26. Mai 1996
Geist der Wahrheit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, in heiliger Pfingstfreude Versammelte!
In der Heiligen Schrift wird von den Bewohnern der großen Stadt Babylon berichtet, daß sie eines Tages den Plan faßten, ein Riesenbauwerk zu errichten. „Wir wollen einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht. Wir wollen uns einen Namen machen.“ So gingen sie daran, das Bauwerk aufzuführen; sie waren stolz auf ihre eigengebrannten Ziegelsteine, auf den eigengefertigten Mörtel. „Wir sind ein Volk“, so sagten sie, „wir sprechen eine Sprache und haben die gleichen Worte.“ Aber zu der Ausführung des Planes kam es nicht; vielmehr entstand ein großes Durcheinander und Gegeneinander, und so mußte dieses Projekt begraben werden.
Pfingsten ist das Gegenteil zu Babylon. Die Jünger des Herrn waren an Pfingsten an einem Orte versammelt, und das ist ein Sinnbild für ihre innere Einheit. Sie waren eins im Glauben, eins im Vertrauen, eins in der Liebe. Diese Einheit, die ihnen der Geist schenkte, überwand die Vielheit, überwand die Unterschiede, überwand auch die Gegensätze zwischen den dort versammelten Menschen. Es war der Geist der Wahrheit, der zu ihnen kam, und die Wahrheit schafft die Einheit. Wer immer sich der Wahrheit ausliefert, der wird zu einem Gefolgsmann der Wahrheit und schließt sich mit anderen, die der gleichen Wahrheit folgen, zu einer Gemeinschaft zusammen, von der dann in der Apostelgeschichte gesagt werden kann: „Sie waren ein Herz und eine Seele.“ Gewiß muß die Wahrheit umgesetzt werden; die Wahrheit muß im Leben verwirklicht werden. Aber eine Verwirklichung kann nur erfolgen, wenn man zuvor die Wahrheit ergriffen hat. Man kann nur die Wahrheit verwirklichen, die man angenommen hat.
Der Heilige Geist ist der Geist der Wahrheit. Das besagt zweierlei: Er gibt die Wahrheit, und er fordert die Wahrheit. Der Heilige Geist gibt die Wahrheit, weil er die Wirklichkeit Gottes offenbar macht. Der Heilige Geist vermittelt denen, die sich ihm öffnen, die Wirklichkeit Gottes. „Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ So hat ihn der Herr beschrieben. „Er wird euch in alle Wahrheit einführen.“ Wahrheit ist aber auch gleichzeitig die Übereinstimmung von Aussagen mit der Wirklichkeit; auch das ist die Frucht der Wirklichkeit und die Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Er sorgt dafür, daß die Aussagen wahr sind, d.h. daß sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Er sorgt dafür, daß die Wahrheit in seiner Institution, nämlich in der Kirche, niemals untergeht, sondern daß die verbindlichen und endgültigen Aussagen der Kirche, die mit der Wirklichkeit Gottes übereinstimmen, immer lebendig bleiben. Der Heilige Geist ist der Geist der Wahrheit, d.h. er gibt den Menschen, die sich ihm aufschließen, die Wahrheit.
Er fordert aber auch die Wahrheit. Diejenigen, die sich in seinen Wirkbereich gegeben haben, ertüchtigt er, daß sie der Wahrheit Folge leisten, daß sie an der Wahrheit festhalten, daß sie die Wahrheit vertreten, daß sie die Wahrheit vom Irrtum unterscheiden. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Verkünder der Wahrheit, Wahrheit und Irrtum zu scheiden. Wahrheit und Irrtum stehen sich einander gegenüber wie Feuer und Wasser; sie vertragen sich nicht. Es ist deswegen eine Wirkung des Geistes der Wahrheit, wenn man die Unterscheidung der Geister besitzt; wenn man fähig ist, bei Aussagen, bei Predigten, bei Hirtenbriefen zu unterscheiden, was darin Gottes Wort ist und was eigenes Gemächte des Menschen ist.
Dieser Tage rief mich ein Herr an und sagte mir, er lasse sich seinen Glauben nicht zerstören. Ich fragte: „Wie meinen Sie das?“ „An Ostern“, sagte er, „hat der katholische Theologieprofessor Hilberath in Tübingen gesagt, das Grab Jesu sei nicht leer gewesen. Diese Ansicht schlägt meinem ganzen Glauben ins Gesicht, und ich sage es offen heraus, daß das eine Irrlehre ist.“ Der Mann hatte zweifellos recht. Es gehört zum katholischen Glaubensbestand, daß der entseelte Leib des Herrn nicht im Grabe verblieben und dort zugrundegegangen ist, sondern daß er in verwandelter Gestalt in die Herrlichkeit des Vaters aufgenommen wurde. Zu diesem Herrn Hilberath ist noch einiges zu sagen. Als er den Lehrstuhl in Tübingen übernehmen sollte, hatte der Heilige Stuhl, also das Hilfsorgan des Heiligen Vaters, Bedenken. Aber diese Bedenken wurden weggewischt, durch wen? Durch den Bischof Lehmann, den Bischof Kasper und den Erzbischof Wetter. Diese drei haben für diesen Herrn gebürgt, und so hat der Heilige Stuhl seine Bedenken fallengelassen und zugelassen, daß er den Lehrstuhl in Tübingen übernehmen konnte. Das sei nur zur Steuer der Wahrheit gesagt, damit vor der Geschichte nicht unbekannt bleibt, wer an dem Desaster in der Kirche schuld ist.
Der Heilige Geist ist der Geist der Wahrheit. Er führt die Menschen in alle Wahrheit ein, d.h. er duldet nicht, daß Wahrheiten ungesagt bleiben, daß Wahrheiten „vergessen“ werden, daß Wahrheiten unterschlagen werden. Prüfen Sie einmal, meine lieben Freunde. daraufhin die Aussagen so vieler Kirchenmänner von heute! Da werden allzu häufig dunkle Allgemeinheiten ausgebreitet, aber die konkrete, detaillierte Verkündigung fehlt weitgehend! Wo hören Sie heute etwas von Fegefeuer, Gericht und Verdammnis? Wer spricht heute von der Pflicht, die schwere Sünde, selbst unter Lebensgefahr, zu meiden? Wer redet von der unbedingten Verpflichtung, sich so schnell wie möglich von der Todsünde zu erheben, um nicht ewig verlorenzugehen? Das sind vergessene, unterschlagene und zurückgehaltene Wahrheiten. Dagegen erhebt der Geist der Wahrheit Einspruch. „Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern – also ohne Ausnahme –, was ich euch gesagt habe.“ „Er wird euch in alle Wahrheit einführen“, nicht in eine häretische Verkürzung der Wahrheit.
Wer einmal von der Wahrheit ergriffen ist, der weiß um die Verpflichtung, welche die Wahrheit auferlegt. Er kann nicht mehr von dem schweigen, was er mit Überzeugung angenommen hat. Er muß davon reden, und er ist gezwungen, Wahrheit und Irrtum zu scheiden und zu trennen. Dem Verkünder der Wahrheit ist Entschiedenheit eigen. Er paßt sich nicht an, er duckt sich nicht, er geht nicht in Deckung, sondern er tritt für die Wahrheit ein, gelegen oder ungelegen, denn der Heilige Geist ist kein Konformist! Heute trifft man so viele Menschen, die sich bei den unerhörten Vorgängen in unserer Kirche mit der Rede beruhigen: Es ist halt heute so; man muß es eben hinnehmen. Nein, man muß es nicht hinnehmen. Man muß sich dagegen wehren. Man muß dagegen aufstehen unter Berufung auf den Geist der Wahrheit. Man muß der Wahrheit Zeugnis geben ohne Rücksicht darauf, was daraus folgt.
Die Wahrheit, die der Mensch einmal mit Überzeugung angenommen hat, drängt nach außen; die Wahrheit will sich verbreiten. Die Wahrheit ist mit dem Feuer zu vergleichen. Das Feuer erlischt, wenn es nicht immer neue Nahrung erhält. Es verzehrt sich selbst, wenn ihm nicht Brennstoff zugeführt wird. Ähnlich-unähnlich ist es mit dem Geist der Wahrheit, der in die Herzen der Gläubigen gekommen ist. Er will sich nach außen verbeiten, er will gewinnen und nicht verlieren, und auch nicht bloß erhalten, er will nicht die alten Gläubigen verärgern, wie das viele tun heute, sondern er will neue gewinnen. Das ist der Geist der Wahrheit. Er ist entschieden, und er ist missionarisch.
Franz Grillparzer hat einmal ein schönes Gedicht verfaßt an den Halbmond. Er spricht den Halbmond an: „Sei gegrüßt, du Halber dort oben. Wie du bin ich einer.“ Ja, wahrhaftig, daß müßte so mancher von sich bekennen. Wie du bin ich einer, ein Halber nämlich, ein Halber, ein Unentschiedener, der sich duckt und bedeckt hält, wenn es um das Zeugnis der Wahrheit geht, um ja nicht anzuecken, um keine Konflikte und Auseinandersetzungen zu riskieren. Nein, der Geist der Wahrheit ist kein Konformist! Er will Ganze, denn er will sich verbreiten, er will werben, er will gewinnen, um die Wahrheit allen zu vermitteln.
Der heilige Cyrill von Alexandrien wurde einmal gefragt: „Was würden Sie tun, wenn jemand Interesse hätte, ein Christ zu werden?“ Er antwortete: „Ich würde ihn einladen, ein Jahr mit mir in meinem Hause zu leben.“ Er war überzeugt davon, daß das Bespiel seines Lebens den bisher Ungläubigen zum Glauben führen würde. Er muß offenbar ein überzeugtes und überzeugendes Leben geführt haben. Und tatsächlich, nicht mit Büchern werden Menschen gewonnen, sondern durch geisterfüllte Zeugen, durch Zeugen der Wahrheit, die die Wahrheit in ihr Leben umsetzen.
Die heilige Hildegard hat einmal eine Predigtreise unternommen, auf der sie auch nach Köln kam, und sie hat, wie es ihre Art war, kein Blatt vor den Mund genommen. Sie sagte den Priestern zu Köln: „Wenn ihr das verkündigt, was ihr selbst produziert, seid ihr Possenreißer. Damit verscheucht ihr bestenfalls im Sommer einige Fliegen.“ Der Verkünder der Wahrheit hat nicht Selbsterzeugtes zu verkünden, sondern das, was der Geist der Wahrheit ihm zuspricht. Wenn er dies tut, dann wird aber in ihm das Wort der Wahrheit zu einer Kraft und zu einem Trost. Die Apostelgeschichte spricht von der Kraft und vom Trost des Wortes Gottes, von der Kraft und vom Trost des Heiligen Geistes. Er kräftigt diejenigen, die sich ihm öffnen, d.h. er besiegt ihre Schwächen, und er gibt ihnen Trost, d.h. er hilft ihnen in den Verfolgungen, die sie ob des Zeugnisses für die Wahrheit erleiden müssen.
Wir wollen, meine lieben Freunde, am heutigen Pfingstsonntag den Geist der Wahrheit bitten, daß er Kraft und Trost auch in unsere Herzen sendet, daß er wie ein Sturm daherfährt, um alles Morsche zu zerschlagen, daß er wie ein Feuer kommt, um alles Irdisch-Sinnliche zu verbrennen, und daß er mit seiner Sprachengabe uns ermächtigt, für ihn Zeugnis zu geben, ohne Rücksicht auf unser eigenes Wohl und Wehe.
Amen.