Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Mai 1995

Durch Trübsale in das Reich Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Durch viele Trübsale müssen wir eingehen in das Reich Gottes. Zu den Trübsalen, die uns verordnet sind, gehören Krankheiten, Niederlagen, Verluste, Entbehrungen. Aber es gehören auch dazu die Enttäuschungen. Enttäuschungen sind Erfahrungen, die wir mit Menschen machen, auf die wir Zuversicht und Vertrauen gesetzt hatten, die aber unsere Zuversicht und unser Vertrauen nicht gerechtfertigt haben. Durch viele Enttäuschungen müssen wir eingehen in das Reich Gottes.

Reich an Enttäuschungen ist die Ehe. Man muß nicht gleich an die eheliche Untreue denken, obwohl sie häufig genug ist. Auch viele andere Begebnisse im Laufe der Ehe lassen den einen oder den anderen oder beide Gatten die traurige Feststellung treffen: Das hatte ich von dir nicht erwartet. Reich an Enttäuschungen ist die Ehe. Gatten enttäuschen einander. Aber auch die Kinder enttäuschen ihre Eltern. Ein ungeratener Sohn und eine leichtsinnige Tochter sind bittere Enttäuschungen für die Eltern, die sich etwas anderes von ihnen erwartet hatten. Die Eltern haben verziehen, immer wieder, aber stets von neuem wurden sie von ihren Kindern enttäuscht. Und so geht es manchmal dahin, bis sich die Augen im Tode schließen.

Werden auch Kinder von ihren Eltern enttäuscht? O ja, auch das gibt es. Wiederholter Zank zwischen Vater und Mutter, rechthaberisches Streiten, lieblose gegenseitige Vorwürfe können den Kindern das Elternhaus verleiden, so daß sie sich nach draußen sehnen. Manche Kinder tragen in ihren Seelen dunkle Schatten, düstere Erinnerungen an Erlebnisse aus dem Elternhaus, von denen sie zu niemandem sprechen, die aber in ihrer Seele unaufgelöst und wie eine schwere Last liegen.

Durch viele Trübsale, durch zahllose Enttäuschungen müssen wir eingehen in das Reich Gottes – Enttäuschungen zwischen Geschwistern, Verwandten, Arbeitskollegen. Es ist eine endlose Kette, die sich in unserem Leben hindurchzieht. Enttäuschung reiht sich an Enttäuschung. Enttäuschungen sind wie Dolchstiche. Sie verwunden das Herz des Menschen; und wenn die Wunden auch mit der Zeit vielleicht heilen, die Narben bleiben.

Auch Jesus, unser Heiland, hat viele Enttäuschungen erlebt. Auch er ist von Enttäuschungen nicht verschont geblieben. Enttäuscht hat ihn sein Volk. Es war das auserwählte Volk, und es hätte ihn mit Begeisterung empfangen, seine Lehre annehmen, seine Weisungen befolgen sollen. Aber sein Volk hat ihn abgelehnt, hat ihn verworfen, hat ihn ans Kreuz gebracht. Wie muß Jesus von seinem Volk enttäuscht gewesen sein! „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt, aber du hast nicht gewollt.“ Ob dieser Enttäuschung hat der Herr, an den Halden von Jerusalem sitzend, über seine Stadt geweint.

Enttäuscht haben ihn auch seine Jünger. Ihr Unverständnis, ihr irdischer Sinn haben unserem Herrn schwer zugesetzt. Und was soll ich sagen von den Enttäuschungen, die sie ihm bereitet haben in seinem Leiden? Verleugnung des Petrus, Verrat des Judas, Flucht der Apostel. Und als er dann siegreich auferstanden war, da wurden ihm neue Enttäuschungen bereitet, denn die Jünger waren so zögernd und so schwer von Begriff. Sie mochten vor Traurigkeit oder vor Freude nicht glauben, daß es der auferstandene Heiland ist, der vor ihnen stand, und der Zweifel des Thomas zeigt, wie es in ihnen bestellt war. Enttäuschungen auch nach dem Triumph der siegreichen Auferstehung.

Heute ist das Fest der Himmelfahrt. Durch viele Enttäuschungen mußte Christus in die Seligkeit des Vaters eingehen. Der Jünger ist nicht über seinem Meister. Wir brauchen uns deswegen nicht zu wundern, wenn unser Leben von Enttäuschungen durchsetzt ist. Mag die Wissenschaft noch so viel entdecken, mag die Technik noch so viel erfinden, es gibt eine Quelle der Enttäuschungen, die nie verstopft werden wird, das ist der Mensch, der unzuverlässige, der brüchige, der an seine Sündenneigung verlorene Mensch, der die Enttäuschungen bereitet. Diese Quelle der Enttäuschungen wird immer offen bleiben, solange diese Welt steht.

In der Ewigkeit allerdings wird es keine Enttäuschungen mehr geben. Der Himmel ist eine Stätte, in der die Enttäuschungen aufhören. Da werden wir viele treffen, die wir gekannt haben, und solche, die wir nicht gekannt haben. Und es werden immer neue Glieder in den Himmel hinzukommen, denn die Erde bevölkert fortwährend den Himmel. Aber da ist keiner, der uns enttäuschen wird. Das wird sicher ein großer Teil der Seligkeit des Himmels sein, daß wir von Menschen umgeben sind, die uns nicht mehr enttäuschen. Wie ist es schon auf Erden so tröstlich, wenn man in einer Gemeinschaft ist, auf deren Glieder man sich verlassen kann! Wie ist es doch tröstlich zu wissen, einer steht für den anderen ein, keiner ist ein Falscher, alle sind bemüht, einander beizustehen und zu helfen! Und wie ist es auf Erden kränkend und bedrückend, wenn man befürchten muß: Da ist einer, der ein Verräter ist, der tut bloß so, der heuchelt, der wird uns enttäuschen.

Auch wir werden in der Seligkeit des Himmels niemanden mehr enttäuschen. Auf Erden haben wir oft enttäuscht. Manchmal ist uns mit dürren Worten gesagt worden: Du hast mich enttäuscht. Und ein andermal haben wir es an den vorwurfsvollen Blicken abgelesen, daß wir andere enttäuscht haben. Enttäuschungen bereiten die meisten, vielleicht alle Menschen. Auch vor den Dienern des Heiligtums ist man nicht sicher. Manchem ist schon durch das, was er an einem Priester erleben mußte, ein ganzer Himmel eingestürzt. In der Ewigkeit werden wir niemanden mehr enttäuschen. Da gibt es nur noch Sieger, die dem Herrn das Loblied ihres Triumphes singen. Aber jetzt ist die Zeit des Kampfes. Hier müssen wir ringen, daß wir andere nicht enttäuschen, und hier müssen wir bereit sein, Enttäuschungen, die uns andere bereitet haben, zu verzeihen. Nur so erwerben wir uns die Anwartschaft auf jenen Zustand, wo kein Enttäuschen und kein Enttäuschtwerden mehr sein wird.

Amen.

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