Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Januar 1994

Die Wege Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir möchten den Vorhang heben, hinter dem die Ereignisse und Gestalten des kommenden Jahres verborgen sind. Es ist ein uraltes menschliches Verlangen, in die Zukunft zu schauen, und es gibt tatsächlich erstaunlich hellsichtige Voraussagen. Vor allem hat Gott immer wieder Menschen berufen, denen er einen Blick in die Zukunft gestattete. Wir nennen sie Propheten. Sie haben das kommende Heil, aber auch – noch häufiger – das zu erwartende Unheil angekündigt, und die Menschen waren aufgerufen, diese Ankündigungen ernstzunehmen. Die einen haben darauf gehört, wie Noe und die Seinen, andere haben sie in den Wind geschlagen. Die einen wurden gerettet, die anderen gingen elend zugrunde.

Auch im Hinblick auf das heute begonnene neue bürgerliche Jahr stellt sich die Frage, ob Voraussagen möglich sind. In der gestrigen Nummer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben mehrere Politiker und Journalisten sich – fiktiv – auf den 31. Dezember 1994 eingestellt und rückschauend geschildert, was alles in diesem Jahre geschehen ist.

Von diesen Prognosen ist wenig zu halten, weil sie die Ursachen nicht genügend ins Blickfeld bekommen. Wenn man Voraussagen machen will, muß man aus den Ursachen argumentieren, denn Ursachen haben Wirkungen, und Wirkungen sind eben Folgen, die wir zu tragen haben, wenn wir die Anstöße gesetzt haben.

Mit aller gebotenen Vorsicht läßt sich sagen, daß das eben begonnene Jahr nicht leicht werden wird. Die Naturkatastrophen, deren Zeugen wir sind, verraten uns, wie sehr wir gegenüber der Natur gesündigt haben; denn viele von ihnen, vielleicht die meisten, sind ja von Menschenhand hervorgerufen. Wir haben die Ursachen gesetzt für die Katastrophen, deren Zeugen wir heute sind.

Und nach aller Wahrscheinlichkeit, nach menschlichem Urteil, werden diese Katastrophen sich fortsetzen, vielleicht sogar mehren. Die Wirtschaft unseres Landes liegt, wie wir alle wissen, darnieder. Auch hier haben wir Anlaß, an die eigene Brust zu klopfen, denn für die Produkte, die unsere Industrie herstellt, wäre ein unermeßlich weiter Markt vorhanden, wenn dieser Markt sie aufnehmen könnte, wenn unsere Produkte nicht so teuer wären, daß sie gar nicht von den Menschen erworben werden können. „Wir haben“ – und das hat ja nun schon vor vielen Jahren, aber ohne Wirkung, Helmut Schmidt gesagt – „wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.“ Und vermutlich tun wir es immer noch. Wir verzehren, was wir noch nicht verdient haben. Wir greifen in die Zukunft und bedienen uns der Werte, die erst in der Zukunft erarbeitet werden sollen.

Daß das eines Tages zum Zusammenbruch führen mußte, das war jedem Kundigen einsichtig. Aber es wurde nicht gehandelt, bis es zu spät war. Jetzt breiten sich Arbeitslosigkeit, Betriebsstillegungen, Verzweiflung immer weiter wie ein Ölteppich auf dem Meere aus.

Wenn wir von den irdischen zu den himmlischen Angelegenheiten übergehen, dann müssen wir feststellen, daß der Niedergang unserer Kirche offensichtlich unaufhaltsam ist. Die Zahlen der Kirchenaustritte sprechen eine deutliche Sprache. 200.000 Kirchenaustritte in einem Jahr, das ist die Summe von zwei Großstädten. Wir alle wissen auch, daß die Kirchenaustritte nur das Spiegelbild des inneren Zusammenbruches in unserer Kirche sind. Der Glaube wird nicht mehr allenthalben mit Sicherheit und Klarheit gelehrt, sondern wird weithin verunstaltet, mißhandelt, verkürzt, verderbt. Das beginnt in den Schulbüchern für unsere Kinder und endet in den Hirtenbriefen der Bischöfe, wie in jenem fatalen Hirtenbrief der oberrheinischen Bischöfe über die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten.

Die Berichte, die ich von meinen Schülern, die jetzt als Priester draußen wirken, empfange, sind trostlos. Ein Priester im hessischen Pfungstadt beispielsweise teilte mir vergangene Woche mit, der Gottesdienstbesuch in dieser Pfarrei beträgt 7,8 Prozent. Also von hundert gegen nicht einmal acht Personen am Sonntag zum Gottesdienst. Ein anderer Priester besuchte mich in der vergangenen Woche; er kam aus dem Saarland, aus St. Ingbert. Die Pfarrei, in der er tätig ist, beträgt 6.000 Seelen. Ich fragte: „Wie viele Beichten haben Sie zu Weihnachten gehört?“ „Drei!“

Wenn das kein Zusammenbruch ist, dann weiß ich nicht, wie ein Zusammenbruch aussehen soll. Aber noch immer, noch immer weigern sich die Verantwortlichen, ihre Schuld, ihre große Schuld, ihre übergroße Schuld an diesem Zusammenbruch zuzugeben.

Wenn wir, die wir gläubige Christen sind, auf die Lage unserer Kirche schauen, dann möchte uns Verzagtheit und Verzweiflung ankommen. Aber trotz aller inneren und äußeren Zusammenbrüche will ich drei Sätze formulieren, die uns ins neue Jahr begleiten sollen, nämlich drei Sätze über Gottes Wege.

Der erste Satz lautet: „Gottes Wege sind dunkel, aber nicht lichtlos.“ Der zweite Satz: „Gottes Wege sind schwer, aber nicht trostlos.“ Und der dritte Satz: „Gottes Wege sind lang, aber nicht endlos.“

Der erste Satz lautet: Gottes Wege sind dunkel, aber nicht lichtlos. Daß sie dunkel sind, das haben wir alle erfahren. Denn wir wissen oft nicht, warum Gott so handelt oder warum er bestimmte Geschehnisse zuläßt. Ist die Kirche nicht seine Kirche? Ist sie nicht sein Geschöpf? Liebt er sie nicht, wie ein Bräutigam seine Braut liebt? Hat er nicht sein kostbares Blut für sie verströmt? Und kann er sie in diesem fatalen Zustande lassen, wo jedes Jahr Hunderttausende, nein, Millionen – vor allem in Südamerika – dieser Kirche den Rücken kehren? Gottes Wege sind dunkel. Und wir sind oft verzweifelt bemüht, das Dunkel ein wenig zu lichten; und ich meine, es gibt auch in aller Dunkelheit hie und da ein Lichtlein. Wer hätte es für möglich gehalten, meine lieben Freunde, daß in dieser so zugrundegerichteten Kirche ein Werk entstehen konnte wie der neue Katechismus der katholischen Kirche! Ich gestehe Ihnen, dieses Buch hat meinen Glauben an unsere Kirche, an die göttliche Leitung dieser Kirche, gefestigt und gestärkt; daß gegen allen Trend und gegen allen Abfall ein derartiges Buch entstehen konnte, darin sehe ich einen Fingerzeig Gottes. Gottes Wege sind dunkel, aber nicht lichtlos. Ebenso hat Gott uns ein Licht aufgesteckt in der jüngsten Enzyklika des Heiligen Vaters. Enzykliken sind Rundschreiben, und diese Enzyklika, die mit den Worten „Veritatis splendor“ beginnt, beschäftigt sich mit der sittlichen Ordnung, also mit den Fragen: Was ist gut? Was ist böse? Was ist immer schlecht, und was kann nie gut werden?

Als ich diese Enzyklika vom ersten bis zum letzten Wort durchgelesen hatte, da habe ich Gott gedankt und gesagt: „Das ist der Glaube, wie ich ihn gelernt habe und wie ich ihn mein ganzes akademisches Leben über vertreten habe.“ Ich habe den Studenten in der Vorlesung gesagt: „Ich habe nie etwas anderes gelehrt, als was in dieser Enzyklika steht.“

So, meine ich, ist trotz aller Dunkelheit doch für den Gutwilligen Licht genug da, um nicht in Verzweiflung geraten zu müssen, um nicht die Hoffnung sinken zu lassen, wie es einer meiner akademischen Kollegen getan hat. Er war ein großer, ein bedeutender Gelehrter. Er hat sein ganzes Leben für die Kirche gearbeitet. Aber gegen Ende seines Lebens, da ist ihm der Glaube zusammengebrochen, da hat er sich nur noch auf Sokrates berufen und nicht mehr auf Jesus. Er ist im Alter von über 80 Jahren ohne die geringste sittliche Makel – sein Leben war immer sittlich völlig einwandfrei – am Glauben, an der nachkonziliaren Kirche zerbrochen.

Gottes Wege sind dunkel, aber nicht lichtlos. Gottes Wege sind schwer, aber nicht trostlos. Wem sage ich das, nicht wahr, meine lieben Freunde? Wie viele Leidträger sitzen hier vor mir, die das Leid seit langer Zeit tragen und nicht nur eines, sondern vielfaches Leid, aus mehreren Quellen sich herleitend. Und das Leid drückt, es drückt wie ein hartes Kreuzesholz. Gottes Wege sind schwer – Einsamkeit, Treulosigkeit, Verlassenheit, Gemeinheit, Undankbarkeit und die vielen anderen persönlichen Leiden, die über den Menschen kommen, die körperlichen Leiden, die seelischen Leiden, die Unzufriedenheit mit sich selber, die Reue über vergangene Taten oder Versäumnisse. Wahrhaftig, Gottes Wege sind schwer. Aber auch hier darf man hinzufügen: Sie sind nicht trostlos.

Als ich ein Knabe war, saß ich mit einem Jungen auf der Schulbank, der war am selben Tage im selben Jahre geboren wie ich. Wir haben jahrelang die Schulbank zusammen besucht, erst die Volksschule, dann das Gymnasium. Wir sind auch später immer vertraut und befreundet geblieben bis zu seinem Tode vor elf Jahren. Er ließ eine Frau zurück, die an Multipler Sklerose leidet. Dieses Leiden schreitet fort, verschlimmert sich. Sie sitzt also im Rollstuhl – ich habe sie dieses Jahr besucht –, sie sitzt im Rollstuhl und ist völlig auf andere Menschen angewiesen. Es steckt immer ein Schlüssel in ihrer Tür, damit die Menschen hereinkommen können, die sie nun einmal braucht, um ihr Leben zu bewältigen. Ich fragte diese Frau meines Freundes: „Ja, wie fühlst du dich?“ Sie gab mir die Antwort, die mich entwaffnet hat: „Ich bin glücklich!“ „Ich bin glücklich,“ hat sie zu mir gesagt. „Warum? Warum bist du glücklich?“ fragte ich. „Ja, mein Verstand ist klar, ich kann sogar noch arbeiten, ich mache Eheberatung. Zu mir kommen Ehepaare oder Ehegatten, die im Unfrieden miteinander sind und sich zusammenführen lassen wollen. Jeden Freitag kommt einer meiner Söhne, der Priester geworden ist, und besucht mich, bleibt immer bis Samstag. Ja, das sind doch so viel Freuden!“ sagte sie zu mir. „Ich bin glücklich!“ Beschämt bin ich von dannen gegangen. Ich habe mir gedacht: Gottes Wege sind schwer, aber nicht trostlos. Selbst in einem solchen nun schon jahrzehntelang leidenden Menschen ist noch Trost vorhanden, hat Gott dafür gesorgt, daß ein Trost in dieses Leben kommt. Und dieser Mensch hat den Trost angenommen. Manche sehen ihn ja nicht oder verwerfen ihn oder lehnen ihn als zu geringfügig ab. Aber nicht dieser Mensch. Sie hat den Trost von Gott angenommen, sie ist gläubig geblieben, und in der Kraft des Glaubens vermag sie das schwere Leben auszuhalten. Gottes Wege sind schwer, aber nicht trostlos.

Und schließlich der dritte Satz: Gottes Wege sind lang, aber nicht endlos. Eine Krankheit, die über Jahre und Jahrzehnte anhält, ist schmerzlich. Es kommt einem wie eine Ewigkeit vor, und andere Kümmernisse und Nöte können ebenfalls lange, lange anhalten. Ein Schulfreund von mir heiratete später ein Mädchen aus der Pfarrjugend, in der ich tätig war. Zunächst ließ sich alles recht gut an, aber die Schwiegermutter störte die Ehe. Daran ist sie nicht zerbrochen. Aber es war ein Mißton in die Ehe gekommen. Bald aber stellte sich heraus, daß die Frau dem Manne nicht genügte. Er verschaffte sich Ersatz außerhalb der Ehe. Seit etwa 25 Jahren hat er ein offenes Verhältnis zu einer Französin in Paris. Vor zwei Jahren, nach seiner Pensionierung, ist er sogar dahin gezogen. Jahrzehntelang, jahrzehntelang lastet das Leid des ungetreuen Gatten auf dieser Frau, auf dieser Familie. Die Kinder sind selbstverständlich von diesem Verhältnis in Mitleidenschaft gezogen, bezeichnen den Vater als einen Idioten. Die Frau ist auch körperlich schwer getroffen. Sie leidet an einer Bandscheibenkrankheit. Der eine Sohn weigert sich, mit seiner Mutter überhaupt noch zu sprechen, scheint psychisch belastet zu sein. Also hier hat Gott offenbar das Leid gehäuft auf einen Menschen, und das nun schon so viele Jahre und – menschlich gesehen – auch ohne Aussicht, daß sich die Verhältnisse einmal bessern.

Wie kann ich dann sagen: Gottes Wege sind lang, aber nicht endlos? Wir müssen hoffen wider alle menschliche Hoffnung, meine lieben Freunde. Gott kann aus Steinen Kinder Abrahams erwecken. Er kann auch in einem harten Menschenherzen noch einmal die Liebe und den Glauben und die Reue und den Vorsatz hervorbringen. Wer freilich keinen Glauben hat, der kann auch von Gott keine Erhörung erwarten. Aber wenn wir Glauben haben, wenn wir Zuversicht haben, dann kann Gott das unmöglich scheinende möglich machen, nämlich daß die Herzen sich verwandeln und daß noch einmal die alte, die frühere Liebe aufblüht. Gottes Wege sind lang, aber nicht endlos.

Viele von uns haben erfahren, daß lange Jahre Leid über uns gelegen hat, und doch war es eines Tages zu Ende. Wir haben oft gesagt: Es geht nicht mehr weiter, es geht nicht mehr weiter, ich schaffe es nicht mehr, und dann ist es doch weitergegangen, und wir haben es doch geschafft. Da war Gott im Spiel, da hat er gezeigt, daß seine Wege lang, aber nicht endlos sind.

Manche mögen die schweren Wege Gottes nicht aushalten. Sie greifen zum Revolver oder drehen den Gashahn auf oder nehmen Tabletten. In jedem Jahre sind es in der Bundesrepublik etwa 12.000 bis 15.000 Menschen, die auf diese Weise ihre irdischen Wege beenden wollen. Ich hatte einen akademischen Lehrer, der auch sehr krank war, und in seiner Krankheit sagte er mehrmals: „Ach, wenn ich doch sterben könnte!“ Er wollte, daß das Ende der irdischen Wege gekommen sei. Das dürfen wir sagen. Wir dürfen Gott bitten, daß er uns zu sich nimmt, aber wir haben nicht die Freiheit, die Wege, die Gott uns führen will, eigenmächtig abzukürzen. Sie enden ja alle einmal. Sie enden spätestens im Tode und in dem Übergang in das ewige Leben. Einmal ist alles irdische Weh und alles irdische Leid zu Ende. Einmal erfüllt sich wirklich das Wort: Gottes Wege sind lang, aber nicht endlos. Und wenn wir diese Wege mit seiner Kraft im Glauben und in der Hingabe geschritten sind, dann dürfen wir hoffen, daß sich an uns erfüllen wird, was der Apokalyptiker schreibt: „Dann wird Gott abwischen alle Tränen von den Augen, und es wird nicht mehr Leid und Kummer und Tod und Trauer sein, denn der auf dem Throne sitzt, sagt: 'Siehe, ich mache alles neu!'"

Amen.

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