20. Februar 1994
Jesus, Sieger über das Gesetz
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag haben wir Überlegungen angestellt über die Feinde, die Christus am Kreuze besiegt hat, und wir sagten: Er hat den Teufel, den Tod, die Sündeund das Leid überwunden. Aber das ist noch nicht der vollständige Sieg Jesu. Er hat noch etwas überwunden, was uns zunächst merkwürdig vorkommt, nämlich: Er hat das Gesetz überwunden. Das Gesetz, das hier gemeint ist, ist das alttestamentliche Gesetz, das sind die gesetzlichen Vorschriften des Alten Bundes, ja das ist das ganze Alte Testament als Gesetz verstanden.
Wie kann dieses Gesetz, das ja auf Gott zurückgeführt wurde, überwunden sein? Widerspricht sich nicht Gott, wenn er das alte Gesetz durch ein neues ablösen läßt? In welchem Sinne kann man sagen: Christus hat das alttestamentliche Gesetz abgetan? Um das zu verstehen, wollen wir in zwei Gedankenschritten uns das Schicksal des Gesetzes vor Augen führen. Wir wollen fragen
1. Wie war das Gesetz vor Christus beschaffen, welche Funktion hatte es?
2. Was bedeutet das Gesetz nach Christus? Was will es heißen, wenn wir sagen: Christus hat das Gesetz überwunden? Wir sprechen also vom Gesetz vor Christus und vom Gesetz nach oder seit Christus.
Das Gesetz ist nach dem Apostel Paulus heilig, gerecht und gut. Es war von Gott gegeben, um den Menschen das Leben zu bringen. Sie sollten aus dem Gesetz, aus der Fülle der Vorschriften, die darin enthalten waren, ein glückliches Dasein gewinnen; sie sollten es in ihrem Leben verwirklichen und dadurch die Freundschaft Gottes sich sichern. Aber die Absicht Gottes mit dem Gesetze wurde durch die Sündenmacht zunichte gemacht, und zwar in zweifacher Weise. Einmal diente das Gesetz der Sündenmacht dazu, um in den Menschen die sündhaften Begierden zu wecken. Das ist nun eine Funktion des Gesetzes, die wir nur allzu gut kennen. Denn wir alle spüren, wie sich angesichts von Geboten und Verboten etwas in uns regt, das ihnen widerstrebt. Wir begehren auf gegen die Gebote und Verbote, wir sind gereizt, daß man uns etwas verwehren und versagen will. Wir neigen zum Verbotenen! Und das eben war die Erfahrung, die die Menschen mit dem Gesetz gemacht haben: Das Gesetz lockte die Sünde hervor, es reizte die sündhaften Begierden. Und so kam es zu der Funktion des Gesetzes, die Paulus im Römerbrief wie folgt beschreibt: „Ist das Gesetz Sünde? Das sei fern! Aber ich habe die Sünde nur kennengelernt durch das Gesetz. Ich hätte von der Lust nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz sagte: Du sollst nicht begehren! Es nahm aber die Sünde vom Gebot Anlaß und wirkte in mir jegliche Lust; denn ohne Gesetz war die Sünde tot. Ich aber lebte einmal ohne Gesetz. Als aber das Gebot gekommen war, lebte die Sünde auf. Ich dagegen starb. Das Gebot, welches zum Leben verhelfen sollte, gereichte mir in Wirklichkeit zum Tode, denn die Sünde, welche durch das Gebot veranlaßt wurde, verführte mich und tötete mich durch dasselbe. So ist zwar das Gesetz heilig und das Gebot heilig, gerecht und gut, aber die Sünde, um offenbar zu werden als Sünde, brachte mir durch das Gute den Tod, damit die Sünde durch das Gebot über die Maßen sündhaft werde.“
Das können wir gut verstehen und nachvollziehen, meine lieben Freunde, daß das Gebot durch die Sündenmacht benutzt wird, um uns zur Sünde zu reizen. So haben Menschen die Gebote nicht erfüllt, sie haben das Gesetz übertreten, sie konnten durch die versuchte, aber nicht gelungene Gesetzeserfüllung die ersehnte Rechtfertigung vor Gott nicht erlangen. Alle Menschen sind Übertreter des Gesetzes, keiner von ihnen ist ein vollkommener Erfüller des Gesetzes. Und das hält Paulus, wiederum im Römerbrief, den Juden sehr drastisch vor: „Du nennst dich stolz einen Juden, verläßt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes. Du kennst seinen Willen und weißt, was, vom Gesetz belehrt, zu tun ist, was frommt, du traust dir zu, ein Führer der Blinden zu sein, ein Licht derer, die im Finstern sind, ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, der du doch die Richtschnur der Erkenntnis und Wahrheit im Gesetze besitzest.“ Und jetzt kommt die schonungslose Aufdeckung des falschen Anspruches des Juden mit seiner Gesetzeskenntnis: „Einen anderen belehrst du, und dich selber belehrst du nicht. Du predigst, man dürfe nicht stehlen, und stiehlst. Du sprichst, man dürfe nicht ehebrechen, und brichst die Ehe. Du verabscheust die Götzenbilder, und beraubst doch ihre Tempel. Du rühmst dich des Gesetzes, und entehrst Gott durch Übertretung des Gesetzes.“
Die Sündenmacht hat also das Gesetz um seine gute Wirkung gebracht. Und selbst in dem Falle, daß es Menschen gibt, die in der Lage sind, das Gesetz zu beobachten, wenden die Menschen das Gute zum Schlechten. Sie pochen auf ihre Gesetzeserfüllung, statt sich der Gnade Gottes zu rühmen. Sie spielen ihre Leistung gegen Gottes Allherrschaft aus. Sie entziehen sich durch ihre vorgebliche Untadeligkeit dem Anspruch Gottes, so wie der Pharisäer im Tempel, der sich seiner treuen Gesetzeserfüllung rühmte und dadurch die Herrschaft seines Ichs, seines Eigenwillens, seiner Eigenmacht, gegen Gottes Anspruch aufrichtete.
Das Gesetz hat also seine heiligende Wirkung infolge der Sündenmacht nicht entfalten können. Es ist vielmehr zum Anlaß geworden, daß der Mensch seine Verlorenheit erkannte, daß die Begierden, die in ihm wach wurden, ihn fortrissen zur sündhaften Tat, daß die Sünde alles beherrscht hat. Freilich, wo die Sünde übermächtig wurde, da sollte auch die Gnade übermächtig werden, aber das ist dann der zweite Schritt gewesen. Zuerst einmal hat das Gesetz alles unter der Sünde beschlossen und wurde auf diese Weise zum Fallstrick für die Menschen, die sich ihrer Gesetzeserfüllung rühmten.
Der heilige Augustinus hat diesen Zusammenhang einmal sehr gut ausgedrückt: „Das Gesetz gab nur Drohung, aber keine Hilfe. Es gab Befehle, aber keine Heilung. Es zeigt die Wunde, aber es schloß sie nicht. Es war die Vorbereitung auf den Arzt, der da kommen sollte in Wahrheit und Gnade. Und wie ein Arzt manchmal einen Diener vorausschickt, damit er die Wunde verbinde, so war das Gesetz der Diener, den Gott vorausgeschickt hat, um auf den Arzt, der da kommen sollte, vorzubereiten.“
Das ist dann der zweite Schritt in unseren Gedankenbemühungen, nämlich: Seit Christus ist das Gesetz überwunden. Christus hat uns vom Gesetze erlöst, weil er uns vom Fluche des Gesetzes befreit hat am Kreuze. Christus hat uns vom Fluche des Gesetzes erlöst, weil er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Kreuze stirbt.“ Ein schwieriger Gedankengang. Christus hat uns vom Fluche des Gesetzes erlöst, weil er für uns zum Fluche geworden ist. Natürlich ist ein am Kreuze Hängender, ein Gerichteter, ein Gehenkter ein von Gott und den Menschen Aufgegebener. Das ist die normale Weise, wie man einen solchen Tod beurteilen muß. Und tatsächlich hat ja Christus einen Straftod erlitten. Sein Tod war Straftod für die Sünden, zwar nicht für die eigenen, aber für die Sünden der anderen. Was ihn an den Tod, an den Kreuzestod gebracht hat, das war die Sündenmacht. Die Sünde hat Strafe verdient, Christus hat die Strafe auf sich genommen und am Kreuze durchgelitten. Weil aber die Sünde durch das Gesetz hervorgerufen wurde, hat er mit der Sünde am Kreuze auch das Gesetz überwunden, das Gesetz, dessen sich die Sünde bediente.
Das Gesetz ist also durch den Kreuzestod Christi abgetan. Das heit: Es ist kein Heilsfaktor mehr. Das Gesetz als ein Bündel von toten Paragraphen ist erledigt. Der Apostel Paulus schildert das mit einem Bild aus dem Eherecht. Er sagt: Solange der Mann lebt, ist die Frau an ihn gebunden. Scheidung gibt es nicht. Aber wenn der Mann stirbt, dann kann sie heiraten, wen sie will, dann ist sie frei vom Gesetze des Mannes. Dieses Bild aus dem Eherecht wendet er jetzt an auf unser Verhältnis zum Gesetz, freilich nicht spiegelgleich, sondern spiegelverkehrt. Er sagt: Christus ist gestorben. Er hat dem Gesetz Genüge getan, er hat das Gesetz erledigt. Wir sind aber mit Christus gestorben, in der Taufe, im Glauben an ihn. Er ist ja gewissermaßen unser zweiter Adam, der uns in sich getragen hat und in seinem Leibe mit in den Tod hineingenommen hat. So sind auch wir dem Gesetze gestorben. Wir sind tot für das Gesetz. Das Gesetz hat keine Ansprüche mehr an uns. Wir leben jetzt nur noch für Christus. Unser Gesetz, unser neues Gesetz, ist Christus, denn – daran läßt Paulus keinen Zweifel – frei sein vom Gesetze heißt nicht ungebunden sein. Die Befreiung vom Alten Testamente ist keine Entlassung in die sittliche Libertinität, sondern diejenigen, die von den Vorschriften des Alten Testamentes losgekommen sind, sind einem neuen Gesetz übergeben, und dieses neue Gesetz ist Christus. Er ist die Norm unseres Lebens, und er ist gleichzeitig die Kraft unseres Lebens. Wer wissen will, was zu tun ist, braucht sich nur an Christus zu halten, der in uns lebt und in dem wir leben. Die Forderungen des Gesetzes treten jetzt nicht mehr von außen an uns heran, sondern sie kommen aus unserem Inneren, aus der Kraft des Geistes, der uns gegeben ist.
Niemand anders als Augustinus hat das lichvoll ausgedrückt. „Das Gesetz der Werke schrieb der Finger Gottes auf steinerne Tafeln. Das Gesetz des Glaubens aber in die Herzen. Dort (im Alten Bund) ist das Gesetz von außen her aufgerichtet, um die Ungerechten zu schrecken, hier (im Neuen Bund) ist es in das Innere als Gabe gesenkt, um gerecht zu machen. Das wahre Gesetz Gottes ist die Liebe. Das andere Gesetz wurde aufgehoben, dieses aber bleibt, weil der schreckende Zuchtmeister weichen muß, wenn die Liebe die Furcht ablöst.“
Die sittlichen Gebote des Alten Testaments bleiben gültig, sie sind die Formen, die bleibenden Formen, in denen der Christ das neue Gesetz verwirklichen muß. Die rituellen Vorschriften sind abgetan, natürlich. Wir brauchen keine Böcke und Stiere mehr zu opfern, wir brauchen keine Garben und keine Erzeugnisse des Weinstocks mehr in den Tempel zu tragen, denn wir haben ja ein neues Opfer, das ist Christus, unser Heiland, dessen Opfer auf unseren Altären Gegenwart wird. Die rituellen Vorschriften sind abgetan. Aber die sittlichen Vorschriften sind der bleibende Wille Gottes, sie bleiben bestehen, nur treten diese sittlichen Vorschriften nicht mehr von außen als tote Paragraphen an uns heran, sondern sie sind die Weisen, in denen der Heilige Geist, der in uns lebt, die Verbundenheit mit Christus gelebt wissen will. Was wir jetzt tun, das soll und kann aus der Liebe kommen, die uns im Heiligen Geiste gegeben ist. An die Stelle von sachlichen Geboten tritt die personale Verbindung mit Christus. Er ist jetzt die lebendige Norm unseres sittlichen Verhaltens.
Wenn man im einzelnen wissen will, was zu tun ist, kann man sich durchaus Belehrung im Alten Testament holen. Die 10 Gebote bleiben in Kraft, und die vielen anderen sittlichen Vorschriften sind nach wie vor Ausdruck des gnädigen Willens Gottes. Aber die Quelle unseres Tuns ist nicht mehr eine Sammlung von Paragraphen, sondern der Heiliger Geist, der uns gegeben ist und in dem wir die Liebe üben sollen. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.
In diesem Sinne – in diesem Sinne! – kann man das Wort des Augustinus gebrauchen: Ama et fac quod vis – Habe die Liebe und tu dann, was du willst! Das Wort wird häufig in falscher Weise zitiert, nämlich als ob man, wenn man nur liebt, ohne Rücksicht auf den Inhalt und das Ziel des Handelns alles tun könnte, auch wenn es sittlich schlecht ist, als ob es nur auf das Motiv des Tuns ankäme. Das ist nicht der Sinn dieses Wortes des Augustinus. Er meint: Wenn einer die von Gott eingegebene Liebe hat, dann kann er nur tun, was Gottes Willen gemäß ist, dann wird er nur tun, was dem sittlichen Willen Gottes entspricht, ja dann muß er tun, was Gott in seinen Geboten den Menschen als Wegweisung anvertraut hat. Die rechte Gesinnung tut auch inhaltlich das Rechte.
Die Freiheit vom Gesetz ist also eine Wirklichkeit. Aber die Freiheit besagt keine Ungebundenheit. Wir sind frei vom Gesetze als Heilsfaktor, denn unser Heil gründet nicht in der Gesetzeserfüllung, sondern im Vertrauen auf Christus und im Glauben an Christus und in der Übergabe an Christus. Aber diese Übergabe an Christus ist eben ein neues Gesetz. Es ist ein Gesetz, nicht mit Tinte geschrieben, sondern im Heiligen Geist uns ins Herz gegraben, ein Gesetz, aus dem wir leben sollen. Unser sittliches Handeln kommt nicht mehr jetzt als Antwort auf von außen an uns herantretende Forderungen, sondern unser sittliches Handeln ist der Ausdruck der in uns lebenden Geistesmacht.
Im Jahre 1870/71 war der deutsch-französische Krieg. Als sich die deutschen Truppen Paris näherten, mußte die französische Regierung fliehen. Sie floh nach Tours und nahm dort Wohnung im Hause des Bischofs. Der französischen Regierung gehörte auch ein Jude an namens Crémieux. Dieser jüdische Minister sagte eines Tages zum Bischof lächelnd: „Sie stellen das Neue Testament dar und ich das Alte. Es bleibt abzuwarten, welches das bessere ist.“ Da gab ihm der Bischof eine hochtheologische Antwort: „Sie als Jurist müßten doch wissen, daß von zwei Testamenten, die nacheinander abgefaßt sind, nur eines gilt, nämlich das letzte.“
Aus dieser wahren Begebenheit entnehmen wir die Lehre, daß das Alte Testament durch das Neue abgelöst werden konnte, daß das Alte Gesetz durch das neue verdrängt werden konnte, daß an die Stelle eines großen Arsenals von Einzelbestimmungen die eine große Norm, Christus und sein Heiliger Geist, getreten ist, daß wir aus dieser Norm leben sollen und daß wir daraus wahrhaft das ewige Leben gewinnen können, wenn immer wir uns von Christi Geist treiben lassen, der in uns lebt und der uns gegeben ist, um das Gesetz des Lebens zu erfüllen.
Amen.