Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Juli 1994

Die Ablässe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Zu den vergessenen Wahrheiten unseres Glaubens gehört die Tatsache, daß die Sünde Strafe verdient. Die Todsünde verdient ewige Strafe, die läßliche Sünde zeitliche Strafe. Durch Reue, Bekenntnis, Genugtuungswille und die Lossprechung im Bußsakrament wird die ewige Strafe immer nachgelassen. Aber nicht immer wird auch die zeitliche, also die in der Zeit abzubüßende Strafe nachgelassen. Deswegen werden schon im Bußsakrament Genugtuungswerke auferlegt, die sogenannte Buße, die wir verrichten müssen.

Es gibt aber noch ein anderes Mittel, um von den zeitlichen Sündenstrafen befreit zu werden, das nennen wir den Ablaß. Das lateinische Wort indulgentia bedeutet wörtlich übersetzt Nachlaß, aber nicht Nachlaß von Sünden, sondern Nachlaß von Sündenstrafen. Es hat einmal vor einiger Zeit in der Schweiz in einem Hotel ein Herr einen Hundertfrankenschein auf den Tisch gelegt und gesagt: „Der Schein gehört jenem von Ihnen, der mir sagen kann, was ein Ablaß ist.“ Aber keiner von den Anwesenden vermochte sich den Hunderfrankenschein zu verdienen, weil keiner wußte, was ein Ablaß ist. Der Ablaß ist der Nachlaß zeitlicher Strafen vor Gott für Sünden, die der Schuld nach schon vergeben sind. Es ist also irrig, zu meinen, der Ablaß habe es mit Sünden zu tun, er hat es mit Sündenstrafen zu tun. Es heißt zwar in den Ablaßverleihungen des Mittelalters immer: Plenam remissionem peccatorum, also zunächst einmal wörtlich und primitiv übersetzt „voller Nachlaß der Sünden“, aber unter dem Wort peccatorum, das wir mit Sünden übersetzen, verstand der mittelalterliche Gläubige nicht nur die Sünden, sondern auch die Sündenstrafen; und es war in den Ablaßverleihungen immer gesagt, daß der Nachlaß von Sündenstrafen nur denen gewährt wird, die Reue empfunden haben, ihre Sünden gebeichtet haben und von den Sünden losgesprochen worden sind. Auf dem Konzil von Konstanz im Jahre 1415 wurde den Anhängern des Hus die Frage vorgelegt, ob sie glauben, daß der Papst allen Christen, die wahrhaft Reue haben und ihre Sünden bekannt haben, aus einem frommen und gerechten Grunde Ablässe gewähren könne in remissionem peccatorum. Natürlich jetzt nicht zum Nachlaß der Sünden, denn von denen war ja vorher die Rede, wo das Erfordernis der Reue und der Lossprechung aufgestellt wurde, sondern Nachlaß der Sündenstrafen, und zwar nicht nur der kirchlichen, kanonischen Bußstrafen, sondern der Sündenstrafen vor Gott. Der Ablaß hat eine Wirkung vor Gott, nicht nur vor Menschen!

Die Ablaßgewalt ist der Kirche gegeben mit ihrer Schlüsselgewalt. Die Kirche besitzt ja die Gewalt, Sünden nachzulassen und Sünden zu behalten, und in dieser Gewalt eingeschlossen ist auch die Gewalt, Sündenstrafen nachzulassen. Die zweite Säule, auf der die kirchliche Ablaßgewalt ruht, ist die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen. Es kann einer für den anderen eintreten. Es besteht eine Solidarität, eine Gemeinschaft im Guten wie im Bösen, und wegen dieser Gemeinsamkeit der Christen ist es möglich, daß die Kirche – jetzt kommt das entscheidende Wort – aus dem Genugtuungsschatz Christi und der Heiligen Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen gewährt. Was ist das: Genugtuungsschatz Christi und der Heiligen? In der Heilsordnung, die von Christus begründet wird, muß für die Nachlassung von Sünden immer ein Ersatz beschafft werden, eine Kompensation, eine Ausgleichung. Und diese Ausgleichung ist natürlich in überströmender Weise beschafft worden durch das Leben, Leiden und Sterben unseres Heilandes. Das ist der Genugtuungsschatz der Kirche. In einer unendlichen Weise hat Christus Genugtuung geleistet, weil er als der Gottmensch den Willen des Vaters bis zum letzten Atemzug erfüllt hat. Das kann man bildlich mit einem Schatz vergleichen. Aus diesem Schatz wird ausgeteilt, wenn die Sünden in der Buße, im Bußsakrament nachgelassen werden. Das ist die Macht des Genugtuungsschatzes Christi. Aber der Genugtuungsschatz Christi, zu dem dann auch die Genugtuungen der Heiligen, die überfließenden, d.h. über ihre Schuld hinausgehenden Genugtuungen der Heiligen hinzukommen, dieser Genugtuungsschatz kann auch verwandt werden, um zeitliche Sündenstrafen nachzulassen. Die Kirche richtet an Gott das flehentliche und erhörungsgewisse Gebet, Gott möge um der Genugtuungen Christi und der Heiligen willen dem reuigen Sünder Sündenstrafen vergeben.

Es ist ein Gebet, d.h. eine Bitte, aber die Kirche ist sich der Erhörung gewiß, denn Christus hat ihr mit der Übergabe der Jurisdiktionsgewalt, also der Gewalt, zu binden und zu lösen, auch die Gewißheit gegeben, daß die Handlungen dieser Jurisdiktionsgewalt im Himmel Geltung haben. „Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein,“ hat also Geltung auch vor Gott.

Nun, die Ablässe sind in der letzten Zeit ins Zwielicht geraten. Vor einiger Zeit schrieb mir eine Dame, die vom Protestantismus zum katholischen Glauben gefunden hat, sie wisse gar nicht, daß es Ablässe gebe. Man hat es ihr nicht gesagt. Man behandelt den Ablaß wie etwas, das nicht sehr wichtig sei, wenn es nicht sogar zur Ablehnung dieser Einrichtung in der Kirche kommt.

Es gibt Ablässe verschiedener Art. Zunächst einmal: Nach dem Empfänger unterscheidet man zwischen Ablässen für die Lebenden und für die Verstorbenen. Wir können für uns selbst Ablässe gewinnen, aber nur jeder für sich. Für einen anderen Lebenden kann man keine Ablässe gewinnen. Er soll sie gefälligst selbst gewinnen – das ist die Meinung der Kirche. Aber für die, die keine Ablässe mehr gewinnen können, nämlich für die Verstorbenen, die im Fegfeuer, im Reinigungszustand Befindlichen, für die können wir – also an ihrer Stelle, an ihrer Statt – Ablässe gewinnen und sie ihnen zuwenden. Aber die Gewinnung der Ablässe ist für die Lebenden und die Verstorbenen verschiedenartig. Über die Verstorbenen hat die Kirche keine Gewalt mehr. Sie sind aus ihrer Gewalt ausgeschieden. Infolgedessen kann sie diese auch nicht in der Weise der Lossprechung mit Ablässen ausstatten, sondern nur in der Weise der Fürbitte. Wir Lebenden bekommen Strafnachlaß in der Weise der Lossprechung, die Verstorbenen bekommen Strafnachlaß in der Weise der Fürbitte. Das ist also die erste große Unterscheidung, Ablässe für Lebende und für Verstorbene. Vor allen Dingen der Allerseelenablaß ist so wichtig, wo wir unseren lieben Verstorbenen durch Ablaßgewinnung zu Hilfe kommen können und sollen. Es gibt aber dann noch die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Ablässen. Ein vollkommener Ablaß besagt die Nachlassung aller zeitlichen Sündenstrafen. Ein unvollkommener oder Teilablaß besagt die Nachlassung von einem bestimmten Bruchteil der verdienten Sündenstrafen. Früher hat man, in älteren Gebetbüchern noch zu lesen, die unvollkommenen Ablässe nach Tagen oder Jahren angegeben – ein Ablaß von 300 Tagen, ein Ablaß von 7 Jahren. Das bedeutete früher: Derjenige, der diesen Ablaß gewinnt, erhält soviel Nachlaß zeitlicher Sündenstrafen, wie er durch eine Kirchenbuße von 300 Tagen oder 7 Jahren – früher war man streng! – verdient hätte. Seit der Neuordnung des Ablaßwesens werden die Teilablässe nicht mehr nach Tagen oder Jahren gemessen, sondern wer einen Teilablaß gewinnt, dem geschieht folgendes: Die Kirche erläßt ihm so viel zeitliche Sündenstrafen, wie er durch das Werk selbst verdient, das er bei der Ablaßgewinnung verrichtet. Also das Maß der selbstgewonnenen Freiheit von Sündenstrafen ist gleichzeitig das Maß für die Schenkung der Kirche.

Die Kirche hat Ablaßbücher herausgegeben. Ich habe hier das jüngste Ablaßbuch in meiner Hand, das Enchiridion indulgentiarum – in lateinischer Sprache geschrieben, 1986 herausgekommen, da sind die Ablässe oder vielmehr besser die wichtigsten Ablässe aufgeführt; zum Beispiel der Päpstliche Segen. Da heißt es – ich übersetze -: Die Christgläubigen, die den Päpstlichen Segen, der der Stadt und dem Erdkreis (urbi et orbi) gegeben wird, empfangen wollen, erhalten dabei einen vollkommenen Ablaß. Übrigens auch diejenigen, die mit redlicher Gesinnung dieser Ablaßgewinnung beiwohnen am Fernseher. Auch am Fernseher ist es den Zuschauern möglich, einen vollkommenen Ablaß, Weihnachten und Ostern, durch die Beiwohnung des Geschehens in Rom zu gewinnen. Andere wichtige Ablässe sind zum Beispiel die Litaneien, Litanei vom heiligsten Herzen Jesu, Litanei von der Muttergottes, Litanei vom heiligen Joseph. Eine wichtige Quelle der Ablaßgewinnung ist der Rosenkranz, und zwar unterschiedlich. Wenn man ihn allein betet, gewinnt man nur einen Teilablaß, aber wenn man sich zusammenschließt mit anderen, kann man einen vollkommenen Ablaß gewinnen. Weiter erwähne ich noch den Kreuzweg. Der Kreuzweg ist immer begabt mit einem vollkommenen Ablaß. Wer den Kreuzweg geht (man muß ihn gehen!), gewinnt dadurch unter den Bedingungen, die ich gleich nennen werde, einen vollkommenen Ablaß. Das sind einige Beispiele für Ablaßgewährungen, welche die Kirche vorgenommen hat.

Ich komme jetzt zu den Bedingungen für die Gewinnung der Ablässe. Die Ablässe wollen ja doch nicht die Bekehrung des Menschen ersetzen, sie setzen sie vielmehr voraus. Sie wollen den Menschen zur Bekehrung antreiben, um dann, wenn er sich bekehrt hat, ihm auch aus dem Genugtuungsschatz Christi und der Heiligen etwas geschenkweise dazuzugeben. Deswegen können Ablässe nur gewinnen Getaufte, genauer getaufte Katholiken, die in Gemeinschaft mit der Kirche stehen und im Gnadenstand sind. Wenn man im Zustand der Todsünde ist, kann man keinen Ablaß gewinnen. Man muß im Stand der heiligmachenden Gnade sein. Nur wenn man in der Freundschaft mit Gott lebt, kann man einen Ablaß erhalten.

Außerdem muß man die Absicht haben. Man muß den Willen haben, den Ablaß zu gewinnen. Das ist nicht so zu verstehen, als ob man vor jedem Gebet, das mit einem Ablaß versehen ist, die Absicht erneuern müßte: Jetzt will ich den Ablaß gewinnen. Es genügt, wenn man einmal den Willensentschluß gefaßt hat: Ich will die Ablässe, welche die Kirche bestimmten Werken der Frömmigkeit gegeben hat, gewinnen. Wenn man diesen Entschluß gefaßt und nicht widerrufen hat, dann gewinnt man die Ablässe, die damit verbunden sind.

Als letztes muß man die Werke verrichten, die für die Ablaßgewinnung vorgeschrieben sind, also Gebete, Besuchung des Friedhofs am Allerseelentage, Besuch einer Kirche, eine Wallfahrt, Gehen des Kreuzweges – man muß gehen, von Station zu Station. Diese Bedingungen müssen genau erfüllt werden. Beim Rosenkranz hängt die Gewinnung daran, daß man die Körner des Rosenkranzes in der Hand trägt. Das Kreuz ist nicht entscheidend, aber die Körner des Rosenkranzes muß man in der Hand tragen und durch die Hand gleiten lassen. Zur Beruhigung von ängstlichen Seelen will ich nur sagen: Wenn einmal zwei oder drei Körner fehlen, geht dadurch der Ablaß nicht verloren. Wenn der Rosenkranz nur im ganzen gebetet wird, machen solche Kleinigkeiten nichts aus für die Gewinnung des Ablasses.

Schwierig ist es, meine lieben Freunde, einen vollkommenen Ablaß zu gewinnen. Warum? Weil ein vollkommener Ablaß nur dem zufällt, der jede Neigung zur Sünde in sich überwunden hat. Warum diese Strenge? Ja, meine lieben Freunde, wer noch Neigungen zur Sünde in sich trägt, der ist eben noch nicht frei von Strafwürdigkeit, der verdient noch Strafe, und infolgedessen können ihm auch nicht alle Strafen nachgelassen werden. Man muß frei sein von Todsünde, frei sein von läßlicher Sünde und frei sein von jeder Anhänglichkeit auch nur an eine läßliche Sünde. Deswegen: Es ist schwierig, einen vollkommenen Ablaß zu gewinnen. Wir wollen uns bemühen, wir wollen alles tun, um einen vollkommenen Ablaß unser eigen nennen zu können, aber wir müssen darauf gefaßt sein, daß wir vielleicht nur selten einen vollkommenen Ablaß gewinnen, weil in uns noch die Anhänglichkeit an die Sünde lebt, weil wir noch nicht ganz rein sind und infolgedessen noch Strafe verdienen.

Die Gewinnung des vollkommenen Ablasses, die nicht gelingt, ist deswegen nicht sinnlos. Wer keinen vollkommenen Ablaß gewinnt, gewinnt einen unvollkommenen, also dann wird automatisch die Umwandlung des vollkommenen Ablasses in den unvollkommenen, in den Teilablaß, vorgenommen.

Sie wissen alle, meine lieben Freunde, daß ein Mann namens Martin Luther den Ablaß zum Anlaß genommen hat, den Aufstand gegen die Kirche zu proklamieren. Der Ablaß war nur der Anlaß. Er war längst, als er mit seinen Ablaßthesen hervortrat, innerlich von der Kirche entfernt. Die Ablässe waren in den 500 Jahren von 1000 bis 1500 außerordentlich beliebt. Die Kirche hat viele Ablässe gegeben und dadurch große Wirkungen an Frömmigkeit, Heiligkeit und Bekehrung erzielt. Es waren aber mit diesen Ablaßgewinnungen auch Nachteile verbunden. Es waren nämlich vielfach die Geldablässe üblich. Das heißt, das gute Werk, das man leistete, nachdem man sich bekehrt und gebeichtet hatte, waren Geldspenden. Mit dem Geld von Ablässen sind Kirchen, Klöster, Kathedralen gebaut worden. Der Mainzer Dom, der Speyerer Dom, der Dom von Köln, sie alle verdanken bis zu einem gewissen Grade Ablaßgeldern ihr Entstehen.

Aber man hat Ablaßgelder auch verwandt für andere nützliche Bauten, Brücken, Hafenanlagen. Die Brücke in Torgau zum Beispiel ist aus Ablaßgeldern erbaut worden. Man hat die Ablaßgelder verwendet auch, um den Erbfeind des Christentums abzuwehren, um Heere aufzustellen gegen die Türken und gegen die Mohammedaner. Auch sie wurden teilweise besoldet mit Geldern aus Ablässen. Man wird zugeben müssen, daß das alles nützliche Dinge waren. Aber freilich, der Teufel sucht auch das Heilige und Nützliche zu mißbrauchen. Man hat beispielsweise vereinzelt die Gewinnung von Ablässen als zu leicht hingestellt. Wenn der Satz nicht wirklich ausgesprochen ist, so ist er doch dem Sinne nach verkündet worden, nämlich: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt. Das ist übertrieben. So gewiß ist die Erhörung des Gebetes bei Ablaßgewinnung nicht, das ist Übertreibung. Und infolgedessen hat es berechtigte Vorwürfe gegen manche Ablaßprediger gegeben. Aber einmal hat die Kirche die Geldablässe abgeschafft – es gibt keine Geldablässe mehr –, und zum anderen macht ein Mißbrauch den heilsamen Gebrauch einer Einrichtung nicht zunichte. Im Konzil von Trient hat die Kirche die reine Ablaßlehre, wie sie auch zur Zeit Luthers verkündet wurde, etwa von Papst Leo X., wiederhergestellt, und bis vor wenigen Jahrzehnten, nämlich bis zum großen Zusammenbruch in unserer Kirche, haben die Gläubigen eifrig Ablässe zu gewinnen gesucht.

Wir sollten uns nicht irremachen lassen, meine lieben Freunde, der Ablaß ist eine heilsame und heilige Einrichtung. Die Lehre vom Ablaß ist ein Dogma, ein Glaubenssatz der katholischen Kirche. Wir sollten auf das hören, was der heilige König Ludwig von Frankreich seinem Sohn und Erben ins Testament schrieb: „Mein Sohn, sei eifrig in der Gewinnung der Ablässe der Kirche!“

Amen.

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