Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 1995

Stephanus, Blutzeuge des Neuen Bundes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Mit Absicht stellt die Kirche die Gestalt des heiligen Stephanus gleich hinter das Fest der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Gestern sangen die Engel das Lob des angekommenen Gottessohnes. Heute tragen sie die Seele des für den Gottessohn gestorbenen Martyrers zum Himmel. Gestern hieß es: „Ich verkünde euch eine große Freude“,heute aber setzt Weinen und Wehklagen ein, da der Erzmartyrer der Kirche einen grausamen Tod erlitt.

Wir können Stephanus unter dreifacher Hinsicht betrachten, als Christen, als Theologen und als Blutzeugen.

Was ist vom Christen Stephanus ausgesagt? Erstens, er war voll Glaubens und Heiligen Geistes. Der Glaube ist die Grundlage des Christseins. Der Glaube macht den Christen. Wer zwar die Taufe empfangen hat, aber den Glauben verloren hat, kann nicht mehr im vollen Sinne als ein Christ bezeichnet werden. Der Glaube ist die Überzeugung von dem, was man nicht sieht, die Zuversicht auf das, was man erhofft. Überzeugung, d.h. Überführtsein von der Wahrheit, muß der Gläubige haben. Und Zuversicht, das heißt nicht eine vage Hoffnung, sondern ein festes, auf einen bestimmten Wurzelgrund aufgebautes Vertrauen.

Wenn heute gefragt wird und Untersuchungen angestellt werden: Wie kommt es denn, daß wir fast nur noch alte Leute in der Kirche haben, daß es immer weniger werden? Meine lieben Freunde, die Antwort ist sehr leicht: Es fehlt an Glauben! Ohne den Glauben gibt es keine vollen Kirchen. Ohne Glauben gibt es keinen Priesternachwuchs. Ohne Glauben gibt es keine besetzten Klöster. Voll des Glaubens und des Heiligen Geistes war Stephanus. Denn wer den Glauben hat, der in der Liebe wirksam ist, der lebt im Heiligen Geiste. Glaube und Heiliger Geist gehören zusammen. Die wahrhaft Gläubigen sind vom Geiste erfüllt und werden vom Geiste getrieben. Deswegen folgt gleich die zweite Aussage über den Christen Stephanus: Er war voll Gnade und Kraft. Natürlich! Wer den Glauben und den Heiligen Geist empfangen hat, in dem wirkt die Gnade, die heiligmachende Gnade und die helfende Gnade. Und diese Gnade treibt Machttaten aus ihm hervor, Krafttaten. Wunder und Zeichen hat er gewirkt, Visionen hat er geschaut. Er sah den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes stehen. Stehen sah er ihn. Warum denn stehen? Christus hat sich erhoben, um seinen Martyrer aufzunehmen. Der Christ Stephanus war voll Glaubens und voll Heiligen Geistes; er war voll Gnade und voll Kraft.

Aber Stephanus war nicht nur ein einfacher Christ, er war auch ein Theologe. Die Rede, die er vor dem Hohen Rat hielt, zeigt, daß er die ganze Heilsgeschichte des Volkes Israel überschaut. Er sieht die Führungen Gottes, aber auch die Widerspenstigkeit des Volkes. Er kennt seinen letzten Versuch, das Volk zu retten, indem er Jesus schickt, den Erlöser, den Heiland. Aber die unbeschnittenen Herzens sind, nehmen ihn nicht auf. Und so greift er zu scharfen Worten: „Ihr Halsstarrigen, ihr Widerspenstigen, die ihr immer dem Willen Gottes widersteht.“ So ruft er der höchsten jüdischen Behörde ins Gesicht. Er predigt, so heißt es, wider Moses, wider die heilige Stätte und wider das Gesetz. Das sind drei Vorwürfe. Er predigt wider Moses. Mit Moses ist natürlich das Gesetz vom Berge Sinai gemeint, ist der Alte Bund gemeint. Moses ist ja der Repräsentant des Alten Bundes. Stephanus predigt gegen den Alten Bund, weil der Neue gekommen ist. Der Alte ist erledigt, der Alte ist abgetan. Er ist ersetzt durch den Neuen. So kann Stephanus gar nicht anders als wider Moses zu predigen, nämlich als den Heilsbringer, der durch Christus ersetzt ist. Stephanus predigt wider die heilige Stätte. Das ist der Tempel.Der Tempel als Kultort ist überholt. Jetzt ist das neue Opfer eingesetzt, das nach Malachias an allen Orten, nicht bloß an einem Ort, an allen Orten Gott dargebracht wird, ein wahres und heiliges und unbeflecktes Opfer. Der Tempel ist überflüssig geworden. Das hat sich ja gezeigt beim Tode Jesu, als der Vorhang des Tempels mitten hindurch zerriß. Das heißt, der Unterschied zwischen Heiligem und Allerheiligstem ist aufgehoben. Ein jeder, nicht nur der Hohepriester hat Zugang zum Allerheiligsten. Stephanus predigt wider das Gesetz. Ja nun nicht so, als ob das Sittengesetz des Alten Bundes, das sittliche Naturgesetz aufgehoben wäre oder jemals aufgehoben werden könnte. Selbstverständlich nicht. Aber das Gesetz als Heilsbringer, das Gesetz als Heilsmittler, das Gesetz als Heilsfaktor ist abgelöst durch den Glauben an Jesus. Der Christ gewinnt das Heil, indem er sich an Jesus anschließt und auf Jesus baut und im Gehorsam gegen Jesu Gebote verharrt. Dadurch gewinnt er das Heil. Und insofern, als Heilsfaktor, ist das Gesetz abgelöst durch den Glauben an Jesus Christus. Stephanus hat gegen gewisse Gegenstände gepredigt, gegen Moses, gegen die heilige Stätte, gegen das Gesetz. Heute würde man vielleicht sagen, er habe eine Drohbotschaft ausgesprochen. Aber Stephanus wußte eben, daß man das Neue nicht in die Seelen pflanzen kann, wenn das Alte nicht ausgerottet wird. Das Vergangene muß dem Neuen weichen. Der Alte Bund muß dem Neuen Platz machen. Es gibt keine Unentschiedenheit zwischen Altem und Neuem. Entweder Judentum oder Christentum, aber nicht Judentum und Christentum.

Die Unentschiedenheit ist heute weit verbreitet, meine lieben Freunde. Vor wenigen Wochen sagte mir einer meiner Studenten, der Priester werden will, er unterzeichne weder für das Volksbegehren noch gegen das Volksbegehren. Er glaubte damit etwas sehr Kluges gesagt zu haben. Er meinte: Wir wollen nicht polarisieren. Ja, meine lieben Christen, wer polarisiert denn? Derjenige, der die Wahrheit und die Ordnung verteidigt, oder derjenige, der gegen Wahrheit und Ordnung angeht? Wer polarisiert denn? Derjenige, der an der Ordnung der Kirche festhält, oder derjenige, der sie in Frage stellt? Und was tut denn der, der jetzt angesichts dieser Fragestellung schweigt und feige und mutlos zusieht, wie die Zerstörung weitergeht? Er macht sich mitschuldig an fremden Sünden. Es ist unsere heilige Pflicht, gegen Irrtum und gegen Unordnung und gegen Unrecht aufzustehen. Wenn wir das nicht tun, dann versäumen wir unsere Pflicht. Der heilige Bonifatius hat, als er nach Deutschland kam, nicht den germanischen Götterglauben stehen lassen und daneben das Christentum gesetzt. Er hat den Götterglauben vernichtet, um Platz zu schaffen für das Christentum. Das ist also die Botschaft, die von dem Theologen Stephanus ausgeht: Man kann nicht den alten Wein in neue Schläuche füllen, sondern neuen Wein in neue Schläuche.

Und schließlich Stephanus, der Blutzeuge. Die Wahrheit reizt die Menschen, meine lieben Freunde. Das ist eine alte Erfahrung. Wer für die Wahrheit eintritt, der muß um sein Leben fürchten. Die Wahrheit ist eine unbequeme Herrin, darum stehen die Menschen auf wider die Wahrheit, denn sie sind in den Irrtum verliebt, weil er bequem ist. Und so mußte Stephanus als erster Blutzeuge des jungen Christentums erfahren, daß der Preis für die Wahrheit der Tod ist. Andere sind einen schnellen Tod gestorben. Als die englische Königin Anne Boleyn im Staatsgefängnis des Tower gefangengehalten wurde, bangte sie vor dem Tode. Aber der Kommandant des Tower beruhigte sie. Er sagte: „Die Hinrichtung ist keine schlimme Sache; ein einziger Schwertstreich, und Sie sind nicht mehr.“ Richtig. Der Tod, der durch Enthaupten über jemanden kommt, ist sehr rasch. Aber ein Tod durch Steinigen ist ein sehr schmerzlicher und lange dauernder Tod. Ein Tod durch Steinigen ist ein qualvoller, mit vielen Schmerzen verbundener Heimgang. Diesen Tod hat Stephanus erlitten. Aber damit waren auch die Fronten klar. Jetzt hat es sich gezeigt: Eine Symbiose, ein Zusammenleben zwischen Juden und Christen ist unmöglich. Wer Christ wird, muß dem Judentum den Abschied geben, und wer beim Judentum bleiben will, der kann nicht Christ werden. Bisher hatten nämlich die Apostel und ihre Anhänger versucht, beides zu vereinigen. Wir lesen ja, wie Petrus und Johannes in den Tempel gingen, um dort zu beten. Sie haben also weiter wie fromme Juden am jüdischen Gottesdienst teilgenommen. Das ist jetzt zu Ende. Jetzt ist klar: Ein Entweder-Oder steht zwischen Judentum und Christentum. Jetzt ist die Scheidung eingeleitet, und sie wird nie mehr bis zum Ende dieser Welt aufhören.

Die Christengemeinde wurde in die Verfolgung des Stephanus einbezogen. Die Behörden gingen mit Recht davon aus, daß die Verkündigung des Stephanus das Glaubensbekenntnis der Gemeinde sei. Also, so sagten sie sich, denken die Gemeindemitglieder genauso wie er. Infolgedessen verfolgten sie nicht nur Stephanus als den Protagonisten, sondern auch die anderen Gemeindemitglieder. Sie verjagten sie, sie verbannten sie, oder die Christen sind aus Furcht selbst geflohen. Aber diese Flucht und diese Vertreibung sollte sich zum Nutzen des Evangeliums auswirken. So heißt es in der Apostelgeschichte: „Sie verkündeten überall das Evangelium von Jesus Christus.“ Also die Versprengten, die Zerstreuten, die Verjagten, die Geflüchteten setzten sich nicht hin und waren ängstlich besorgt, ihr eigenes Leben zu retten, nein, sie traten auf und verkündeten das Evangelium von Jesus Christus. Sie gewannen neue Jünger dazu. Die Gemeinde verbreitete sich durch die Zerstreuung. Nach Gottes willen sollte die Vertreibung zum Samen für neue Christen werden.

Das also ist die Bedeutung des Stephanus, meine lieben Freunde. Als Christ war er voll Glaubens und Heiligen Geistes, voll Gnade und Wahrheit. Als Theologe hat er die Unvereinbarkeit von Altem und Neuem Bund erkannt und ausgesprochen. Als Blutzeuge hat er bis zum letzten Atemzug das Evangelium Jesu gelebt, das Evangelium der Wahrheit und der Liebe. Er hat nämlich sterbend für seine Verfolger gebetet: „Herr“ – das ist das letzte Gebet, das er gesprochen hat –, „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Jetzt wissen wir also, meine lieben Christen, was wir weihnachtlichen Menschen tun müssen. Wir müssen mutig und furchtlos für die Wahrheit und für das Recht, für die Ordnung und für die Gerechtigkeit eintreten. Wir müssen den Irrtum hassen und die Unordnung bekämpfen, aber wir müssen die Irrenden und die Zerstörer der Ordnung lieben, wie Stephanus sie geliebt hat.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt