Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. August 1993

Der Sinn der Übel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Jahre 1908 wurde die italienische Stadt Messina durch ein Erdbeben zerstört. 60.000 Menschen fanden dabei den Tod. Hunderttausende verloren Hab und Gut. Damals schrieb eine religionsfeindliche Zeitung: Was hat ER sich denn dabei gedacht, daß er Schuldige und Unschuldige, Gottlose und Fromme, Greise und Kinder unter den zusammenstürzenden Mauern der Häuser begraben läßt? Wo ist denn da der Gott der Liebe, des Erbarmens und der Ordnung?

Das Erdbeben, das Messina vernichtete, ist nicht das einzige Ereignis, wo Menschen gefragt haben: Wie kann Gott das zulassen? Zahlreiche physische und moralische Übel in dieser Welt lassen immer wieder die Frage wach werden: Wo ist denn Gott? Denken wir an Krankheiten, Epidemien, Kriege, Armut, Hungersnot, Mißernten, Überschwemmungen, Feuersbrünste; denken wir aber auch an Verrat und Verleumdung, an Fehler, Sünden, Versäumnisse, Verbrechen! Physische und moralische Übel rufen die Frage wach: Wie sind sie mit einem gerechten und gütigen Gott zu vereinbaren?

Es ist dies eine Frage, meine lieben Freunde, die mir in meinem Priesterleben hundertfach gestellt wurde und mit deren Beantwortung ich bis heute nicht fertig geworden bin. Im Bewußtsein der menschlichen Schwäche und in der Kenntnis des eigenen Ungenügens wollen wir versuchen, die Frage nach dem Sinn der Übel auf dieser Welt zu beantworten, und zwar

1. nach dem Sinn der physischen Übel und

2. nach dem Sinn der moralischen Übel.

Welches könnte der Sinn der physischen Übel auf dieser Erde sein? Gibt es darauf überhaupt eine Antwort? – Ich meine, man kann dreifach versuchen, den Sinn der physischen Übel zu ergründen, nämlich erstens: Die Welt ist nicht das Höchste und Letzte und Einzige, und der Mensch ist immer wieder in Gefahr, diese Wahrheit zu vergessen. Er neigt dazu, diese Welt, ihre Schätze und ihre Werte als das Höchste und Letzte und Einzige anzusehen und darüber Gott zu vergessen. Die Übel aber können den Blick des Menschen auf Gott hinlenken. Es gibt das Wort, und es hat sich schon oft bewährt: Not lehrt beten! Aus dem Rußlandkriege schrieb einmal ein bayerischer Hauptmann: „Wer hier heraußen den Herrgott nicht findet, der findet ihn überhaupt nicht.“ Es kann also – und nach Gottes Willen soll also – das physische Übel den Blick des Menschen auf Gott hinrichten, es soll ihn bewahren, Gott zu vergessen und in der Erde sein Genügen zu finden.

Zweitens ist aber das physische Übel auch geeignet, die Kräfte des Menschen wachzurufen. Der Mensch ist ja begabt mit Verstand, mit einem wunderbaren Verstand, und die Übel zwingen ihn, diesen Verstand zu gebrauchen. Denken wir an den Wechsel der Jahreszeiten! Wenn es immer schön und warm wäre und der Regen zur rechten Zeit und die Sonne zur gewünschten Zeit kämen, dann würden viele Kräfte des Menschen brachliegen. Weil es aber einen Herbst und einen Winter gibt, ist der Mensch gezwungen, dafür Vorsorge zu treffen. Er muß sich Häuser schaffen, in denen er von den Unbilden der Witterung geschützt ist. Er muß Vorräte anlegen für die Zeit, wo die Vegetation nichts hergibt. Er muß sich Kleidung beschaffen, die ihn in Kälte und Frost vor Schäden der Gesundheit bewahrt.

Diese Aufzählung könnte man noch auf beliebig viele Gegenstände ausdehnen. Denken wir an die Sturmfluten an der Nordseeküste! Der Mensch ist gezwungen, Dämme zu errichten, die das kostbare Land vor dem Abschwemmen durch die Sturmfluten schützen. Er legt Deiche an, er baut Kanäle, er pflanzt Strandhafer und auf diese Weise sucht er das Land vor dem Abgeschwemmtwerden zu bewahren.

Die dritte Antwort auf den Sinn der Übel besteht darin, daß sie für den Sünder eine Strafe und für den Gerechten eine Prüfung sind. Es gibt ein göttliches Gesetz, das lautet: Die Schuld verdient Strafe. Die Gerechtigkeit Gottes fordert, daß Sünde und Verbrechen geahndet werden, und diese Ahndung geschieht eben auch durch die physischen Übel. Viele Übel sind so zu erklären. Wer fragt: „Wie habe ich das verdient!“, der hat vielleicht nicht tief genug in seine Seele geschaut, der hat sein Leben vielleicht nicht gründlich genug bedacht, sonst müßte er sich sagen: „Ich habe es verdient! Ich habe vielleicht noch mehr verdient, als mir widerfahren ist.“

Freilich bleiben immer die Fälle, wo auch Unschuldige getroffen werden. Ja, aber, meine lieben Freunde, gibt es denn Unschuldige? O ja, es gibt Unschuldige, etwa unschuldige Kinder. Und unter den Erwachsenen sind eben auch viele, die zumindest weniger schuldig sind als andere. Es gibt ja nicht nur Missetäter, es gibt auch fromme, brave und heilige Menschen, und auch sie werden von einem Erdbeben getroffen. Ja, das ist eine Frage, wo der Verstand wohl keine Antwort mehr finden kann, jedenfalls nicht durch irdische Verweise, weil die Gerechtigkeit auf Erden nicht gewahrt erscheint. Hier bleibt wohl nur der Hinweis, daß es nicht nur dieses irdische Leben, sondern auch ein jenseitiges Leben gibt, und wer hier von Gott geprüft und hart angefaßt wurde, der darf hoffen und erwarten, daß Gott ihm dort alles ersetzt und ergänzt, was auf Erden verloren worden ist.

Es kommen dann an zweiter Stelle die moralischen Übel zur Sprache. Hätte Gott uns nicht wenigstens davor bewahren können, vor den moralischen Übeln? Hätte er nicht eine Welt schaffen können, in der es eben Schuld und Sünde und Verbrechen nicht gibt? Vermutlich hätte er das tun können, aber er hat es nicht getan. Warum denn nicht?

Nun, erstens müssen wir sagen: Gott ist der Herr! Er ist uns keine Rechenschaft schuldig über sein Tun. Er ist der absolute Herr, und man kann einen Herrn wie unseren Gott nicht vor die Schranken des Gerichtes fordern und sagen: Nun gib Rechenschaft von deiner Verwaltung! Er schafft den Morgen und den Abend, das Leben und den Tod, er schafft das Heil und das Unheil, und niemand darf ihn fragen: Warum tust du das? Gott ist dem kleinen Menschen nicht Rechnungslegung schuldig. Er wird uns freilich einmal alles aufklären. Es kommt die Stunde, wo er seine Weltführung, seine Lebensführung in hellem Lichte vor uns ausbreiten wird, aber noch ist es nicht so weit, noch müssen wir im Glauben harren, bis einmal die Schau uns die Rätsel des Lebens lösen wird. Gott ist der Herr, und ihm muß man sich unterordnen, vor ihm müssen jeder Vorwurf und jede Kritik schweigen.

Die zweite Erklärung für die moralischen Übel ist die Freiheit des Menschen. Gott hat den Menschen frei geschaffen, und er nimmt nicht mit der linken Hand weg, was er mit der rechten gegeben hat. Der Mensch soll die Freiheit benutzen, um Gutes zu wirken. Er soll sie benutzen, um die Erde zu einer Stätte der Wohnung, der Nahrung und der Kleidung zu machen. Er hat dem Menschen die Freiheit gegeben, damit er Gutes tue, damit er in Gottes- und Nächstenliebe sein Leben verbringe.

Aber Gott hindert auch den Menschen nicht, seine Freiheit zu mißbrauchen. Und wie sie mißbraucht wird! O meine lieben Freunde, da brauchen wir ja nur auf unser eigenes Leben zu schauen, wie oft wir die uns gegebene Freiheit zum Bösen verwendet haben statt zum Guten. Der Mißbrauch der Freiheit ist alltäglich, und aus diesem Mißbrauch der Freiheit erklären sich unendlich viele Übel auf dieser Welt, die Kriege, der häusliche Zwist, die verbrecherischen Anschläge – das alles geht auf den Mißbrauch der Freiheit zurück. Ja, sogar viele physische Übel haben den Mißbrauch der menschlichen Freiheit zur Ursache.

Forscher erzählen uns, daß es in der gewaltigen Wüste Nordafrikas, in der Sahara, in Höhlen Felsbilder gibt. Auf diesen Felsbildern sind Tiere, große Tiere abgebildet, Elefanten, Kamele, Antilopen. Diese Tiere haben einmal in der Sahara gelebt. Ja, warum sind sie denn verschwunden von der Sahara? Weil der Mensch Jahrtausende und Jahrtausende das Land verwüstet hat, weil er sich unangemessen gegenüber den Schätzen dieser Erde verhalten hat. Er hat die Wälder abgeholzt, er hat durch Überweidung das Land ausdörren lassen, er hat durch Brandrodung kostbaren Boden vernichtet – und dann ist die Folge davon, daß die Wüste wächst. Oder gehen wir nach Spanien, nach Griechenland, nach Jugoslawien! Die Berge sind zum großen Teil kahl. Kein Baum wächst dort mehr. Der Mensch hat die Wälder abgeholzt, und jetzt frißt die Erosion an den Bergen, Regengüsse tragen das kostbare Erdreich herab. Das ist Mißbrauch der Freiheit!

Der Mißbrauch der Freiheit erklärt eine Unmenge von moralischen und physischen Übeln auf dieser Welt, und Gott hindert den Menschen nicht, weil ihm offenbar mehr daran gelegen ist, aus Freiheit Gutes hervorgehen zu sehen, und weil ihm weniger daran gelegen ist, wenn die Freiheit mißbraucht wird. Damit der Mensch in Freiheit sein Heil wirken könne, läßt Gott zu, sieht er zu, wie diese Freiheit mißbraucht wird.

Schließlich ist noch ein dritter Grund für die Sinnhaftigkeit der moralischen Übel zu erwähnen, nämlich: Auch das Böse kann von Gott zum Guten gewendet werden. Es ist eine merkwürdige Fähigkeit Gottes, aus Bösem Gutes entstehen zu lassen. Das gilt zunächst für den einzelnen Sünder. Wie viele Beispiele herrlicher Bekehrung, Buße und Sühne haben wir in der Heiligengeschichte unserer Kirche! Wie viele Heilige sind durch Schuld und Sünde gegangen, bevor sie sich radikal bekehrt haben und dann die großen Heiligen geworden sind, die am Himmel unserer Kirche strahlen! Nicht als ob das Böse in ihrem Leben notwendig gewesen wäre, ganz gewiß nicht. Aber das Böse war eben nicht das letzte Wort in ihrem Leben, sondern das Böse war für sie der Anlaß, daß sie unter dem Einfluß der Gnade in sich gingen, daß sie sich bekehrten und daß sie auf diese Weise zu den leuchtenden Heiligen unserer heiligen Kirche geworden sind.

Auch diejenigen, die unter bösen Menschen leiden, können sehr wohl dadurch Gutes für sich erwerben. Die Tugenden, die wir beweisen sollen, die Tugenden, die wir erwerben sollen, sind ja zum großen Teil dadurch bedingt, daß wir Widerstände finden. Wie sollten wir denn lernen, die Feindesliebe zu üben, wenn es keine Feinde gäbe? Wie sollten wir denn Geduld beweisen, wenn es nicht Menschen gäbe, die unsere Geduld auf eine Probe stellen? Wie sollten wir denn versöhnlich sein, wenn wir keine Menschen hätten, denen wir vergeben können? Also das Böse, das uns und anderen angetan wird, ist für uns und die Nebenmenschen eine Gelegenheit, Tugenden zu erwerben, sich auszuzeugen im Dienste Gottes, besser zu werden.

Wir wollen, meine lieben Freunde, nicht annehmen, daß wir mit diesen sechs Hinweisen die Frage endgültig gelöst hätten: Warum das Übel auf Erden? Aber es kann uns vielleicht diese Predigt nachdenklich machen. Wir können einen Blick in unser Leben tun und erkennen, daß Gott manches, was uns zunächst sinnlos schien, zu einer guten Lösung geführt hat; daß vieles, was über uns gekommen ist, notwendig war von einem höheren Gesichtspunkt aus und daß, wenn wir im Lichte der Ewigkeit unser Leben betrachten, die Peinen und die Qualen, die physischen und die moralischen Übel darin einen hohen Stellenwert haben.

Adalbert von Chamisso hat einmal eine wunderbare Novelle geschrieben: „Die Kreuzesschau“. Ein Pilger geht auf einem steinigen Wege in der Sonnenhitze, mit einem Kreuz beladen. Es wird ihm schwer und immer schwerer, und er möchte es abwerfen. Dann sinkt er in einen tiefen Schlaf. In dem Schlafe hat er einen wunderbaren Traum. Er sieht ein helles Licht in einem großen Saale, und Gott steht vor ihm. Und in dem Saale ist eine Unmenge von Kreuzen, alle die Kreuze, die seit Anfang der Welt von Menschen getragen werden mußten. Da spricht der Pilger zu Gott: „Mein Kreuz ist so schwer, ich trage es schon 60 Jahre lang. Ich bin am Ende meiner Kraft. Ich weiß ja, daß man ein Kreuz tragen muß, aber könntest du mir nicht ein anderes geben?“ „Siehe hier,“ sagt Gott, „hier sind Kreuze. Suche dir eines aus!“ Und der Pilger sucht und sucht, er prüft, er hebt die Kreuze, er probiert sie, aber er kann keines finden, das ihm angemessen ist. „Ja, muß ich denn überhaupt ein Kreuz nehmen?“ „Ohne Kreuz kein Heil!“ Also muß er ein Kreuz nehmen. Und in seiner Ratlosigkeit wendet er sich wieder an Gott. Dieser sagt: „Sieh mal hier an der Türschwelle!“ Da greift der Pilger zu, er wägt das Kreuz und sagt: „Es ist zwar ein bißchen schwer, aber ich glaube, das könnte ich tragen.“ „So nimm es!“ sagt Gott. Er nimmt es, Und da stößt er einen Schrei aus, denn es war das Kreuz, das er abgelegt hatte.

Ist nicht diese wunderbare Geschichte, meine lieben Freunde, ein Hinweis darauf, daß auch das Kreuz unseres Lebens, das physische und das moralische Übel, von Gott geprüft und auf unsere Schultern gelegt ist? Müßten wir nicht wie die Sarah im Buche Tobias vor Gott bekennen: „Davon aber ist jeder, der dich verehrt, überzeugt: Wenn er in der Prüfung war, wird gekrönt sein Leben. Wenn er in Trübsal war, wird er befreit. Ist er gezüchtigt worden, dann kann er Erbarmen bei dir finden. Du hast ja kein Wohlgefallen an unserem Verderben. Denn nach dem Sturm schaffst du Ruhe, nach Tränen und Klagen flößest du Frohlocken ein. Dein Name, Gott Israel, sei gepriesen in Ewigkeit!“

Amen.

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