Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Dezember 1996

Die Gelegenheiten zur Sünde

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir die Versuchung zur Sünde bedacht und uns Rechenschaft gegeben, wie es zur Versuchung kommt und wie sie zu überwinden ist. Mit der Versuchung ist häufig verknüpft die Gelegenheit zur Sünde. Unter Gelegenheit zur Sünde versteht man Umstände, die geeignet sind, die Versuchung zur Sünde oder die Sünde selbst herbeizuführen. Diese Umstände können Menschen, Sachen, Ereignisse, Orte sein. Wir wollen in drei Punkten die Gelegenheit zur Sünde bedenken, nämlich

1. Welche Gelegenheiten gibt es?

2. Wie ist ihre sittliche Beurteilung?

3. will ich eine Reihe von solchen Gelegenheiten vorstellen.

Die erste Frage lautet: Welche Gelegenheiten gibt es? Wie teilt man die Gelegenheiten ein? Nun, nach der Wahrscheinlichkeit, in einer Gelegenheit in die Sünde zu fallen, spricht man von der nächsten und der entfernten Gelegenheit. Ist die Wahrscheinlichkeit groß, bei einer bestimmten Konstellation in die Sünde zu fallen, dann spricht man von der nächsten Gelegenheit. Ist die Wahrscheinlichkeit nicht groß, dann nennt man eine solche Konstellation eine entfernte Gelegenheit. Dabei ist natürlich regelmäßig abzustellen auf die Individualität des Einzelnen, auf seine persönliche Artung. Für den einen ist eine Gelegenheit eine nächste, für den anderen ist sie eine entfernte. Deswegen unterscheidet man die absolut nächste Gelegenheit, die für jeden Menschen gilt, und die relativ nächste Gelegenheit, die nur für bestimmte Menschen mit einer bestimmten Artung gilt. Eine absolut nächste Gelegenheit, die also für jeden Menschen gilt, ist das Sich-Aufhalten in sündhaften Gedanken. Solche Gedanken drängen zur Begierde, und die Begierde führt zur Tat. Eine solche absolut nächste Gelegenheit besteht für jeden.

Die zweite Einteilung geht davon aus, ob eine Gelegenheit vorhanden ist oder nicht. Man spricht von einer stets gegenwärtigen Gelegenheit, die man also gar nicht erst aufzusuchen braucht, und von einer anderen, die nicht gegenwärtig ist, die man aufsuchen muß. Wenn Leute nach Thailand fahren, um dort Sextourismus zu betreiben, sieht jeder ein, daß das keine gegenwärtige Gelegenheit zur Sünde ist, sondern eine, die aufgesucht werden muß.

Die dritte, vielleicht die wichtigste Einteilung ist die zwischen der freiwilligen und der notwendigen Gelegenheit. Hier ist der Gesichtspunkt der Einteilung das Verhältnis zum Willen. Die freiwillige Gelegenheit ist jene, die aus eigenem Willensentschluß aufgesucht wird. Die notwendige Gelegenheit ist jene, die unabhängig vom Willen besteht. Bei der notwendigen Gelegenheit unterscheidet man noch einmal zwischen der absolut notwendigen, der physisch notwendigen, und der relativ notwendigen oder moralisch notwendigen Gelegenheit. Die physisch notwendige Gelegenheit ist jene, die unvermeidlich ist. Ein Beispiel: Wer in der früheren DDR in die Schule ging, der wurde notwendig mit dem atheistischen, religionsfeindlichen Geist dieses Staates in Berührung gebracht. Aber man mußte in die Schule gehen; es bestand Schulpflicht; es bestand Schulzwang. Es war also eine physisch notwendige Gelegenheit, sich in diese Schule zu begeben, und Eltern, die ihren Kindern verboten hätten, in die Schule zu gehen, wären eingesperrt worden. Die moralisch notwendige Gelegenheit ist eine solche, die nur mit großer Schwierigkeit vermieden werden kann, wo man also erhebliche Opfer, erhebliche Verzichte, unter Umständen auch erhebliche Schäden in Kauf nehmen muß, um dieser Gelegenheit zu entgehen.

Das sind also die Kategorien der Gelegenheiten. Jetzt der zweite Punkt: Wie ist die sittliche Beurteilung? Erstens muß man sagen: Freiwillig die nächste Gelegenheit aufsuchen ist immer Sünde. Wer freiwillig die nächste Gelegenheit aufsucht, der willigt damit schon in die Sünde ein; denn er muß sich sagen: Hier ist die Wahrscheinlichkeit, vielleicht sogar die Sicherheit vorhanden, daß ich in dieser Versuchung untergehe, daß ich in ihr falle. Wer die freiwillige nächste Gelegenheit aufsucht oder wer die freiwillige nächste Gelegenheit nicht aufgibt, der ist ein Sünder. Er kann in der Beichte nicht losgesprochen werden, wenn er sich nicht verpflichtet, diese freiwillige nächste Gelegenheit zu meiden oder aufzugeben. Es ist ein Bestandteil der Reue, daß man die freiwillige nächste Gelegenheit aufgibt.

Zweitens muß man sagen: Die freiwillige entfernte Gelegenheit aufsuchen ist regelmäßig auch Sünde. Man darf sich eben auch nicht in die entfernte Gefahr begeben, zu fallen. Allerdings greift hier das Kompensierungsprinzip ein. Was ist das, ein Kompensierungsprinzip? Das heißt: Wenn man vernünftige, ernste, gewichtige Gründe hat, diese Gefahr auf sich zu nehmen, dann darf man es tun. Man darf sich also der entfernten Gelegenheit, zu fallen, aussetzen, wenn man gewichtige Gründe hat. Je näher die Gelegenheit ist, um so gewichtiger müssen die Gründe sein, die man hat, um sich dieser Gefahr auszusetzen. Man kann nicht jeder entfernten Gelegenheit ausweichen; das ist unmöglich. Das steht sogar schon in der Heiligen Schrift. Im ersten Korintherbrief sagt der Apostel Paulus: „Ich habe euch geschrieben: ‘Habe keinen Umgang mit Unzüchtigen!’ Ich meine damit nicht allgemein die Unzüchtigen dieser Welt oder die Habsüchtigen oder Räuber oder Götzendiener, sonst müßtet ihr ja aus der Welt herausgehen. Nun aber schreibe ich euch, ihr sollt keinen Umgang haben mit einem, der sich Bruder nennt (also ein Christ ist) und dabei ein Unzüchtiger oder ein Habsüchtiger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder Räuber ist.“

Eine freiwillige nächste Gelegenheit war es, als ein Mädchen, das ich als Schülerin unterrichtet hatte und das nach dem Kriege nach Hamburg kam, dort einen protestantischen Pastor kennenlernte, ihn heiratete und vom katholischen Glauben abfiel. Das war zu erwarten. Das war die freiwillige nächste Gelegenheit, und sie ist ihr zum Verhängnis geworden. Die freiwillige entfernte Gelegenheit ist außerordentlich häufig, aber es richtet sich eben weitgehend nach der Individualität, wieweit jemand in dieser Gelegenheit fällt oder nicht fällt. Bei der notwendigen Gelegenheit gelten folgende Grundsätze. Die physisch notwendige Gelegenheit, die also unvermeidlich ist, kann man nicht meiden. Was ist zu tun? Man muß danach trachten, sie zu überwinden. Man muß die Mittel anwenden, um dieser Gefahr zu trotzen. Ich habe in den Jahren, die ich in der DDR verbracht habe, bei meinen Jungs und Mädchen im Unterricht das, was sie in der Schule erwartete, vorweggenommen. Ich habe ihnen also Schäden und Versehen von Menschen in der Kirche genauso ausführlich, nein, ausführlicher geschildert, als sie es in der Schule hören würden. Sie waren deswegen, als sie es in der Schule hörten, gegen diese Angriffe gewappnet. Sie konnten mit Argumenten aufwarten, die ich ihnen geliefert habe. Also die notwendige, die physisch notwendige, die unvermeidliche nächste Gelegenheit zur Sünde muß man durch Anwendung aller Mittel zu überwinden trachten. Die moralisch notwendige nächste Gelegenheit muß man in eine entfernte zu verwandeln trachten. Im Jahre 1952 schickte mich der Pfarrer an einen kleinen Ort in Sachsen, wo in einer ganz protestantischen Umgebung eine einzige katholische Frau lebte. Sie war mit einem reichen Bauern verheiratet, hatte Kinder, die Kinder wurden katholisch. Der Pfarrer sagte mir: „Jedesmal, wenn Sie an den Ort kommen, müssen Sie zu dieser Familie gehen und diese Frau stützen!“ Ich hoffe, daß sie durchgehalten hat in dieser schwierigen Umgebung. Sie war natürlich in der außergewöhnlich gefährlichen Lage, in einer völlig protestantischen Umgebung, in einer Mischehe auszuhalten und den Glauben zu bewahren und ihn an die Kinder weiterzugeben. Aber soweit ich Kenntnis habe, hat die Frau diese Probe bestanden. Das sind die sittlichen Grundsätze für das Bekämpfen der Gelegenheit zur Sünde.

Nun will ich an dritter Stelle einige Gelegenheiten nennen, die sich uns in unserem Leben darstellen. An erster Stelle die böse Gesellschaft. „Ein schlechter Gesell’ führt zehn andere zur Höll’!“ sagt der Volksmund. Und so ist es; schlechter Umgang verdirbt gute Sitten. Man muß wissen, wieviel Kraft man hat, ob man sich in eine schlechte Umgebung begeben darf oder nicht. Der Mensch ist schwach, und er paßt sich leicht seiner Umgebung an. In Frankreich haben vor Jahrzehnten Priester sich in die Fabriken und in die Bergwerke begeben, um auf diese Weise missionarisch zu wirken. Sie glaubten, dadurch würden die Arbeiter von ihrem kommunistischen Irrglauben geheilt werden. Dieses Experiment ist auf der ganzen Linie gescheitert. Nicht die Kommunisten haben sich bekehrt, sondern viele dieser Priester haben sich zum Kommunismus gewandt. Deswegen hat Pius XII. dieses Experiment abgebrochen. Sie sind der Umgebung erlegen, sind in die Gewerkschaft eingetreten, haben an Streiks und Demonstrationen teilgenommen und auch ihren Priesterberuf – zum erheblichen Teil – aufgegeben. Man muß wissen, wieviel Kraft man hat. Allzu leicht wird man durch die Umgebung geformt und geprägt.

Gesellschaft bildet sich natürlich vor allem im Wirtshaus. Das Wirtshaus ist eine gute Einrichtung. Auf Reisen und bei Notwendigkeit kann man, soll man, muß man das Wirtshaus betreten. Aber es ist auch eine Gefahr für diejenigen, die lange im Wirtshaus verweilen, die regelmäßig sich dort aufhalten. Die Gefahr besteht in der Neigung zum Alkohol, und wir alle wissen, welche furchtbare Gefahr das Trinken ist. Man wird streitsüchtig; im Wirtshaus gibt es viel Streit. Das Geld wird durchgebracht und die Familie darbt. Im Wirtshaus wird der Tanz geübt. Der Tanz ist keine schlechte Sache. Man darf tanzen, wenn es anständige Tänze sind, wenn der Partner, mit dem man tanzt, ein anständiger Mensch ist. Aber wir alle wissen, daß es unanständige Tänze gibt, daß es unanständige Partner gibt. Wir alle wissen, daß Körpergesten und Körperhaltungen bei manchen Tänzen unerträglich unsittlich sind. Das sind nächste Gefahren zur Sünde, die man meiden muß. Es gibt zweifellos Diskotheken, in die man Jugendliche gehen lassen darf. Aber es gibt auch andere, die eine große Gefahr bedeuten; der Lärm, das hektische, hemmungslose Benehmen und alles das, was sich hier und nachher tut, ist für viele Jugendliche zu einem Fallstrick geworden. Man soll solche Gelegenheiten nicht aufsuchen. Im Jahre 1956 traf ich in München einen Priester aus Ungarn, der nach dem Volksaufstand geflohen war. Er erzählte mir wiederholt, daß er in München von Prostituierten angesprochen werde. Meine lieben Freunde, ich bin viele Jahre in München gewesen, mich hat niemals eine Prostituierte angesprochen. Man muß nicht dahin gehen, wo man von solchen Personen angesprochen wird; man muß sich fernhalten. Wer sich in die Gefahr begibt, der kommt darin um – und er ist umgekommen!

Eine große Gefahr sind weiter Theater und Kino. Das Theater könnte eine sittliche Anstalt sein, wenn es die Tugend verherrlichen würde, wenn es den Sieg der Unschuld darstellen würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. In Filmen und Theatern wird in der Regel das Laster verherrlicht, die Tugend wird geschmäht, die Religion, die Kirche, die Diener des Heiligtums werden schlechtgemacht. Deswegen ist das Theater eine große Gefahr. Auch viele Musiktheaterstücke sind sittlich minderwertig. Ich denke etwa an die Oper Salome von Richard Strauß, wo eine ganz laszive Atmosphäre um Johannes den Täufer ist. In Wien wurde dieses Stück zunächst auf Intervention des Kardinals verboten. Heute geht es über alle Bühnen; angeblich findet niemand Anstoß daran – weil man sich eben an solche Exzesse gewöhnt hat. Schlechte Zeitungen und schlechte Romane sind ebenfalls eine Gelegenheit zur Sünde. Die schlechte Presse sucht die Sensation, und die Sensation wird von überall, aus den ganzen Winkeln der Erde zusammengekarrt. Wozu muß die Mainzer Allgemeine Zeitung ihre Leser davon unterrichten, daß in Italien ein 67-jähriger Priester eine 30-jährige Nonne geheiratet hat? Wozu muß sie das berichten? Das dient doch offensichtlich dazu, Sensationsbedürfnisse zu befriedigen und auch die Kirche schlechtzumachen. Ebenso ist es mit den Romanen. Die meisten Romane sind schlüpfrig, sind niederziehend, verpesten die Phantasie, verherrlichen die Leidenschaft und wecken die Leidenschaft bei vielen, die sie aufnehmen. Wir sollten diese Gelegenheit zur Sünde ernstnehmen und positiv dagegenarbeiten, also für gute Bücher, für gute Zeitungen sorgen und uns an die Verantwortlichen wenden, damit solche hergestellt und verbreitet werden. Vor 1933 gab es in Deutschland 110 katholische Tageszeitungen – 110 katholische Tageszeitungen, die gewiß keine Gelegenheit zur Sünde waren. Es ist alles vernichtet, es ist alles zerstört; wir haben nur noch die Regenbogenpresse, die angeblich neutral ist, in Wirklichkeit aber grundsätzlich meist kirchenfeindlich eingestellt. Auch die großen Errungenschaften von Radio und Fernsehen bieten oft Gelegenheit zur Sünde. Am Himmelfahrtstage 1995 hörte ich im Hessischen Rundfunk eine Messe von Schubert. Franz Schubert war ein braver katholischer Musiker, natürlich etwas leicht, wie die Musiker häufig sind, aber er war im Herzen und auch nach außen immer katholisch. Aber der Ansager erklärte: „Er hat im Credo die Worte ‘Ich glaube an die heilige, katholische Kirche’ ausgelassen aus Haß gegen diese Kirche.“ Ich kenne Schubert seit meiner Kindheit. Ich habe viele Biographien über ihn gelesen, ich habe Partituren von ihm eingesehen. Schubert hat niemals einen Haß gegen die Kirche gehabt, wie hätte er sonst vier Messen komponieren können? Aber er hat die genannten Worte ausgelassen, damit die Messe nicht zu lang wird. Er hatte also einen einfachen Grund dazu. Das war damals ein übliches Verfahren, nämlich Texte vom Credo, das ja sehr lang ist, auszulassen, damit die Leute nicht allzu lange festgehalten würden. Kein sehr schönes Verfahren, gewiß, aber sicher nicht vom Haß eingegeben, wie dieser Ansager im Hessischen Rundfunk bemerkte. Ähnlich ist es mit dem Fernsehen. Wir alle wissen, welche suggestive Kraft von den Bildern ausgeht, wie sie den Menschen faszinieren, wie ein regelrechter Sog entstehen kann, um diesen Dingen nachzugehen. Mir sagte einmal eine katholische Frau: „Seitdem mein Mann diese schweinischen Filme ansieht, verweigere ich mich ihm.“ Weil sie sich prostituiert fühlte durch diese Schweinereien, die der Mann ansieht. Mit gutem Recht.

Nein, meine lieben Freunde, das sind Gelegenheiten zur Sünde, die wir meiden wollen. Wir müssen wissen, daß wir schwach sind und daß wir eine Anlage für das Böse haben. Nitimur in vetitum – wir neigen zum Verbotenen. Hier ist der Punkt, wo wir widerstehen müssen, bei der Gelegenheit zur Sünde. Meide die Gelegenheit – und du meidest die Sünde!

Amen.

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