29. Mai 1994
Das falsche Verständnis der Heilsverdienste
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In der vergangenen Woche rief mich ein Priester aus einer hessischen Pfarrei an. Er berichtete, daß eine katholische Witwe gestorben war. Ihre Tochter – katholisch, aber protestantisch verheiratet, mit protestantischer Kindererziehung – weigert sich, die Mutter katholisch beerdigen zu lassen. Sie wird vom protestantischen Religionsdiener beerdigt. „Es ist ja alles eins.“ So hat sie gesagt.
Diese Redeweise ist die Frucht des verhängnisvollen ökumenischen Betriebs, den wir seit Jahrzehnten in unserer Kirche erleben. Es ist eine gigantische Verirrung und eine tödliche Gefahr für unsere Kirche, was auf diesem Gebit seit Jahrzehnten geschieht. Denn hier wird der Glaube, das Fundament der Kirche und der Kirchengliedschaft, untergraben.
Zu dieser Untergrabung trägt auch das sogenannte Konsensdokument „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ bei. Denn dort werden die Unterschiede zwischen den Konfessionen mit verschiedenen Mitteln um ihre Kraft gebracht. Hier wird die Lehre der katholischen Kirche entweder entschärft oder umgemodelt. Hier wird auch der Protestantismus nicht in rechter Weise dargestellt, so daß am Ende bei fast allen Gegenständen das Urteil steht: Diese Unterschiede sind nicht mehr kirchentrennend.
Nun haben durch Gottes Fügung mutige und gelehrte evangelische Theologen diesem Dokument energisch widersprochen, haben darauf hingewiesen, daß hier weder der katholische Glaube noch die protestantische Lehre richtig wiedergegeben wird.
Wir haben an den vergangenen Sonntagen auf mehrere Gegenstände dieses verhängnisvollen Papiers aufmerksam gemacht. Einer der wichtigsten Punkte ist die sogenannte Rechtfertigungslehre, also die Darstellung der Weise, wie man aus einem Ungerechten ein Gerechter, aus einem Nichtbegnadeten ein Begnadeter wird. Zur Rechtfertigungslehre gehört auch die Lehre vom Verdienst. Was ist ein Verdienst? Verdienst ist ein sittlich gutes Werk, das vor Gott Belohnung verdient. Wenige Gegenstände des katholischen Glaubens sind von protestantischer Seite so verunglimpft worden wie die katholische Verdienstlehre. „Lohnsucht,“ „Werkgerechtigkeit“, „Selbstgerechtigkeit“, das sind die Vorwürfe, die gegen die katholische Verdienstlehre erhoben wurden und bis zur Stunde erhoben werden.
Wir wollen uns deswegen diesem Gegenstande zuwenden. Die Kirche hat immer, und wir werden gleich sehen: im Einklang mit der Heiligen Schrift, die Lehre vom Verdienst vorgetragen, bis im 16. Jahrhundert die Aufrührer diese Lehre verwarfen. Zunächst hat Luther gelehrt: Der Mensch kann überhaupt nichts Gutes wirken. Später hat er dann, wandelbar, wie ja seine Meinungen waren, die Ansicht vertreten: Man muß gute Werke nach dem Empfang des Heiligen Geistes verrichten, aber sie haben keinen Verdienstwert. Calvin ist noch radikaler. Er sagt: Alle Werke des Menschen sind Befleckung und Schmutz. Gegen diese falschen Lehren hat dann das Konzil von Trient Stellung bezogen. Es lehrt: „Der Mensch kann in der Gnade wahrhaft gute, verdienstliche Werke verrichten.“ Die guten Werke sind gleichzeitig ein Verdienst des Menschen und ein Geschenk der Gnade. Mit den guten Werken kann man sich die ewige Seligkeit erwerben, die aber gleichzeitig ein Gnadengeschenk Gottes ist. Das ist genau die Fülle der katholischen Lehre: Immer das Werk des Menschen zusammen mit der Gnade Gottes, in deren Kraft es verrichtet wird.
Was das Konzil von Trient lehrt, ist die Wiederholung einer Lehre, die schon im Jahre 529 auf dem Konzil von Orange in Südfrankreich vorgetragen wurde. Dieses Konzil hat das Ansehen eines Allgemeinen Konzils der Kirche, weil es nämlich vom Papst bestätigt worden ist. Auf diesem Konzil von Orange ist der wunderbare Satz aufgestellt worden: „Die guten Werke verdienen Lohn, wenn sie geschehen. Die Gnade aber, die nicht geschuldet wird, geht ihnen voraus, damit sie geschehen.“ Das ist eine geradezu klassische Formulierung. Die guten Werke des Menschen verdienen Lohn, wenn sie geschehen. Aber die Gnade, die nicht geschuldet wird, geht ihnen voraus, damit sie geschehen.
Diese Lehre ist das Echo der Heiligen Schrift. An vielen Stellen, meine lieben Freunde, spricht der Herr von dem Lohn, der jenen vorbehalten ist, die Gottes Willen tun. In der Bergpredigt werden vom Herrn die Seligpreisungen vorgetragen. Er sagt: „Selig, wenn euch die Menschen verfolgen um meines Namens willen; denn euer Lohn ist groß im Himmel.“ Wer also die Verfolgungen trägt um Jesu willen, der weiß, ihm gebührt Lohn von dem gerechten Gott. In dem Gleichnis von den Talenten ist wiederum die Rede vom Lohn. Da schildert der Herr einen Mann, der seinen Knechten bestimmte Beträge Geldes – Talente genannt – ausfolgt, und dann müssen sie hingehen und damit arbeiten. Nach geraumer Zeit kommt der Herr zurück und fordert Rechenschaft. Der eine hatte fünf Talente empfangen, aber fünf dazugewonnen, der andere sogar zehn zu den zehn, die er erhalten hatte. Allein jener, der nur eines empfangen hatte, hatte das Talent vergraben und nichts dazugewonnen. Er mußte hören, wie zu den anderen gesagt wurde: „Weil du über Weniges getreu gewesen bist, will ich dich über Vieles setzen. Geh ein in die Freude meines Herrn!“ Er selbst aber wurde verworfen, weil er das Talent, das der Herr ihm übergeben hatte, nicht benutzt hatte, um mit ihm zu arbeiten. Hätte er gearbeitet mit seinem Talent, wäre auch ihm der Lohn zugekommen. Der Arbeit gebührt eben Lohn. Und das wird niemand deutlicher aussprechen als der Apostel der Gnade, nämlich der heilige Apostel Paulus. Er hat ja die Gnade und die Gnadenhaftigkeit des menschlichen Wirkens über alles betont. Aber er sagt: „Ein jeder wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit!“ Und an einer anderen Stelle: „Er wird einem jeden vergelten nach seinen Werken!“
In ganz ergreifender Weise ist dieser Zusammenhang zwischen Arbeit und Lohn in dem großen Gleichnis vom Weltgericht geschildert. Da sitzt der Weltenrichter auf dem Throne, und er scheidet die Menschen. Er scheidet sie nach ihren Taten! Er scheidet sie nach ihren Werken! Ob sie Gutes getan oder Gutes unterlassen haben, das ist das Kriterium! „Ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist. Ich war durstig, und ihr habt mich getränkt, denn was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Wer also recht gearbeitet hat, der darf auch auf den Lohn hoffen. Es ist das eine biblische Lehre, die von den Kirchenvätern aufgenommen wurde. Allerdings nicht in pelagianischer Weise, sondern es wurde immer gesagt: Die guten Werke, die wir vollbringen, sind nur dann verdienstlich, wenn sie bestimmte Eigenschaften haben. Welches sind diese Eigenschaften? Nun, diese Werke müssen sittlich gut sein, sie müssen frei vollbracht sein, sie müssen unter der Einwirkung der aktuellen Gnade verrichtet sein. Der Mensch, der sie verrichtet, muß im Pilgerstande und im Stande der heiligmachenden Gnade sein. Wenn diese Bedingungen zusammenkommen, dann wird nach Gottes gnädiger Verheißung den Werken himmlischer Lohn zuteil.
Die Redeweise „Wir müssen uns den Himmel verdienen“, die der Bischof Spital von Trier zurückweist, ist also richtig. Denn wir können uns nach katholischer Lehre die Vermehrung der heiligmachenden Gnade, die himmlische Seligkeit und die Vermehrung der Himmelsglorie verdienen. Das sind nämlich die drei Gegenstände, die den Lohn ausmachen, welchen Gott gibt. Er gibt keinen irdischen Lohn, er gibt himmlischen Lohn, nämlich die Vermehrung der heiligmachenden Gnade, die Erwerbung der ewigen Seligkeit und, da ja die ewige Seligkeit nicht gleich ist bei allen Seligen, auch die Vermehrung der Himmelsglorie.
Meine lieben Freunde, man kann eigentlich auch mit vernünftiger Überlegung erkennen, daß es so sein muß, wie unsere Kirche lehrt. Denn wenn es keinen Lohn gibt, dann ist es gleichgültig, ob der Mensch viel oder wenig für Gott tut, ob er sich an seine Gebote hält oder nicht, ob er seine Pflicht tut oder nicht. Es muß nach Gottes Willen ein Ausgleich für das Verhalten des Menschen erfolgen. Das schuldet Gott seiner Gerechtigkeit. Und er hat sich selbst dazu durch seine Treue und seine Wahrhaftigkeit verbindlich gemacht. Natürlich können wir nicht sagen: „Gib zurück, was du empfangen hast!“ (ich zitiere hier Augustinus), sondern wir können nur sagen: „Gib, was du verheißen hast!“ Gott hat selbstverständlich von uns nichts empfangen. Was wir ihm darbieten, sind seine Geschenke. In unübertrefflicher Weise hat Augustinus diesen Zusammenhang klargestellt: „Wenn Gott unsere Verdienste krönt, dann krönt er seine Gaben.“ Ja, so ist es! Die Verdienste, die wir haben, sind echte Verdienste, die uns Anspruch auf Lohn eintragen, aber sie sind gewirkt in der Kraft der Gnade. Es sind Gnadenverdienste. Gott kommt nicht zu kurz dabei. Das Erlösungswerk Christi wird nicht in seinem Werte gemindert, sondern es ist gewissermaßen die innere Glut der guten Werke.
Und die Vorwürfe, die der Protestantismus gegen die katholische Verdienstlehre erhebt, treffen nicht zu. Die katholische Lehre weiß nichts von Lohnsucht, sondern sie will, daß unsere Werke aus Liebe zu Gott getan werden. Denn wir sind auf Erden, um Gott zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen. Es ist das auch keine Werkheiligkeit, denn die Seele des Werkes ist das Innere. Das äußere Werk nützt gar nichts, wenn die Absicht, nicht gut und auf Gott gerichtet ist. Und ebensowenig besteht die Gefahr der Selbstgerechtigkeit; denn wir wissen: Wir sind unvermögend und schwach. Es muß uns Gott mit seiner Kraft, mit der Macht seiner Gnade zu Hilfe kommen, damit wir gute Werke verrichten können. Wir sollen um Gottes willen Gutes tun, wir sollen nicht nach dem Lohn schielen. Aber wir können uns in Stunden des Leides und der Mühsal daran trösten, daß Gott uns für unser Mühen Lohn verheißen hat. Wir können in den Stunden der Niedergeschlagenheit uns damit aufrichten, daß wir sagen: Wir haben in der Kraft der Gnade getan, was uns möglich war; und Gott wird denen, die, was in ihren Kräften steht, tun, seinen Lohn nicht versagen.
Das letzte Buch der Heiligen Schrift ist die Apokalypse. In diesem Buch steht die trostvolle Verheißung: „Siehe, ich komme, und mein Lohn ist mit mir, jedem zu vergelten nach seinen Werken.“
Amen.