30. Oktober 1994
Der Kontingenzbeweis für die Existenz Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In den fünf Jahren, die ich in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik zugebracht habe, kam einmal ein junger Mann ins Pfarramt und wollte seinen Kirchenaustritt erklären. Auf Befragen, welches der Grund sei, gab er zur Antwort: „Ich habe jetzt eine wissenschaftliche Weltanschauung, nämlich den historischen und dialektischen Materialismus. Was die Kirche lehrt, ist Mumpitz.“ Der Angriff, der gegen den Glauben vorgetragen wird und sich auf die sogenannte Wissenschaft beruft, ist für den, der die Wissenschaft nur von außen kennt, recht eindrucksstark. Wir, die wir seit Jahrzehnten wissenschaftlich tätig sind, wissen, daß die Berufung auf die Wissenschaft oft hohl ist, daß dahinter Ideologien, Interessen, vorgefaßte Meinungen und Vorurteile stehen. Wir lassen uns deswegen von der Berufung auf die Wissenschaft nicht leicht beeindrucken. In jedem Falle soll uns die versuchte Anrufung der Wissenschaft im Kampfe gegen die Religion Anlaß sein, unseren Glauben mit rationalen Überlegungen zu stützen, uns gewiß zu machen, daß wir mit unserem Glauben nicht gegen die Vernunft und gegen die Wissenschaft stehen, sondern daß die rechte Wissenschaft den Glauben stützt und zum Glauben führt. Halbes Wissen führt zum Teufel, ganzes Wissen führt zu Gott.
Deswegen sind wir seit einiger Zeit bemüht, uns die Gottesbeweise vorzuführen, also jene denkerischen Bemühungen, an deren Ende immer der Satz steht: „Also existiert ein Gott.“ Am heutigen Sonntag wollen wir uns den Kontingenzbeweis zur Betrachtung vornehmen. Dieser Kontingenzbeweis ist in der Heiligen Schrift enthalten. Im 3. Kapitel des Hebräerbriefes ist er mit einem Satz ausgesprochen: „Jedes Gebäude wird von irgendeinem gemacht; der aber alles gemacht hat, ist Gott.“ In diesem einfachen Sätzchen ist der Kontingenzbeweis wie in einer Hülle eingeschlossen.
Alles, was ist, jedes Gebäude, jede Uhr, jedes Buch, hat einen Urheber. Und was von dem einzelnen Gegenstand gilt, das muß auch vom Gesamten gelten: Auch dieses muß einen Urheber haben. Daß etwas ist, wissen wir alle – ein Haus, eine Brücke, ein Stuhl, ein Tisch. Niemand wird behaupten, daß diese Gegenstände von selbst entstanden seien. Sie haben jemanden, der sie errichtet, der sie angefertigt hat. Der Baumeister, die Bauleute, der Schreiner, sie haben diese Gegenstände verfertigt und sie uns zum Gebrauch überlassen. Es gilt das Kausalitätsprinzip. Das heißt, jede Wirkung muß eine Ursache haben. Es gibt keine Wirkungen, die ursachenlos wären. Auch wenn wir manchmal die Ursache nicht kennen, so hat doch jede Wirkung eine Ursache. Es muß für jedes Ding, ob es ein Haus ist oder ein Tisch, einen zureichenden Grund geben, und dieser zureichende Grund ist, wie wir wissen, das Wirken des Baumeisters und seiner Bauleute, die Arbeit des Handwerksmeisters und seiner Gesellen.
Das Kausalitätsprinzip gilt unverbrüchlich. Immer wieder haben wir verblüffende Beweise seiner Geltung erlebt. Der deutsche Astronom Herschel hat im vorigen Jahrhundert den Planeten Uranus entdeckt, also einen Stern, der wie die Erde um die Sonne kreist. Nun hat man aber bei der Umlaufbahn des Uranus Unregelmäßigkeiten festgestellt. Sie konnten zwei Ursachen haben. Entweder stimmte das Newtonsche Gesetz der Anziehungskraft nicht, oder es war da ein Körper, der den Uranus von seiner Bahn ablenkt. Der französische Astronom Arragon gab dem jungen Gelehrten Le Verrier den Auftrag, der Sache nachzugehen. Le Verrier stellte eine Gleichung mit dreizehn Unbekannten auf und legte im November 1845 die Lösung dar. Die Berliner Sternwarte erhielt den Auftrag, am Himmel nachzusehen, ob sich dort der von Le Verrier errechnete Himmelskörper befinde. Noch am selben Abend entdeckten die Gelehrten der Berliner Sternwarte den Planeten Neptun. Er war es, der den Uranus von seiner Bahn abgelenkt hatte und natürlich auch heute noch ablenkt. Das Kausalprinzip gilt unbeschränkt, und es gibt von ihm keine Ausnahme.
Was nun für die einzelnen Gegenstände unseres täglichen Lebens gilt, das muß auch für die Welt Geltung haben. Sie ist da, wunderbar und herrlich ausgestattet. Aber die Welt erklärt sich nicht selbst. Sie ist nicht so geartet, daß man sagen kann, sie müßte da sein. Sie könnte auch nicht da sein, denn sie ist ja endlich und veränderlich, und alles, was endlich und veränderlich ist, ist kontingent. Kontingent heißt gleichgültig dagegen, ob es ist oder nicht ist. Es ist keine zwingende Notwendigkeit, daß eine Welt besteht. Die Welt ist nicht so geartet, daß sie kraft ihres Wesens bestehen müßte, sondern sie ist von jemandem ins Dasein gerufen worden. Sie muß eine Ursache haben.
Gegen die Kontingenz der Welt werden Einwände erhoben, die sich wiederum auf die Wissenschaft berufen. Vor einiger Zeit hat einmal ein sogenannter Gelehrter vor einem großen Auditorium ein Experiment vorgeführt. Er hatte ein Glasgefäß, das zum größten Teil mit Wasser gefüllt war und ein wenig Öl oben trug. Eine Kurbel ging in das Gefäß, und er fing an zu drehen. Bei dieser Drehung sammelte sich das Öl in einer Kugel um die Kurbel. Als er schneller drehte, verflachte die Kurbel zu einer Linse, und bei noch schnellerem Drehen löste sich von der Linse ein breiter Rand ab und schloß die Linse ein. „Sehen Sie“, sagte er, „so ist die Welt entstanden.“ Die Zuhörer lauschten andächtig den Ausführungen des Herrn Professors. Aber dann stand hinten ein einfacher Mann auf. „Was Sie uns da vorgeführt haben“, sagte er, „ist sehr schön. Aber können Sie mir sagen: Wer hat denn im Weltall die Kurbel gedreht?“
Nicht wahr, diese Frage darf nicht verboten sein, man muß fragen können, wie es dazu gekommen ist, daß sich das Weltall entwickelt hat. Und da können wir nur sagen: Es muß eine Potenz da sein, eine gewaltige Macht, die selbst nicht mehr von einem anderen abhängt, die unabhängig von der Welt und unermeßlich ist, von der aber alles andere hervorgeht. Und diese Macht nennen wir Gott. Gott muß ein Wesen haben, das sein Dasein fordert. Bei Gott sind nicht Dasein und Sosein getrennt, so daß er auch nicht da sein könnte, sondern sein Sosein ist derartig, daß sein Dasein notwendig damit gegeben ist. Er ist nicht kontingent, sondern er ist absolut.
Wenn man sagen wollte, es sei die Welt von einem Zweiten geschaffen worden, dann von einem Dritten, und wenn man immer weiter gehen wollte, dann käme man nie an ein Ende, dann gäbe es keinen ersten Beweger und demnach auch keinen zweiten. Nein, es muß ein Erstbeweger da sein, der selbst nicht mehr bewegt wird, sondern alles andere bewegt. Und diesen Erstbeweger nennen wir Gott.
Die Kontingenz der Welt kann nicht allen Wirklichkeiten übergestülpt werden, sondern es muß ein nichtkontingentes Wesen vorhanden sein, das die Existenz aller kontingenten Wesen erklärt. Wiederum kann ich eine wirkliche Begebenheit erzählen, die diese Überlegungen stützt. Ein französischer Forscher, ein ungläubiger Mann, war mit mehreren arabischen Begleitern in der Wüste unterwegs. Als es Abend geworden war, breitete einer der Araber seinen Gebetsteppich aus und betete. Der Forscher fragte ihn: „Was tust du da?“ „Ich bete.“ „Zu wem betest du?“ „Zu Gott.“ Er fragte ihn, ob er Gott schon gesehen habe. „Nein“, sagte der Araber. „Dann bist du ein Tor, wenn du zu etwas betest, was du nicht gesehen und auch nicht gehört und nicht gefühlt hast.“ Der Araber sagte nichts. Am anderen Morgen ritt der französische Forscher früh aus, kam zurück und erklärte, es müsse in der Nacht eine Karawane vorbeigezogen sein. Da horchte der Araber auf. „Haben Sie die Karawane gesehen?“ „Nein.“ „Ja, woher wissen Sie das?“ „Ich habe die Spuren im Sande gesehen.“ In diesem Augenblick ging majestätisch im Osten die Sonne auf. Da wies der Araber den französischen Forscher auf sie hin und sagte ernst und gemessen: „Siehe da, die Fußspur Gottes!“
Wahrhaftig, jedes Gebäude wird von irgendeinem gemacht. Der aber alles gemacht hat, ist Gott. Im Johannesprolog, den wir in jeder heiligen Messe am Schluß beten, heißt es: „Alles ist durch ihn geworden, und nichts, was geworden ist, ist ohne ihn geworden.“ Er ist der Schöpfer von allem, der selbst ungeschaffen ist, aber alles ins Leben ruft. Im Buche Hiob findet sich eine ergreifende Stelle, die diese Wahrheit in plastischer Weise unterstreicht: „Frag doch das Vieh, das wird es dich lehren; die Vögel des Himmels, sie tun es dir kund; die Erde schau an, sie wird es dir zeigen; die Fische des Meeres erzählen es dir. Wer erkennt nicht aus all dem, daß die Hand des Herrn dies geschaffen, dem in Händen ruht aller Wesen Leben und der Geist jedes menschlichen Leibes.“
Amen.