21. März 1999
Das Weltgericht
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Nach der Auferstehung der Toten erfolgt das Weltgericht. Wenn der Herr wiederkommt, um die Toten aus den Gräbern zu rufen, dann müssen alle vor dem Thron des Richters erscheinen, um dort dem Weltgericht entgegenzusehen. „Er sitzet zur Rechten des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.“ So beten wir im Credo der heiligen Messe. Die zweite Ankunft des Herrn geschieht nicht in Niedrigkeit, sondern in Herrlichkeit. Der Herr wird vor dem Angesicht aller Menschen und aller Wesen erscheinen in unübersehbarer Kraft und Herrlichkeit. Alle müssen vor ihm erscheinen, Gute und Böse; auch die Guten werden beim Weltgericht vor dem Richter auftreten müssen. Aber das Gericht ist verschieden, das über die Guten und das über die Bösen ergeht. Den Guten wird bestätigt, daß sie in der Christusgemeinschaft leben; es wird ein Gericht des Heiles und der Rettung sein. Die Bösen erfahren die Bestätigung, daß sie fern von Christus leben; es ist ein Gericht der Verdammnis und der Verlorenheit.
Da das Urteil im Weltgericht unbekannt ist, wird der Christ ihm in einer doppelten Haltung entgegengehen. Einmal in der Haltung der Hoffnung. Er hofft, daß er mit Christus verbunden ist und daß diese Verbundenheit mit Christus ihm im Weltgericht die endgültige Rettung eintragen wird. Aber da er um seine Schuld weiß, ist er auch mit Sorge erfüllt, ob das Weltgericht ihm die Bestätigung der Christusgemeinschaft bringen wird. Und diese Sorge hat sich ergreifend ausgedrückt in der Sequenz, die wir in jeder Totenmesse beten:
„Welch ein Graus wird sein und Zagen,
wenn der Richter kommt mit Fragen,
streng zu prüfen alle Klagen.
Weh, was werd‘ ich Armer sagen,
welchen Anwalt mir erfragen,
wenn Gerechte selbst verzagen?
Seufzend steh‘ ich schuldbefangen,
schamrot blühen meine Wangen.
Laß mein Bitten Gnad‘ erlangen.
Hast der Sünderin verziehen
und dem Schächer Gnad‘ verliehen,
sieh auch mich vertrauend knien!“
Das Weltgericht ist eine Tatsache. Es hebt die Einzelgerichte, die ja nach dem Tode des Menschen sofort erfolgen, nicht auf. Die Einzelgerichte werden nicht etwa korrigiert, sie werden bestätigt. Die Einzelgerichte, die den Menschen treffen, wenn er stirbt, sind unabänderlich, aber beim Weltgericht werden sie vor aller Welt bestätigt und vor allen Menschen publiziert.
Die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Vorgeschichte des Weltgerichtes. Sie hub an, als die ersten Menschen aus dem Paradiese vertrieben wurden und ein Engel mit dem Flammenschwert den Zugang zu dem Garten Eden bewachte. Die Gerichte haben sich fortgesetzt in den Erschütterungen, die über die Menschen gekommen sind in der Sintflut, in den vielen Katastrophen, die über Völker und Reiche hereingebrochen sind. Die Vorgeschichte des Weltgerichts hat ihren Höhepunkt erreicht im Erscheinen Christi. Er ist ja gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler. In ihm wird das Weltgericht vorbereitet. Wie die Menschen sich zu ihm stellen, so werden sie ins Weltgericht eingehen. Die einen, die sich zu ihm bekehren, werden vom Fluch der Sünde frei, die anderen, die ihn ablehnen, verbleiben im Fluch der Sünde. Wegen der Ablehnung des Herrn brachen nach seiner ersten Ankunft immer wieder Gerichte über die Menschheit herein. Es gibt verschiedene Stufen der Vorgeschichte des Weltgerichtes, es gibt verschiedene Phasen dieser Vorgeschichte. In den Feuerbränden, die vom Himmel fallen und Menschen und Tiere und Häuser verzehren, in den Fluten, welche Felder und Wälder überschwemmen, in dem Eisenhagel, in dem Völker und Heere zugrunde gehen, hält Gott Gericht über die Menschheit, die seiner spottet. Die Gerichte, die dem endgültigen Gericht vorangehen, dienen dazu, die Herrlichkeit Gottes zu erweisen und den Menschen zur Buße zu bewegen. Sie erweisen die Herrlichkeit Gottes, weil sie zeigen: Gott läßt seiner nicht spotten. Er ist kein Hampelmann. Sie rufen den Menschen zur Bekehrung, indem sie ihm Zeit geben. Der Mensch soll in sich gehen und von seinem bösen Tun ablassen. Aber die Menschen hören nicht auf die Sprache dieser Gerichte, sondern sie sündigen weiter. Mit einem Fluch auf den Lippen scheiden sie von dieser Welt, die sich durch ein Segenswort und einen Flehruf hätten retten können.
Die Vorläufer des Weltgerichtes sind uns von den Aposteln geoffenbart worden. Die Apostel weisen darauf hin, daß die vorläufigen Gerichte auf das letzte Gericht hinweisen. Petrus predigt, daß Christus gesetzt ist als Richter der Lebenden und der Toten, und Paulus erklärt auf dem Areopag in Athen, daß Gott einen Tag gesetzt hat, in dem er die Welt richten wird. Der Richter beim Weltgericht wird Gott, wird Christus sein. Es gibt hier zwei Reihen von Aussagen. In der einen Reihe wird Gott als der Richter beschrieben, also der Vater, in der anderen Reihe Christus, der Sohn. Das könnte als ein Widerspruch erscheinen, aber es ist kein Widerspruch; denn Gott hat das ganze Gericht Christus übergeben. Wenn Christus richtet, dann richtet durch ihn der Vater im Himmel. Gott spricht das letzte Wort, aber er spricht es durch Christus. Auf Erden haben die Menschen mit ihren lärmenden Worten oft das Wort Gottes zu übertönen versucht, und Gott hat geschwiegen. Aber beim Weltgericht spricht er allein, und alle anderen müssen zuhören.
Wenn das Weltgericht eintritt, flieht die Welt vor dem Menschen. Sie ist der Vergänglichkeit unterworfen um des Menschen willen, und jetzt, wo der Mensch verwandelt wird, ist sie nicht mehr der geeignete Platz für den Menschen. Die Verwandelten, Verklärten können die Erde nicht mehr als ihr Wohnstätte ansehen, und für die verunstalteten und ungeformten Verdammten ist sie ebenfalls nicht mehr der rechte Platz. Die Erde vermag ihnen nicht mehr Stätte der Zuflucht, der Ruhe, der Geborgenheit und des Friedens zu sein. Der Apokalyptiker Johannes sieht im unendlichen Raum nur einen Thron, und auf dem sitzt der Richter, und vor ihm muß sich die ganze Menschheit versammeln. Das Auge Gottes, das Auge des göttlichen Richters durchdringt einen jeden Menschen durch alle Schichten und alle Phasen seines Lebens. Nichts, was geschehen ist, bleibt ungeschaut, nichts wird vergessen, nichts wird übergangen. Beim Weltgericht wird alles Gute und alles Böse, das wir je getan haben, vor den Augen der Menschen offenbar werden. Auch die Geretteten werden mit ihren Sünden im Weltgericht offenbar werden. Aber die Menschen werden erkennen, daß sie trotz dieser Sünden und trotz der Verlorenheit, in der sie sich befunden haben, gerettet worden sind, weil sie sich rechtzeitig bekehrt haben. So wird der Anblick der Sünden der Geretteten ein Anlaß zum Preis der Barmherzigkeit und der Fügungen Gottes werden.
Die Norm des göttlichen Gerichtes ist Christus. Eine Person ist der Maßstab des Gerichtes. Wie ein jeder sich zu Christus, dem geschichtlichen oder dem verherrlichten Christus, gestellt hat, so wird er sein Urteil vernehmen. Die Liebe zu Christus verwirklicht sich in der Liebe zum Nächsten. Christus ist ja das Urbild des Guten, und wer sich zu ihm bekennt, der kann nicht anders als Gutes tun, Gutes auch dem Bruder und der Schwester, und deswegen ist, wenn Christus der Maßstab des Gerichtes ist, das Gute, das wir getan haben oder das Böse, das wir getan haben, der Maßstab des Gerichtes. Deswegen sagt der Herr bei seiner großen Gerichtsrede: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Er ist das Urbild des Menschen, er setzt sich mit einem jeden gleich, und wie der Mensch sich zu seinem menschlichen Bruder, zu seiner menschlichen Schwester verhalten hat, so hat er sich gegenüber Christus verhalten.
Bei diesem Gericht wird es eine Revision vieler irdischer Urteile geben. Was auf Erden groß schien und gelobt wurde, das kann beim Weltgericht als winzig und erbärmlich erscheinen und verurteilt werden müssen. Es setzt bei diesem Gericht auch die große Scheidung ein. Die Bösen werden von den Guten gesondert. Der Herr spricht davon, daß die Schafe auf die rechte Seite und die Böcke auf die linke Seite gestellt werden. Unter diesem Bild ist die große Scheidung angedeutet. Da kann es sein, daß in einer Familie der eine auf die rechte Seite und der andere auf die linke Seite gestellt wird, je nachdem, wie er sich zu Christus, der menschgewordenen Liebe, gestellt hat.
Wir wissen nicht den Tag des Gerichtes, aber wir brauchen ihn auch nicht zu wissen. Es kommt wenig darauf an, sagt der heilige Augustinus, ob wir wissen, wann das Gericht eintritt oder ob wir es nicht wissen. „Tue, was du tun würdest, wenn es morgen wäre, und dann kannst du ohne Furcht ihm entgegengehen.“ Ja, so ist es. Tue, was du tun würdest, wenn es morgen wäre, und dann kannst du in Ruhe dem Gericht entgegensehen.
Die Engel und die Heiligen werden am Gericht beteiligt werden. Nachdem sie selbst gerichtet sind, ruft sie der Richter – um es bildlich auszudrücken – zu sich, und sie nehmen am Gerichte teil. Sie werden mit dem Heiligkeitsstreben, das sie bewiesen haben, ein Gericht sein für die anderen, die lässig und bequem, die nachlässig und gottvergessen dahingelebt haben.
Eine schwierige Frage erhebt sich, welches der Gegenstand, welches der eigentümliche Gegenstand des Weltgerichtes ist. Denn alle Worte, Taten, Handlungen und Unterlassungen werden ja schon im Einzelgericht gerichtet. Bleibt dann dem Weltgericht ein eigentümlicher Gegenstand? O ja. Man muß nämlich bei den menschlichen Handlungen unterscheiden den Willen und den Wert. Der Wille ist etwas Subjektives im Menschen. Was hat er gewollt? Welche Motive hat er gehabt? Aus welchen Antrieben hat er gehandelt? Und das wird berücksichtigt, vor allem berücksichtigt beim Einzelgericht nach dem Tode. Aber der objektive Wert, das, was die Handlungen für das Gesamt bedeutet haben, welche Ordnung sie gestiftet haben oder welche Unordnung sie angerichtet haben, ob sie zum Aufbau des Reiches Gottes beigetragen haben oder nicht, das ist der Gegenstand, der in besonderer Weise beim Weltgericht dem Urteil des Richters untersteht. Die objektive Richtigkeit oder Verkehrtheit, der objektive Sinn oder die objektive Sinnlosigkeit eines Geschehens oder eines Tuns, das ist es, was beim Letzten Gericht gerichtet werden wird.
Es werden dann auch die Werke des Menschen insgesamt dem Richter unterbreitet werden. Also es wird sich zeigen, was Kunst, Wissenschaft und Theologie bedeutet hat. Es wird sich zeigen, welche Auswirkungen bestimmte Errungenschaften der Technik hatten. Es wird geprüft werden, wie die Industrie und die Politik sich bewährt oder nicht bewährt haben. Es werden die Entscheidungen der Staatsmänner und der Parlamente gewogen werden. Es wird nachgeprüft werden, ob Kriege notwendig waren oder nicht, ob Friedensschlüsse gerecht waren oder nicht. Es wird auch die Kirche als Ganzes beurteilt werden. Es wird sich zeigen, welche Bedeutung eine Institution wie das Papsttum gehabt hat. Es wird das Kardinalskollegium als Ganzes, als Institution vom göttlichen Richter gerichtet werden. Beim Letzten Gericht wird auch das entscheidende Wort Gottes über das Zweite Vatikanische Konzil fallen. Der Richter wird sein Urteil sprechen über den Ökumenismus. Vor kurzer Zeit stand am Grabe des Erzbischofs Lefebvre in Ecôn der Kardinal Oddi. Kardinal Oddi betete am Grabe, und dann sprach er nur zwei Worte, die die Umstehenden hörten: „Merci, Monseigneur. Ich danke Ihnen, Herr Bischof!“ Es kann sein, daß dieses Dankeswort an einen Verfemten vom göttlichen Richter einst wiederholt wird. Wir wissen es nicht und wir wollen ihm nicht vorgreifen, aber sicher ist, daß die menschlichen Urteile im Feuer des göttliches Gerichtes geprüft werden. Es ist da von den Büchern die Rede. Die Bücher sind natürlich nicht wörtlich zu verstehen, sondern sie besagen die Gerechtigkeit Gottes, die alles durchdringt, was der Mensch je getan und unterlassen hat, und nur der wird gerettet, der im Buche des Lebens, des Lammes eingetragen ist. Im Buche des Lammes muß man stehen. Im Buche des Lammes aber steht nur, wer sein Leben – bewußt oder unbewußt – mit Christus gelebt hat. Die Eintragung in die anderen Bücher hilft nichts; im Buche des Lammes muß man stehen.
Meine lieben Freunde, das Weltgericht ist die endgültige Erhellung des Sinnes der menschlichen Geschichte. Auf Erden haben wir oft wegen der Sinnlosigkeit, wegen der scheinbaren oder wirklichen Sinnlosigkeit Fragen an Gott gerichtet, haben auch manchmal zu Gott emporgeschaut und gesagt: Wo ist unser Gott? Warum läßt er das zu? Wieso kann das geschehen? Im Weltgericht löst sich jede Sinnlosigkeit. Das Weltgericht ist die Sinnerhellung aller irdischen Sinnlosigkeiten. Dann bleibt keine Frage mehr, sondern wir werden nur Gottes Allmacht und Weisheit, seine Fügungen und Führungen bewundern.
Für uns Einzelne gilt es, uns für das Weltgericht zu rüsten. Wir rüsten uns, wenn wir Werke der Barmherzigkeit vollbringen. Denn der Herr hat bei seiner großen Gerichtsrede auf die Werke der Barmherzigkeit abgestellt, die im Gerichte den Menschen retten können. Werke der Gerechtigkeit, Werke der Barmherzigkeit verlangt der Herr von uns. Die heilige Elisabeth, die ja eine große Wohltäterin war, die ein barmherziges Herz hatte und sich in dieser Barmherzigkeit verzehrt hat, wurde einmal gefragt, warum sie so viele Werke der Barmherzigkeit verrichte. Da gab sie zur Antwort: „Ich bereite mich auf das Weltgericht vor.“
Amen.