1. November 1998
Die Pflicht zur Treue
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Wahrhaftige vermeidet jeden Widerspruch zwischen seinem Inneren und dem Äußeren. Man kann sich auf sein Wort verlassen. Eng mit der Wahrhaftigkeit verwandt ist die Treue. Der Treue erfüllt, was er verheißen hat. Die Treue ist die Festigkeit in der Bindung, die man eingegangen ist, und auf die ein anderer vertrauen kann. Der Treue hält das, was er zugesagt hat. Die Treue ist also eine Tugend, die der Wahrhaftigkeit verwandt ist.
Die Treue ist von großer Bedeutung für den Einzelnen und für das menschlichen Zusammenleben. Wer treu ist, der erfüllt das, was die Wahrhaftigkeit von ihm fordert. Er ehrt sich selbst durch seine Treue. Untreue ist immer schäbig und entehrt den Menschen. Im Verkehr untereinander sind wir auf die Treue angewiesen. Denken Sie etwa im Geschäftsverkehr an das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. Der Handwerker erbringt zunächst seine Leistung, aber er verläßt sich darauf, daß der Preis, den er dafür verlangt, ihm gezahlt wird. Aber nicht nur im Geschäftsverkehr, sondern überall ist Treue vonnöten. Die Treue ist das Band zwischen den Menschen, und wir fühlen uns kaum jemals schwerer verletzt, als wenn jemand treulos handelt, wenn jemand untreu geworden ist.
Die Treue ist auf den verschiedensten Gebieten und unter den mannigfaltigsten Verhältnissen gefordert. Wir alle wissen, was es um die eheliche Treue ist. Ehegatten werden miteinander verbunden, auf daß sie immer in dieser Weltzeit zueinander gehören. Gott knüpft um sie ein unauflösliches Band, und dieses Band erzeugt die Verpflichtung zur Treue. Ehegatten müssen in guten und in bösen Tagen einander die Treue halten. Es ist das vielleicht etwas vom Schönsten, was in einer Ehe beiden widerfahren kann, wenn sie in schlimmen Tagen sich die Treue wahren. Finnland gehörte einmal zu Schweden. Ein finnischer Fürst machte einen Aufstand gegen den schwedischen König. Er wurde gefangengenommen und zum Kerker geführt. Da meldete sich seine Frau und bat den König, er möge zulassen, daß sie den Kerker mit ihrem Manne teile. Der König erwiderte: „Es ist eine lebenslängliche Gefangenschaft!“ Da zog die Frau den Ring von ihrem Finger und gab dem König zu lesen, was auf dem Ring stand: „Mors sola“ – Nur der Tod kann uns trennen.
Treue geloben Männer und Frauen, die in einem Ordensverband Gott und den Menschen dienen wollen. Sie verbinden sich durch die Gelübde, durch die Profeß, zur Treue. Sie wollen ihrem Gott, sie wollen ihrem Orden, sie wollen aber auch den Menschen, die auf sie angewiesen sind, die Treue halten. Es ist also etwas Ergreifendes um die Treue, die man in einem Ordensverband gelobt hat. Der Priester wird durch ein unauslöschliches Siegel geprägt bei der Weihe. Er empfängt ein Prägemal, und dieses Prägemal ist unverlierbar. Dieses Prägemal verpflichtet ihn zur Treue. Er ist gehalten, sein ganzes Leben in diesem Stand zu vollbringen, zu dem er durch die Weihe bestimmt worden ist.
Die Treue wird auch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen gefordert. Der Beamte steht in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat. Er gibt dem Staat seine Arbeitskraft, seine Zuverlässigkeit, seine Uneigennützigkeit, und der Staat sorgt für ihn, er hat die Fürsorge für ihn im Alter, bei Krankheit, bei Invalidität. Die Wurzel und der Grund des Beamtenverhältnisses ist die Treueverpflichtung von beiden Seiten. Ähnlich ist es bei Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer macht die Interessen des Arbeitgebers zu seinen eigenen. Er ist am Wohl und Wehe seines Betriebes lebhaft interessiert. Umgekehrt muß der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer sorgen; er hat die Pflicht der Fürsorge. Sie sind durch ein Treueband aneinander gebunden. Das Arbeitsverhältnis ist ein personenrechtliches Treueverhältnis.
Treue geloben auch die Bischöfe dem Heiligen Vater. Wenn sie ihr Amt übernehmen, dann versprechen sie dem Heiligen Vater Treue. Hoffentlich halten sie diese Treue! Auch sie sind untergeben und haben die Pflicht, dem Heiligen Vater die Treue zu halten, nicht bloß in Worten, sondern auch mit der Tat.
Treue ist verlangt in der Familie. Familienangehörige sind aufeinander angewiesen. Sie sind desselben Blutes, derselben Abstammung, und das verpflichtet sie, zueinander zu halten. Man kann sich nicht von einem Glied der Familie trennen, das irrige Wege geht; man bleibt mit ihm verbunden. Die Treue hört nicht auf, auch wenn ein Angehöriger aus der Art schlägt. Als der große byzantinische Feldherr Belisar beim Kaiser in Konstantinopel in Ungnade fiel, da mußte er den Palast verlassen und wurde davongejagt. Mit ihm ging sein Sohn, der auch im kaiserlichen Palaste angestellt war. Der Vater bat ihn, er möge doch bleiben und sich nicht an ihn klammern. Da gab der Sohn zur Antwort: „Vater, alles hat dir der Kaiser geraubt, aber die Treue und Liebe deines Kindes kann er dir nicht rauben!“ Und er ging mit dem Vater in die Verbannung.
Treue ist auch das Mark des Freundesverhältnisses. Freunde müssen einander die Treue halten; einer muß sich auf den anderen verlassen können, auch, ähnlich wie in der Ehe, in schlimmen und bösen Tagen. Niemand, meine lieben Freunde, hat das Treueverhältnis zwischen Freunden ergreifender geschildert als Schiller in seine Ballade „Die Bürgschaft“. Da wird erzählt von einem Manne, der sich mit einem Dolch zum König von Syrakus schlich, um ihn zu ermorden. Er wurde gefaßt und zum Kreuzestode verurteilt. Der Mann sagte zum König: Ich bin bereit zu sterben, aber ich will zuvor noch meine Schwester verheiraten. Gib mir drei Tage Zeit, dann kannst du mich hinrichten. „Ich lasse dir den Freund als Bürgen. Ihn magst du, entrinn’ ich, erwürgen!“ Der König gab ihm die drei Tage und sagte: „Doch wisse, wenn verstrichen die Frist, eh du zurück mir gegeben bist, so muß er statt deiner erblassen, doch dir ist die Strafe erlassen.“ Der Mann begab sich nun zu seinem Freunde und bat ihn, als Bürge zur Verfügung zu stehen. Der Freund umarmte ihn und lieferte sich dem Tyrannen aus. Jetzt eilte er dahin, um seine Schwester zu verheiraten. Es gelang, aber auf dem Rückwege stellte sich ein Hindernis nach dem anderen ein. Er kam an einen Strom; die Brücke war von den Wassern weggeschwemmt. Er kam nicht hinüber, kein Nachen trug ihn über die Fluten. In seiner Verzweiflung warf er sich in das Wasser und durchquerte mit gewaltigen Schlägen den Strom und gelang ans andere Ufer. Wenig später überfielen ihn Räuber. Sie drohten ihn aufzuhalten oder gar umzubringen. „Was wollt ihr?, ruft er vor Schrecken bleich. Ich habe nichts als mein Leben, das muß ich dem Könige geben.“ Und in seiner Verzweiflung wachsen ihm gewaltige Kräfte zu. Er wirft drei von den Räubern nieder, und die anderen entweichen. Jetzt droht er zu verschmachten; die Sonne glutet vom Himmel. Aber ein Bächlein am Rande erquickt ihn, und so kann er weiterwandern. Er kommt schon in die Nähe von Syrakus, da begegnet er zwei Wanderern. „Da hört er die Worte sie sagen: ‘Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen’!“ Die Angst beflügelt seine Schritte. Ihn jagen der Sorge Qualen. Als er näher kommt, begegnet ihm sein Hausverwalter. „Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr, so rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben. Von Stunde zu Stunde gewartet er mit hoffender Seele der Wiederkehr. Ihm konnte den mutigen Glauben der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ Aber der Damon entgegnet: „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht ein Retter willkommen erscheinen, so soll mich der Tod ihm vereinen. Des rühme der blut’ge Tyrann sich nicht, daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht. Er schlachte der Opfer zweie und glaube an Liebe und Treue!“ Die Sonne geht unter, da steht er am Tor von Syrakus und sieht das Kreuz, an dem eben sein Freund hochgezogen wird an einem Seile. „,Mich, Henker’, ruft er, ‘erwürget! Da bin ich, für den er gebürget!’“ Das Volk ergreift Erstaunen. Die beiden liegen sich in den Armen und weinen vor Schmerz und Freude. „Da sieht man kein Auge tränenleer, und zum Könige bringt man die Wundermär. Der fühlt ein menschliches Rühren, läßt schnell vor den Thron sie führen und blicket sie lange verwundert an. Drauf spricht er: ,Es ist euch gelungen: Ihr habt das Herz mir bezwungen. Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn. So nehmet auch mich zum Genossen an. Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte!’“ Diese ergreifende Ballade von Schiller zeigt uns, was es um die Freundestreue sein kann, wenn Freunde ihre Freundschaft ernstnehmen.
Treue muß man auch seinem Volke halten. Man kann sich nicht vom Volke verabschieden, weil von Gliedern dieses Volkes Untaten geschehen sind. Man hat nach dem Kriege manchen bedeutenden Deutschen den Vorwurf gemacht, daß sie nicht während des Dritten Reiches in die Emigration gegangen seien, z.B. dem berühmten Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Warum ist er denn in Berlin geblieben? Er hätte ins Ausland gehen sollen. Nein! Er hat nicht Hitler die Treue gehalten, sondern seinem Volke. Er hat seiner Gemeinde, seiner Kultgemeinde, seiner Kulturgemeinde die Treue gehalten. Seinem Volke hat er gedient, nicht einem Regime, das auch er innerlich verabscheut hat.
Treue muß man bewähren im Geschäftsverkehr. Es muß in allem der Grundsatz von Treu und Glauben beachtet werden. Sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch steht im Paragraphen 242, daß der Schuldner seine Leistung zu bewirken hat nach Treu und Glauben, unter Beachtung der Verkehrssitte.
Schließlich muß man auch treu sein seiner Überzeugung. Was man einmal als wahr erkannt hat, zu dem muß man stehen. Und wenn noch so viele rechts und links sich abwenden, man muß seiner Überzeugung folgen, bei seiner Überzeugung bleiben. „Die über Nacht sich umgestellt, die sich zu jedem Trend bekennen, das sind die Praktiker der Welt, man könnte sie auch Lumpen nennen.“ Gesinnungslumpen, die sich durch irgendwelche Vorzüge und Vorteile von ihrer Überzeugung abbringen lassen. Das haben die christlichen Martyrer nicht getan. Hermenegild, der westgotische König, hat Thron, Ehre, Familie, Freiheit und Leben geopfert, weil er nicht zum Arianismus übergehen wollte. Und Polykarp hat, als ihm der Prokonsul anbot, sein Leben zu retten, gesagt: „86 Jahre habe ich Christus gedient, und er hat mir nie ein Leides getan. Wie sollte ich ihm untreu werden?“
Die Treue, meine lieben Freunde, ist eine hohe Tugend. Sie verlangt viel, und sie fordert unseren ganzen Einsatz. Wer untreu ist, der begeht eine Sünde, und je nach der Gewichtigkeit des Gegenstandes, bei dem die Untreue begangen wird, kann es auch eine schwere Sünde sein. Wir wissen, wieviel Untreue in dieser Welt ist. Man rechnet in Deutschland täglich mit einer Million Ehebrüchen. Untreue in der Ehe; Untreue unter Gatten, die sich die Treue geschworen haben. Treulosigkeit in Vermögensverhältnissen. Wie viele Kassierer vergreifen sich an der Kasse! Wie viele Vermögensverwalter bedienen sich aus dem, was sie hätten in Treue verwalten sollen! Wie viele Priester sind ihrer heiligen Berufung untreu geworden! Wie viele haben sich, wie man so sagt, laisieren lassen! Ja, was ist denn das, meine lieben Freunde? Wenn der Priester Markus Warsberg mit 44 Jahren sagt, er könne nicht alleine bleiben, da kann ich nur lachen. Millionen Menschen müssen alleine bleiben, Kranke, Behinderte, Geschiedene, Verwitwete. Sie müssen alleine bleiben. Du kannst, wenn du willst! Du kannst, weil du mußt! Die Treue ist verlangt von Gatten; die Treue muß auch verlangt werden vom Priester.
Immer wieder lesen wir von Untreue in Pflichtverhältnissen wie dem Soldatentum. In Österreich gab es einmal einen Oberst Redl, der vor dem Ersten Weltkrieg die österreichischen Aufmarschpläne an die Russen verkauft hat. Viele Soldaten haben im letzten Kriege Fahnenflucht begangen. Heute will man ihnen ein Denkmal setzen. Einer der engsten Berater von Brandt war solch ein Fahnenflüchtiger. Er war 1944 in Polen zu den Partisanen übergelaufen und kämpfte auf der Seite der Partisanen gegen seine früheren Kameraden. Das ist Untreue, das ist Treulosigkeit. Natürlich braucht man einem Tyrannen nicht die Treue zu halten, der sie vorher gebrochen hat. Nur dann, wenn die Treue unsittlich wäre, wenn sie unnütz und schädlich wäre, dann braucht man sie nicht zu halten. Aber diese Fälle sind selten.
Wir wollen uns, meine lieben Freunde, zu der Tugend der Treue bekennen. Wir wollen in den Verhältnissen, in denen wir stehen, anderen die Treue halten. Diese Treue soll auch für uns kein leerer Wahn sein, sondern sie soll uns ehren und mit dem Gott der Treue verbinden. „Sei getreu bis in den Tod, dann will ich dir die Krone des Lebens geben!“
Amen.