10. Mai 1998
Ordnung und Eigenschaften der christlichen Liebe
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Unser Thema ist seit mehreren Wochen die übernatürliche Liebe zu Gott. Was kann es Dringenderes und was kann es Schöneres für den christlichen Prediger geben, als über die Liebe zu Gott zu sprechen? Wir haben aber erkannt, daß die Liebe zu Gott die Geschöpfe umfaßt. Man kann Gottesliebe und Menschenliebe nicht wie zwei Arten der Liebe trennen. Nein, sie gehören zusammen; denn wer Gott liebt, liebt alles, was zu Gott gehört. Er ist verpflichtet, auch alles zu lieben, was Gottes ist. Gottesliebe und Nächstenliebe sind also in der christlichen Liebe, in der übernatürlichen Liebe untrennbar verbunden. Der heilige Johannes hat diese innerliche Verbindung oft in seinem Schrifttum ausgesprochen. „Wenn einer den Bruder haßt, den er sieht, wie kann er dann Gott lieben, den er nicht sieht?“ Wenn wir also von Liebe sprechen, dann meinen wir die übernatürliche Gottesliebe, die sich aber auswirkt in der Liebe zum Nächsten, zum Fremden und zum Feinde. – Wir haben heute vier weitere Punkte der übernatürlichen Liebe zu besprechen, nämlich
1. die Ordnung,
2. die Eigenschaften,
3. die Notwendigkeit und
4. die Wirkung.
An erster Stelle müssen wir uns befassen mit der Ordnung der übernatürlichen Liebe. Es ist gar keine Frage, daß Gott über alles geliebt werden muß. Ihm kommt nichts gleich, denn er ist der Höchste und Liebenswürdigste von allen. Es ist nicht möglich, ihm irgend etwas vorzuziehen, ohne ihn zu kränken und zu beleidigen. Die Liebe Gottes geht also allem vor. Aber bei den Geschöpfen ist eine Abstufung möglich, ja notwendig; es gibt eine Ordnung der Liebe, eine Ordnung der Selbstliebe und eine Ordnung der Nächstenliebe.
Die Ordnung der Selbstliebe hat als erstes Prinzip den Satz: Man darf sein eigenes Seelenheil nicht gefährden, um anderen beizuspringen. Man darf sein eigenes Seelenheil nicht aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen. Das eigene Seelenheil geht der Hilfe gegenüber den anderen vor. Das ist ein Satz, der deswegen so fundamental ist, weil manche Menschen in vermeintlicher Nächstenliebe ihr Seelenheil gefährden, um anderen zu helfen. Nach Ende des Krieges machte in Deutschland ein Roman viel von sich reden, weil er eine berühmte Autorin zum Urheber hatte. In diesem Roman wurde geschildert, wie eine Frau, eine liebende Frau einen geschiedenen Mann heiratet und damit ihr Seelenheil gefährdet, um ihm zu helfen in seiner Verlassenheit und in seiner Not. Es ist nicht gestattet, das eigene Seelenheil aufs Spiel zu setzen, um anderen Hilfe zu bringen. In allen anderen Punkten, in den zeitlichen Dingen ist es durchaus möglich, ja geraten und manchmal pflichtmäßig, das eigene Wohl hinter dem Wohl des anderen zurückzusetzen. Vor allem, wenn das Gemeinwohl auf dem Spiele steht, dann muß man das eigene Wohl hinter dem Gemeinwohl zurücktreten lassen. Das ist die Ordnung der Selbstliebe.
Bei der Nächstenliebe gibt es zwei Grundsätze, nämlich: Man muß den Nächsten objektiv lieben nach seinem eigenen Wert. Wer höhere Werte verwirklicht, wer also ein wertvollerer Mensch, der hat auch Anspruch auf höhere Wertschätzung. Wir müssen objektiv sein und zugeben: Wenn einer vollkommener ist, wenn er mehr Güte besitzt als ein anderer, dann hat er auch Anspruch auf höhere Wertschätzung. Aber das zweite Prinzip ist gleich danebenzustellen, nämlich: Das Wohltun und das Wohlwollen richten sich nach der Nähe des anderen zur eigenen Person. Wir sind zur werktätigen Nächstenliebe verpflichtet, vor allem gegenüber denen, die uns nahestehen. Da kommen in Frage Verwandte und Bekannte und Nachbarn; auch die Landsmannschaft spielt eine Rolle, der Beruf. Ein Priester hat als Nächste diejenigen, die ihm anvertraut sind, und ein Betriebsführer hat die als Nächste, die in seinem Betrieb arbeiten. Denen muß er also eine – von aller Wertschätzung einmal abgesehen – werktätige Nächstenliebe erweisen.
Die Ordnung der Liebe ist vor allem gefragt, wenn Menschen in Not sind. Welche Grundsätze gelten für die Hilfe in der Not? Nun, wenn jemand in seelischer Not ist, in äußerster seelischer Not sich befindet, dann muß man ihm helfen, selbst unter Gefährdung des eigenen Lebens. Ein Priester müßte zu einem mit ansteckender Krankheit Behafteten gehen, wenn er weiß, er ist empfänglich für die Sakramente, er bedarf ihrer, und es gibt niemanden, der ihn in dieser Angelegenheit vertreten könnte. Also in äußerster seelischer Not muß man selbst unter Einsatz des Lebens dem anderen zu Hilfe kommen, wenn begründete Aussicht besteht, daß diese Hilfe dem anderen zum ewigen Heile verhelfen wird. Bei aller anderen Not ist man verpflichtet zu helfen, unter schwerer Sünde, etwa bei äußerster zeitlicher Not oder bei großer seelischer Not. In diesen Fällen gebietet uns die Liebe, dem anderen unter Einsatz der uns zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel Hilfe zu leisten. Das ist die Ordnung der Nächstenliebe.
Nun, jetzt zweitens die Eigenschaften der Liebe. Die Liebe muß, sofern sie sich auf Gott richtet, über alles groß sein, d.h. man darf Gott nichts vorziehen. Es muß, wenn eine Liebe über alles groß ist, alles für den Geliebten aufgewendet werden, und es darf ihm nichts vorenthalten oder entzogen werden. Die Liebe zu Gott muß über alles groß sein, weil er der höchste und liebenswerteste Gegenstand ist. Die Liebe muß sodann innerlich sein, d.h. sie muß aus dem Herzen kommen. Eine bloß geheuchelte Liebe ist keine Liebe. Die Liebe muß das Herz ergreifen, und das Herz kann von der Liebe erfaßt werden, wenn wir die rechte Liebe meinen, nämlich die Liebe der Wertschätzung und des Wohlwollens. Die affektive Liebe, also das Gefühl, können wir nicht gebieten, aber die Wertschätzung des anderen und das Wohlwollen gegenüber dem Nächsten lassen sich gebieten, sie folgen den Gesetzen der Vernunft und des Willens. Die Liebe muß also innerlich sein, und sie muß weiter wirksam sein; einer Liebe, die sich nicht nach außen kundgibt, fehlt etwas. Sie muß sich in Taten auszeugen. Es muß eine werktätige Liebe sein. Mit Worten nur lieben, das hat der heilige Johannes abgewiesen. „Kindlein, laßt uns lieben nicht nur mit Worten, sondern in der Tat und in der Wahrheit!“ Also eine wirksame Liebe muß es sein, die etwas aufbietet, um sich dem Nächsten zuzuwenden. Die Liebe muß auch beständig sein. Wir können die Liebe Gottes nicht befristen. Wir können nicht sagen: Wir lieben auf Zeit, sondern die Liebe Gottes ist das Liebesband und das Lebensband mit Gott, und das darf niemals zerschnitten werden. Die Liebe muß beständig sein, ja sie muß unveränderlich sein. Sie darf wachsen, aber sie darf nicht abnehmen. Das sind die Eigenschaften der Liebe zu Gott, die ja in analoger Weise auch für die Liebe zum Nächsten gelten.
Die dritte Frage ist: Ist denn die Liebe notwendig? Ja, sie ist notwendig als Mittel und als Gebot. Wir sprechen von einer Mittelnotwendigkeit der Liebe und von einer Gebotsnotwendigkeit der Liebe. Die Mittelnotwendigkeit der Liebe beruht auf zwei Gründen, einmal: Die sittliche Pflicht hat als höchsten Gipfel die Liebe zu Gott. Weil wir sittlich in Pflicht genommen sind, muß die Sittlichkeit in der Liebe zu Gott ihren höchsten Gipfel ersteigen. Die sittliche Pflicht, die uns auferlegt ist, findet ihre Krönung in der Liebe zu Gott. Und die Liebe ist mit der Gnade untrennbar verbunden. Die Gnade gibt uns die Gotteskindschaft. Wenn wir also die Gotteskindschaft haben wollen, müssen wir mit der Gnade auch die Liebe haben wollen, und ohne die Liebe ist die Gnade nicht zu schenken. Also ist die Liebe genauso heilsnotwendig, wie die Gnade heilsnotwendig ist: mit der Notwendigkeit des Mittels. Wie sagt Johannes: „Wer nicht liebt, bleibt im Tode.“ Also die Liebe ist die Kraft, welche den Tod überwindet.
Daß die Liebe auch notwendig ist als Gebot, das wissen wir aus dem Munde des Herrn selbst. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte und aus allen deinen Kräften!“ Da ist das Gebot. Es besteht eine Gebotsnotwendigkeit der Liebe. Wenn wir Gott nicht lieben, verfehlen wir uns gegen das Gesetz Christi; und wenn wir den Nächsten nicht lieben, dann verfehlen wir uns ebenfalls gegen das Gesetz Christi. Die Liebe ist notwendig zum Heil als Mittel und wegen des Gebotes.
Und schließlich viertens die Wirkungen der Liebe. O, das sind viele, so daß ich sie gar nicht alle aufzählen kann. Die Liebe verähnlicht uns mit Gott, sie schenkt uns die Gotteskindschaft. Die Liebe macht uns geneigt, seinen Willen zu erfüllen. Ich möchte drei besondere Wirkungen der Liebe erwähnen, nämlich erstens die Freude. Wer liebt, weiß den Geliebten bei sich in der Nähe, und aus dieser Nähe strömt eine unsagbare Freude. Die Liebe verschafft uns die Nähe Gottes, und aus dieser Nähe geht die Freude hervor. Wahrhaftig, wer liebt, der lebt in der Freude, in einer Freude, die die Welt nicht geben, die sie aber auch nicht nehmen kann.
Die zweite Wirkung der Liebe ist der Friede. Das wissen wir ja schon aus den Beziehungen zu den Menschen, daß, wenn wir lieben, der Streit ein Ende hat. Die Liebe streitet nicht. Die Liebe versöhnt und befriedet. Und so ist es auch mit der übernatürlichen Liebe: Es kommt der Friede Gottes in unsere Seelen. Wir haben Friede mit Gott, und das heißt eben auch Friede mit den Menschen. Denn wer in Gott den Frieden gefunden hat, der muß ihn zu den Menschen weitertragen. „Pacatum cor“, sagt der heilige Augustinus, „ein befriedetes Herz“. Das ist die Wirkung der Liebe.
Die dritte Wirkung ist der Eifer. Wer liebt, der wird Eifer für Gott zeigen. Der Eifer betätigt sich in zwei Richtungen, einmal: Er wird sich gegen alles wenden, was die Ehre Gottes trübt. Er leidet darunter, wenn Gott nicht geehrt wird, wenn Gott entehrt wird. Es schmerzt ihn, wenn die Gebote Gottes übertreten werden. Das ist ein Zeichen der Liebe, daß jemand ernstlich darunter leidet, daß Gottes Sache in der Welt nicht vorankommt, daß in der eigenen Kirche die Menschen an der Zerstörung dieses herrlichen Baues arbeiten. Die zweite Äußerung des Eifers ist die Sorge um die Ehre Gottes, die positive Arbeit für Gottes Reich, für Gottes Ehre, für Gottes Willen. Wer Eifer für Gottes Ehre hat, dem ist es ernst mit dem Worte: „Dein Wille geschehe!“ Und er sucht alles zu tun, um diesem Willen Achtung und Ehrfurcht zu verschaffen, im eigenen Leben und im Leben der anderen. Es läßt ihm keine Ruhe, daß der Wille Gottes noch nicht völlig in seinem Leben geschieht und bei den anderen. Vom Herrn heißt es einmal, als er in seinem heiligen Zorn den Tempel reinigte: „Seine Jünger dachten an das Wort: Der Eifer für dein Haus verzehrt mich.“ Wahrhaftig, der Eifer für das Haus Gottes hat unseren Herrn und Heiland verzehrt, er hat ihm das Leben gekostet. Und so muß auch der Eifer für Gottes Sache uns verzehren, ob unser irdisches Leben dabei draufgeht, was liegt daran? Wenn wir nur für Gott gearbeitet, gekämpft und gelitten haben.
Als Theresia von Lisieux auf dem Sterbebett lag, da sagte sie: „Ich fürchte mich nicht vor Gottes Gericht, denn ich habe den zum Richter, den ich einzig geliebt habe.“ O, meine Freunde, wer ihr das nachsprechen könnte! „Ich fürchte mich nicht vor Gottes Gericht, denn ich habe den zum Richter, den ich einzig geliebt habe.“
Amen.