4. September 1994
Das Erkennen Gottes auch durch die Heiden
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Ob wir ihn finden werden?“ Das ist eine Frage, die sich viele Menschen stellen. Ob wir ihn finden werden – nämlich Gott. Sie suchen auf den verschiedensten Wegen, um Gott zu finden. Gott selbst hat eine wunderbare Gottesoffenbarung vor uns hingestellt in der Natur. In der Weltschöpfung hat er sich nicht unbezeugt gelassen. Die klassische Stelle dieser natürlichen Offenbarung steht im Brief des Apostels Paulus an die Römer: „Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbar über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch ihre Ungerechtigkeit niederhalten. Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar. Gott selbst hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen. Deshalb sind sie nicht zu entschuldigen. Denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn doch nicht als Gott geehrt noch ihm gedankt, sondern wurden töricht in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Weise meinten sie zu sein und sind Toren geworden. Die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauschten sie mit dem Bilde von vergänglichen Menschen, Vögeln, vierfüßigen und kriechenden Tieren. Darum überließ sie Gott den Gelüsten ihres Herzens, der Unreinigkeit, so daß sie ihre eigenen Leiber entehrten. Den wahren Gott haben sie mit falschen Götzen vertauscht und die Geschöpfe verehrt und angebetet statt des Schöpfers, der gepriesen sei in Ewigkeit.“
Dieser herrliche Text, meine lieben Freunde, wirft drei Fragen auf, die wir zu beantworten suchen wollen.
1. Mit welchem Recht spricht Paulus davon, daß auch den Heiden, also den Menschen ohne übernatürliche Offenbarung, eine Gotteserkenntnis aus der natürlichen Offenbarung möglich ist?
2. Was ist von Gott durch diese natürliche Offenbarung erkennbar?
3. Warum sind die Gottesleugner unentschuldbar?
Die erste Frage lautet: Mit welchem Recht spricht Paulus den Menschen ohne übernatürliche Offenbarung die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis zu? Es ist klar, er verweist auf die Natur. Wenn der Mensch um sich blickt und die Natur betrachtet, dann wird, wenn er guten Willens ist, sein Blick auf den Schöpfer der Natur gelenkt. Die Natur ist ein Buch, und dieses Buch spricht von dem, der es gemacht hat. Die Natur ist ein Werk, und das Werk kündet von dem Werkmeister, der es hervorgebracht hat. „Jedes Haus wird von irgendeinem errichtet“, schreibt der Hebräerbrief, „der aber alles gebaut hat, der ist Gott.“ Jedes Haus wird von irgendeinem errichtet, der aber alles gebaut hat, der ist Gott. Im Alten Testament bezeugt das Buch der Weisheit: „Seine ewige Macht und Göttlichkeit wird durch Vergleich“ – durch Vergleich, durch Vergleichsschluß – „aus seinen Werken erkannt.“ Dem unverbildeten Sinn, dem wohlmeinenden Herzen ist die Offenbarung Gottes in der Natur ein lebendiges Zeugnis für die Existenz Gottes.
Vor einer Reihe von Jahren ging die beliebte Sendung mit dem Naturwissenschaftler Bernhard Grzimek über die Fernsehsender. Grzimek verstand es, die Menschen zu unterhalten, aber er machte auch manchmal weltanschauliche Bemerkungen. Einmal fiel der Satz: „Ich als Naturwissenschaftler bin natürlich Atheist!“ Damit hatte sich Grzimek dekuvriert; denn wenn er in seine Umgebung schaut, wenn er seine Kollegen betrachtet, dann wird er finden, daß die meisten Naturwissenschaftler und daß die größten Naturwissenschaftler fast ausnahmslos gläubig waren. Er kann sich nicht auf seine Naturwissenschaft berufen, wenn er Gott leugnet. Er kann sich auch nicht auf seine Kollegen berufen, wenn er Gott leugnet, sondern das ist seine persönliche Sache, die zu ergründen uns nicht möglich ist. Ein Aristoteles, gewiß einer der Väter der gesamten abendländischen Kultur, hat den Satz geschrieben: „Obwohl der Unsichtbare den Menschen nicht zugänglich ist, ist er doch von allen erkennbar.“ Lamarck – um ein Beispiel zu erwähnen – Lamarck, der Vorläufer der Evolutionstheorie, sagt: „Man hat die Natur für Gott gehalten. Wie merkwürdig! Man hat die Uhr mit dem Uhrmacher verwechselt, das Werk mit dem Werkmeister.“ Und unser schlesischer Dichter Angelus Silesius hat einmal die schönen Verse verfaßt: „Kein Stäublein ist so klein, kein Tüpflein ist so fein, der Weise siehet Gott ganz herrlich drinnen sein.“ Wahrhaftig, kein Stäublein ist so klein, kein Tüpflein ist so fein, der Weise siehet Gott ganz herrlich drinnen sein. Die Natur ist ein Bilderbuch Gottes.
Die zweite Frage lautet: Was ist denn von Gott zu erkennen aus diesem Buch der Natur? Nun, zuerst seine Existenz. Wenn eine Welt existiert, dann muß auch ein Weltenschöpfer existieren. Das Kausalgesetz ist eben lückenlos, und es ist nicht möglich – wie es Kant versucht hat –, das Kausalgesetz auf diese Erde, auf die Empirie, einzuschränken. Der fragende Verstand, das forschende Gemüt des Menschen fragt auch, warum es überhaupt etwas gibt. Und da nichts aus nichts entstehen kann, muß jemand da sein, der diese Welt ins Leben gerufen hat. Der große Newton, nun wirklich ein bedeutender Naturwissenschaftler, dessen Name immer mit Ehrfurcht genannt werden wird, machte einmal mit einem Freund einen Abendspaziergang. Da bat ihn der Freund um einen kurzen Gottesbeweis. Newton hob den Finger, wies auf den Himmel, wo die Sterne aufgingen. „Da!“ Mehr hat er nicht gesagt. Das war für ihn genug des Gottesbeweises. Sein Dasein ergibt sich nach dem Kausalgesetz aus der Existenz unbelebter und belebter Dinge, die ihre Grundverfassung dahin bestimmt, daß sie nicht aus sich selbst existieren, die ihr Dasein nicht ihrem Sosein verdanken, die nicht sein müssen. Und weil sie nicht sein müssen, deswegen muß einer da sein, der sein muß und sie geschaffen hat.
Man kann zweitens aus der Natur auch Gottes ewige Macht und Göttlichkeit erkennen. Es ist ein immer neuer, ergreifender Gedanke, meine lieben Freunde, sich die Ergebnisse, die soliden Ergebnisse der Astronomie vor Augen zu führen. Was wir mit dem bloßen Auge erkennen, ist ein winziger Ausschnitt des Weltalls. Was uns die großen Fernrohre auf dem Mount Palomar oder anderswo zeigen, das ist ein noch viel gewaltigerer Ausschnitt aus dem Weltall. Aber auch das ist nur eine Winzigkeit von dem, was existiert. Und das alles soll aus sich selbst entstanden sein? Muß nicht eine Kraft von unendlichen Ausmaßen dieses alles ins Leben gerufen haben? Wahrhaftig, aus der Natur, aus den Naturgesetzen, aus der Fülle der Naturerscheinungen ergibt sich die ewige Macht Gottes. Und auch seine Vollkommenheit. Diese Gesetze sind nämlich von einer verblüffenden Präzision. Sie vermögen uns zur Anbetung zu führen. Der Gesetzgeber, der diese Gesetze ersonnen hat – ich sagte schon, Pascal nennt ihn einen „mathematischen Verstand“ –, der muß eine Intelligenz von überwältigender Kraft besitzen. Seine ewige Macht und Göttlichkeit wird aus der Schöpfung erkannt.
Warum aber, drittens, nennt Paulus diejenigen, die Gott nicht finden, unentschuldbar? Der erste Grund liegt darin, daß sie die Wahrheit niederhalten. Also bewußter Kampf gegen die Wahrheit, bewußtes Sich-Versagen gegenüber dem Eindringen der Wahrheit. Es gibt nicht nur ein schuldloses Irren, es gibt auch ein schuldhaftes Irren! Wer sich mit dieser Welt begnügt, wer lediglich ein Kaninchenglück auf dieser Erde sucht, wer nicht weiterfragt, wer nicht nach dem letzten Grund und Sinn Ausschau hält, dem ist es tatsächlich möglich, daß er zu Gott nicht findet. Und ich meine, das ist auch der Grund, warum es in der ehemaligen DDR so viele angebliche oder wirkliche Atheisten gibt. Diese Menschen sind von der damaligen Obrigkeit zu einem bewußten Sich-Begnügen mit den irdischen Realitäten erzogen worden. Sie sollten zufrieden sein, wenn sie Arbeit haben, ihre Vergnügungen und ihre Urlaube im Ferienheim an der Ostsee. Darüber hinaus zu denken, war ihnen nicht gestattet. Und wenn man die Frage stellte: Ja, wie ist denn das alles gekommen, wie ist das alles entstanden?, da wurde diese Frage abgeschnitten: Das ist ein Rätsel, das wissen wir nicht, und weiterzufragen war verboten. Es gibt also tatsächlich einen bewußten, einen zielbewußten Kampf gegen die Wahrheit, einen fanatischen Kampf gegen Gottes Existenz. Der Grund dafür ist hauptsächlich in Folgendem gelegen.
Der Mensch will nicht durch Gott gebunden sein. Wenn eine transzendente Macht in sein Leben eingreift, dann kann er nicht tun, was er will, dann ist ihm nicht alles erlaubt, dann muß er sich fügen, dann muß er sich beugen. Und das ist sicher das geheime Motiv, weswegen die Menschen die Wahrheit niederhalten.
Sie sind unentschuldbar, zweitens, weil sie sich selber Götter geschaffen haben und in sittliche Laster verfallen sind. Der Mensch ist zur Anbetung geschaffen, weil er von Gott herkommt. Er hat jetzt die Wahl. Entweder er betet den wahren Gott an, oder er betet einen selbstgemachten Gott an. Die Menschen der heutigen Zeit sind nicht mehr so töricht, daß sie ein gegossenes oder geschnitztes Bild anbeten. Sie machen sich ein gedachtes Bild. Sie bilden Gott nach ihren Vorstellungen. Sie schaffen sich einen Gott, der ein harmloses, beruhigendes Wesen ist, dem alle die Züge der Gerechtigkeit, der Heiligkeit, des Zornes, die wir aus der Offenbarung kennen, fehlen. Sie machen sich ein gedachtes Bild von Gott. Oder sie schaffen sich Ersatzgötter. Ich erinnere mich: In den fünf Jahren, in denen ich in der DDR tätig war, hatte ich in meiner Jugendgruppe einen liebenswürdigen jungen Mann. Er war zunächst eifrig in der Jugend, aber dann ließ er nach. Ich fragte ihn, warum er wegbleibe. Er druckste herum; er war dem Kanusport ergeben und bald ganz verfallen. Wenn er am Sonntag zum Gottesdienst gehen sollte, dann ging er zum Kanufahren. Er hatte gewissermaßen das sportliche Erlebnis zu seinem Götzen gemacht. Er betete nicht mehr in unserer Pfarrkirche den wahren Gott an, sondern er huldigte dem Gott des Sportes. Und so gibt es viele andere Ersatzgötter. Für manche Menschen ist die Macht der Götze, andere huldigen der Geschlechtlichkeit oder der Gaumenlust, dem Reisen, den Urlauben. Das sind moderne Götter! Wer etwas so verehrt wie man nur Gott verehren kann, der ist ein Götzendiener, und Götzendiener dieser Art gibt es in großer Menge, auch und gerade in heutiger Zeit.
Die Folgen der Vertauschung des wahren Gottes mit Götzen erscheinen sehr bald. Sie zeigen sich einmal darin, daß der Mensch die Garantie seiner Würde verliert. Wenn Gott nicht mehr für den Menschen einsteht, wenn der Mensch nicht mehr nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, dann verliert er seine Würde. Da kann man zehnmal in das Grundgesetz hineinschreiben „Die Menschenwürde ist unantastbar“. Man weiß ja gar nicht, was Menschenwürde ist, wenn man sie nicht von Gott herleitet. Außerdem verführen die falschen Götter zu sittlichen Lastern. Sie gestatten dem Menschen nämlich alles das, was er gern tun möchte. Paulus hat diese Laster im Römerbrief aufgezählt: „Weil sie Gott vertauscht haben“, sagt er, „mit Götzen, darum überließ sie Gott schändlichen Leidenschaften. Ihre Weiber vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen. Ebenso verließen auch die Männer den natürlichen Umgang mit der Frau und entbrannten in wilder Gier gegeneinander. Männer verübten Schamloses aneinander und empfingen den gebührenden Lohn für ihre Verirrung an sich selbst. Weil sie die Gotteserkenntnis verwarfen, überließ sie Gott ihrer verworfenen Gesinnung, so daß sie taten, was nicht recht ist. Sie wurden voll jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Unzucht, Habsucht, Schlechtigkeit, Neid, Mord, Hader, Arglist, Tücke. Sie sind Ohrenbläser, Verleumder, Gottesfeinde, Spötter, Stolze, Prahler, Erfinder von Bösem, widerspenstig gegen Eltern, unvernünftig, ungeordnet, ohne Liebe, ohne Treue, ohne Erbarmen.“ Diese erschütternde Aufzählung, die für unsere Zeit geschrieben zu sein scheint, zeigt, wohin der Mensch kommt, wenn er von der Erkenntnis des wahren Gottes läßt und sich falschen Göttern zuwendet. Wahrhaftig, sie sind unentschuldbar. Sie hätten Gott erkennen können, aber sie haben ihn nicht erkannt, sondern haben sich falschen Göttern zugewendet. Sie haben die Bürgschaft ihrer Würde verloren und sich schändlichen Leidenschaften ergeben. Der Abfall von Gott, meine lieben Freunde, ist immer der Zerfall.
Wir müssen uns hüten, daß wir die Gotteserkenntnis, die wir erworben haben, verlieren. Leidenschaft, Versinken in der Sünde, Eigenherrlichkeit vermögen die Gotteserkenntnis zu verdunkeln und unter Umständen zu zerstören. Wir wollen unser Auge blank halten, damit wir Gott erkennen. Auf dem Friedhof in Budenheim ist das Grab eines Priesters. Auf dem Grabstein steht eine ergreifende Inschrift: „Was willst du, daß ich dir tun soll?“ Ein Wort des Heilandes an seinen Diener. Da kommt die Antwort: „Meister, daß ich sehend werde.“ Wahrhaftig, das ist eine Gebetsbitte, die aus unserem Herzen nicht mehr weichen soll. Mach, daß ich sehend werde, daß ich deine Existenz begreife und festhalte, daß ich deine ewige Macht und dein göttliches Wesen immer bejahe, daß ich von dir nicht lasse, bis ich einmal für immer mit dir vereinigt werde.
Amen.