12. Januar 1997
Die Heilsbedeutung der Wirklichkeit Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Auch der „Spiegel“ trifft manchmal das Richtige. Vor einiger Zeit suchte er eine Erklärung für die zahlreichen Kirchenaustritte. Er faßte seine Analyse in dem knappen Satz zusammen: „Zu wenig Gott für zu viel Geld.“ Der „Spiegel“ hat recht. In unserer Kirche ist seit geraumer Zeit zu wenig von Gott und den göttlichen Dingen und den göttlichen Wirklichkeiten die Rede und zu viel vom Menschen und von menschlichen Dingen und von Mitmenschlichkeit. Die Kirche ist aber dazu da, die Ehre Gottes auf Erden zu verkünden und zu mehren; sie ist dazu da, dem Reiche Gottes zu dienen. Die Existenz der Kirche hängt allein daran, daß sie Gottes Organ für die Aufrichtung des Gottesreiches ist. Die Kirche muß also wie die Apostel beim ersten Pfingstfeste die „magnalia dei“ verkünden, die Großtaten Gottes.
Das ist der Grund, meine lieben Freunde, warum wir uns entschlossen haben, an den folgenden Sonntagen über Gott, sein Wesen und seine Eigenschaften nachzudenken. Am vergangenen Sonntag hatten wir Gott erkannt als das absolute Sein, als das in sich stehende, aus sich selbst seiende Sein. Das klingt reichlich abstrakt, und man könnte fragen: Was hat das für eine Heilsbedeutung, daß Gott das in sich stehende Sein ist? Wir wollen heute zu erklären versuchen, daß diese Wirklichkeit eine große Bedeutung, eine wahre Heilsbedeutung für den Menschen hat.
Wenn Gott das absolute Sein ist, dann ist er die unermeßliche, ja unbedingte Lebensfülle und die unbedingte Seinsmacht. Es handelt sich dabei nicht um das inhaltsleere Sein, sondern es handelt sich dabei um die höchste, einer Erfüllung und Auffüllung nicht mehr fähige Wirklichkeit. Wenn wir von der absoluten Seinsfülle Gottes sprechen, dann meinen wir damit, daß er alles Geschaffene unendlich überragt, daß aber alles Geschaffene ein Hinweis auf seine Seinsfülle ist. Also: Was wir in der Natur und in der Kultur erleben, was wir in der Geschichte und durch Menschenwerk vor uns sehen, das vermittelt eine schwache Ahnung davon, wie reich Gott ist, welche Fülle er besitzt. Wenn wir den gestirnten Himmel anschauen und die Geheimnisse der Biologie bedenken, dann überkommt uns eine Ahnung von der unendlichen Seinsfülle Gottes. Weil er so reich ist, weil er sich gleichsam so sehr in der Hand hat wie kein Mensch, kann er sich auch dem Menschen schenken. Er schenkt sich ihm in der Begnadung, in der heiligmachenden Gnade, und er wird sich uns einmal in vollendeter Gestalt schenken in der himmlischen Gottesschau. Da erkennen wir, daß eigentlich nichts wertvoller, nichts herrlicher, nichts größer ist als der Besitz Gottes in der heiligmachenden Gnade. Da beginnen wir zu verstehen, was es heißt, wenn die heilige Theresia sagt: „Gott genügt.“ Gott allein genügt. Der Mensch mag des irdischen Reichtums verlustig gehen, aber wenn er den Reichtum Gottes besitzt, ist er immer noch reich genug. Er mag hungern und dürsten, aber wenn er von Gottes Leben ißt und trinkt, dann ist er wahrhaft gesättigt. Er mag einsam sein und verlassen, aber wenn er in der Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes ist, dann ist er niemals isoliert. Er mag krank werden und sterben, aber in der Krankheit ist die Kraft Gottes mit ihm, und im Sterben wird sein irdisches Leben verwandelt. Das ist also die erste Bestimmung des absoluten Seins Gottes: seine unermeßliche Lebensfülle und sein unendlicher Seinsreichtum.
Die zweite Folgerung, die sich aus dieser Wirklichkeit Gottes ergibt, besteht darin, daß der Mensch darin gesichert und geborgen ist. Wir spüren ja die Unsicherheit des Lebens in vielfacher Hinsicht. „Geschöpf sein heißt“, sagt einmal der Philosoph Heidegger, „hineingehalten sein in das Nichts.“ Das ist nicht falsch. Aber Geschöpf sein besagt auch noch etwas anderes: Wegen der Teilnahme am göttlichen Sein ist der Mensch eben nicht dem Nichts überantwortet, sondern nimmt am Seinsreichtum und an der Seinsfülle Gottes teil. Er ist in ihm gesichert und geborgen. Mögen die irdischen Zeltwohnungen abgebrochen werden, es gibt eine himmlische Wohnung, und sie ist unantastbar und unangreifbar. Wegen seines Seinsreichtums kann der Mensch in Gott Sicherung und Geborgenheit finden.
Gottes absolutes Sein ist auch für den Menschen der Garant seiner Würde und seiner Größe. Mich überkommt immer ein merkwürdiges Gefühl, wenn ich in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes den Ausdruck von der „Menschenwürde“ lese. Wie begründet denn das Bundesverfassungsgericht, wie begründen die dort sitzenden Sozialdemokraten und Freidemokraten die Menschenwürde? Wenn sie sie nicht aus Gott begründen, ist das ein leeres Wort. Denn wenn der Mensch die Menschenwürde garantiert, dann gestaltet er sie nach seinem Belieben. Nur wenn die Menschenwürde in Gott begründet ist, weil der Mensch seine Würde in seiner Gottebenbildlichkeit findet, weil er teilnimmt am göttlichen Leben, weil er ein Geschöpf und ein Ebenbild Gottes ist, dann hat er eine Würde, eine unantastbare Würde, eine Würde, die niemand entziehen kann und die niemand ungestraft verletzt. Gott allein ist der Garant der menschlichen Würde und Größe. Er ist auch der Garant der menschlichen Vollendung. Es gibt keine Vollendung als in dem Vollendeten. Weil Gott der Vollendete ist, weil er in einem unermeßlichen Glückseligkeitszustand lebt, deswegen gibt es auch für den Menschen eine Vollendung. Weil er sich vorgenommen hat, den Menschen in seine Vollendung hineinzurufen, deswegen kann der Mensch auf Vollendung hoffen: deswegen geht er der Vollendung entgegen, wenn immer er sich bemüht, dem Anruf Gottes zu antworten.
Gott ist das absolute Sein. Das bedeutet auch seine völlige Unabhängigkeit. Er bedarf niemandes, er hat keine Bedürfnisse. Er ist auf niemanden angewiesen; er ist unabhängig in der Fülle und in der Kraft und in der Daseinsmacht seines Seins. Damit ist er natürlich auch unangreifbar. Der Mensch kann versuchen, Gott unter den Menschen Schaden zu tun, indem er ihn lästert, indem er seine Bekenner verfolgt. Aber der über den Wolken thront, so sagt der Psalm, der lacht darüber. Er ist unangreifbar und unanfechtbar. Er ist der unabhängige Gott. Und man darf auch nicht fragen: Warum tust du das? Er kann über das Geschöpf verfügen. Die Geschöpfe sind von ihm abhängig, sie sind völlig von ihm abhängig. Wir erleben im Alten Testament ergreifende Beispiele, wie Menschen begriffen haben, daß sie nicht mit Gott rechten dürfen, daß sie nicht sagen dürfen: Warum tust du das? Warum läßt du das zu? Warum verfügst du so über mich? Sie haben begriffen, daß Gott dem Menschen keine Rechenschaft schuldig ist. Aber der Mensch ist abhängig. Er ist total abhängig in seiner Existenz und in seinem Wesen von dem weltüberlegenen Gott.
Gott ist auch der Bürge der Werteverwirklichung. Er hat jedem Geschöpf ein eigenes Sein, einen eigenen Sinn, eine eigene Gesetzlichkeit gegeben. Jedes Geschöpf ist eine Teilnahme am Schöpfer. Und das ist ja ein wunderbarer Gedanke, meine lieben Freunde. Es gibt also keine überflüssigen Geschöpfe; es gibt keine sinnlosen, keine wertlosen Menschen. Wie leicht sind Menschen geneigt, zu sagen: Mit dem ist nichts, der kann nichts, an dem ist alles verloren. Nein, er hat von Gott einen Wert, er ist von Gott für etwas tauglich befunden worden, deswegen hat ihn Gott ins Leben gesetzt. Nach Gottes Absicht hat er einen Wert. Er ist tauglich für das Werk, für das Gott ihn bestimmt hat. Das ist ein gesundmachender Gedanke. Man braucht sich also nicht zu quälen ob seiner Unzulänglichkeit, ob seines Unvermögens. Ich habe einen Auftrag von Gott, und wenn ich ihn erkenne und erfülle, dann ist mein Leben Gott angenehm. Und so ist es auch mit der Moral, mit der Sittlichkeit. Gott ist auch der Bürge für Gut und Böse. Es sind viele Versuche gemacht worden, die Sittlichkeit zu begründen, sie entweder auf den Nutzen zu stellen oder auf den kategorischen Imperativ, wie es Kant versucht hat. Diese Versuche sind alle zum Scheitern verurteilt. Wenn kein Gesetzgeber da ist, gibt es auch kein Gesetz! Wenn die Gebote und Verbote nicht auf Gottes Willen zurückgehen, dann kommt nur der Nutzen oder die irdische Notwendigkeit in Frage, die aber nach Belieben ausgelegt werden können. Nein, Gott allein, das absolute Sein, ist in seinem Sein und in seinem Willen der Bürge für Gut und Böse, der Maßstab für Gut und Böse.
Gott als das absolute Sein ist uns auch nahe. Er ist uns nahe, so daß Paulus von ihm sagen kann: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Er ist uns näher als das Kleid, das wir tragen; er ist uns näher als die Luft, die wir atmen. Er ist uns nahe als der Schöpfer und Erhalter unseres Lebens. Die Theologie nennt das den „concursus generalis“, die allgemeine Mitwirkung Gottes mit allem, was wir denken, reden und tun. Er ist uns freilich durch seine Weltüberlegenheit auch unendlich ferne. Das ist es ja eben: Gottes In-Sein und Gottes Über-uns-Sein, beides muß zusammen gedacht werden. Wegen seines In-Seins ist er uns nahe, wegen seines Über-uns-Seins ist er uns fern. Nähe und Ferne Gottes ergeben sich aus seinem absoluten Sein.
Und schließlich noch eine letzte Folgerung aus dieser Wirklichkeit Gottes des in sich selbst stehenden Seins, nämlich: Gott ist die Einheit von Sein und Tun. Bei uns ringt sich das Tun aus dem Sein empor, wir müssen uns immer einen Anstoß geben, daß wir etwas tun, denn in uns allen lauert die Trägheit. Nicht so in Gott. Gottes Sein ist gleichzeitig Tun; er ist tuendes Sein und seiendes Tun. Es ringt sich nicht das Tun mühsam empor aus dem Sein. Dies ist für uns ein Vorbild und eine Aufgabe. Auch wir sollen unser Sein möglichst weitgehend im Tun entfalten. Anders ausgedrückt: Wir sollen die Anlagen und Talente, die Gott uns gegeben hat, nicht ungenützt lassen. Wir sollen rastlos tätig sein, damit am Ende unseres Lebens nicht Gott sagen muß: Du hättest dieses und jenes tun, du hättest dieses und jenes erreichen können, warum hast du es nicht getan? Warum hast du es nicht erreicht? Wir müssen also in der Nachfolge Gottes unser Vermögen benutzen, um das Sein aufzulichten durch unser Tun und gleichzeitig freilich auch im Tun die Ruhe und die Gelassenheit nicht zu verlieren. Beides ist uns aufgegeben: rastloses Tun und gleichzeitig Gelassenheit und Ruhe im Tun, nicht Hektik und auch nicht nervöse Tätigkeit, sondern gesammeltes Tun, das aus der Mitte des Seins hervorkommt und insofern Zeugnis vom Sein geben kann.
Der große Mystiker, Meister Eckart, hat einmal diesen Zusammenhang zwischen Sein und Tun, zwischen Tun, das sich aus dem Sein erhebt und Sein, das sich im Tun auszeugt, in folgende Worte gefaßt: „Ich wurde gefragt, manche Leute zögen sich streng von den Menschen zurück und wären gern allein und wären in der Kirche. Und darin läge ihr Friede. Ob das das Beste wäre. Da sagte ich: Nein, und wisse, warum: Mit wem es recht bestellt ist, fürwahr, dem ist es an allen Orten und bei allen Leuten recht. Mit wem es aber nicht recht steht, dem ist es nicht recht, an keinem Ort und bei keinem Menschen. Mit wem es aber recht steht, der hat Gott in Wahrheit bei sich. Wer aber Gott recht so in Wahrheit hat, der hat ihn an allen Orten und auf der Straße und bei den Leuten, geradeso wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle. Wenn er ihn nur recht hat und ihn allein hat, einen solchen Menschen kann nichts beirren.“
Amen.