnen. Er ist der Erstgeborene der Schöpfung, der Erstgeborene unter vielen Brüdern, der Erstgeborene von den Toten. Er ist der Erbe, denn der Vater hat ihn zum Erben eingesetzt und das ganze Erbe ihm übergeben. An diesem Christus gewinnen wir durch die Rechtfertigung, also durch die Gemeinschaft in der heiligmachenden Gnade, Anteil. Auch wir werden neue Menschen; wir werden angenommene Söhne des eingeborenen Sohnes Jesus Christus.
So schildert es Johannes auch in seinem ersten Briefe, wenn er sagt: „Jetzt sind wir Kinder Gottes, und was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen aber, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er erscheint.“ Hier nimmt er nichts zurück von der Offenbarung der Gotteskindschaft, aber er weist darauf hin, daß sie noch in einem vorläufigen Zustand ist. Erst bei der Erscheinung, beim zweiten Kommen Jesu, wenn wir verwandelt werden in der Auferstehung, erst dann werden wir die Fülle der Gotteskindschaft erlangen. Deswegen sagt er: „Wir wissen aber, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn wir erscheinen. Denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Die Gotteskindschaft ergreift auch den Leib, und auch das ist ein eschatologisches, also ein auf das Ende der Zeit bezogenes Ereignis. „Unsere Heimstätte ist im Himmel, woher wir auch den Heiland erwarten. Er wird unseren armseligen Leib umgestalten und ihn ähnlich machen seinem verklärten Leibe durch die Kraft, mit der er sich auch alles unterwerfen kann.“ Die Gotteskindschaft ergreift also auch den Leib. Auch das wird von Paulus gelehrt. „Denn der Vergänglichkeit ist die Schöpfung unterworfen, auf Hoffnung. Sie wird einmal befreit werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit Gottes. Wir wissen ja, daß die Schöpfung in Wehen liegt. Aber nicht nur sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe besitzen, seufzen in unserem Inneren und erwarten, daß wir zu Kindern Gottes angenommen werden und unser Leib erlöst werde. Durch Hoffnung sind wir ja gerettet.“ Wir haben die Gotteskindschaft, aber wir haben sie wie ein Angeld, wie ein Handgeld, wie eine Gabe, die auf größere Schätze ein Anrecht verleiht. Und genau das ist die eschatologische Seite der Gotteskindschaft. Wir sind jetzt Gottes Kinder durch die Rechtfertigung, wir werden es in vollkommener Weise sein in der Seinsweise des Himmels. Wir haben eine neue Existenzweise, aber sie ist noch nicht vollendet. Sie wird erst vollendet sein, wenn der Leib in sie hineingenommen werden wird.
Ich sagte am Anfang: Wir werden versichert, daß wir Gotteskinder sind; aber wir werden auch aufgefordert, als Gotteskinder zu leben. Und das ist ja nun schon eine Verkündigung des Herrn selber. Wenn er im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums sagt: „In jener Stunde traten die Jünger zu Jesus und fragten: ,Wer ist wohl der Größte im Himmelreich?‘ Da rief Jesus ein Kind herbei, stellte es mitten unter sie und sprach: ,Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr euch nicht bekehret und werdet wie Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Wer sich also verdemütigt wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.‘“ Aus diesen Worten ergibt sich, was der Vergleich mit dem Kind besagen soll. Es ist nicht abgestellt auf die Unreife des Kindes; dieser Gedanke scheidet aus. Nein, es ist abgestellt auf das Vertrauen des Kindes. Das Kind ist arglos; das Kind hat kein Mißtrauen; das Kind vertraut den Erwachsenen, vertraut den Eltern. Es ist offen, und es ist frei von jeder Berechnung. Es kennt keinen Stolz und keine Anmaßung, keine Selbstherrlichkeit. Das Kind ist demütig, weil es weiß, daß es angewiesen ist auf andere. Das ist also die Kindesgesinnung, die der Herr von uns erwartet: daß wir ihm vertrauen, daß wir uns ihm übergeben, daß wir ohne Zweckberechnung sind, daß wir selbstlos und selbstvergessen für ihn arbeiten. Das Kind und die Mündigkeit schließen sich nicht aus, denn der Herr sagt, daß wir eben durch die Begnadigung mündig geworden sind. Wir sind nicht mehr Unmündige, die unter Vormündern stehen, nein, wir sind Mündige, d. h. wir haben Selbständigkeit und Verantwortung in der Arbeit für das Reich Gottes. Aber in dieser Mündigkeit sind wir nicht anmaßend, sondern demütig und vertrauend.
Wir brauchen auch keine Befürchtung zu haben, daß die Gotteskindschaft uns irgendwie einengen könne. Im irdischen Leben beobachten wir öfters, daß ein Vater die Kinder einengt. Ja, es gibt sogar die Erscheinung, daß die Kinder sich bedrängt und bedroht fühlen vom Vater. Der Mythos hat solche Bedrängung und Gefährdung durch den Vater gestaltet. Die Bedrängung wächst sich dort so aus und spitzt sich so zu, daß der Sohn den Vater tötet. Das ist im Verhältnis des Gotteskindes zum Vater im Himmel nicht zu befürchten. Der Vater im Himmel engt das Gotteskind nicht ein, sondern führt es zur Freiheit. Er führt es zur Mündigkeit. Er will, daß es als eine freie Persönlichkeit dem Willen des Vaters nach lebt. In Erkennen und Wollen und in Liebe übergibt sich das Kind dem himmlischen Vater, und je besser es ihn erkennt und je mehr es ihn liebt, um so inniger wird es mit dem Vater vereinigt.
Es ist kein Zufall, meine lieben Freunde, wenn sich der Himmel häufig an Kinder wendet. Wir haben soeben, gestern, die Seligsprechung der Seherkinder von Fatima erlebt. Kinder, die es wirklich sind, die Kindessinn besitzen, die demütig, gläubig und vertrauend sind, werden von Gott als Partner gewählt, um ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Sie nehmen diese Botschaft entgegen, arglos und ohne Verfälschung, und überliefern sie so, wie sie sie empfangen haben. Das mag wohl der Grund sein, warum Gott sich Kinder für seine Botschaften auserwählt hat. Der Kindessinn ist auch die beste Voraussetzung für Religiosität. Wer ein religiöser, ein frommer, ein gläubiger Mensch sein will, der muß sich im Verhältnis zu Gott als Kind wissen. Er muß sein Angewiesensein auf Gott erkennen; er muß Vertrauen zu Gott haben; er muß willig und bereit sein, in Gottes Willen einzugehen und ihn in seinem Leben zu vollführen. Wer solche Gesinnung hat, der wird ein wahrhaft innerlicher, ein gotterfüllter, ein gläubiger und frommer Mensch.
Der heilige Cyprian hat einmal geschrieben: „Das ist der Gipfel des Adels, daß wir Gottes Kinder sind.“ Dieser Herkunft aus Gott müssen wir aber auch würdig werden. Wir müssen wandeln als Gottes Kinder. Unser Tun und unser Beten muß unsere Herkunft widerspiegeln.
„O Gott“, so betet die Kirche, „gib, daß wir den Geist der Kindschaft bewahren, indem wir deine Kinder heißen und sind.“
Amen.