Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Mai 1993

Über Jesus als Verkünder der Wahrheit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben uns vorgenommen, an der Hand des Evangelisten Johannes die Wirklichkeit Jesu Christi zu erkennen. Am heutigen Sonntag wollen wir nachspüren, was es bedeutet, wenn Jesus im Johannesevangelium von sich sagt: „Ich bin die Wahrheit!“ Wir wollen diese Aussage unseres Heilandes in vier Sätzen zu entschleiern versuchen. Die vier Sätze lauten: Die Aussage des Herrn bedeutet:

1. Jesus verkündet die Wahrheit,

2. Jesus ist die Wahrheit,

3. Jesus verheißt das wahre Leben, und

4. Jesus verbürgt den wahren Lebenssinn.

Die erste Aussage lautet: Jesus verkündet die Wahrheit. Das hat er ja als seine Lebensaufgabe bezeichnet. Vor dem Gericht des römischen Prokurators hat er kundgetan: „Dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen, daß ich von der Wahrheit Zeugnis gebe.“ Wenn Jesus als Verkünder der Wahrheit auftritt, dann ist damit gemeint. daß er Gott, die Welt und den Menschen zuverlässig interpretiert. Wer wissen will, was Gott, was die Welt und was der Mensch ist, der muß sich an Jesus halten. Er deckt auf, was es um Gott, die Welt und den Menschen ist. Auch die Menschen bemühen sich um die Erkenntnis von Gott und Welt und Mensch, und sie können mit ihren natürlichen Kräften durchaus manche Erkenntnisse gewinnen; aber die Erkenntnisse, die der Mensch mit eigenen Kräften zu erwerben trachtet, sind von Unsicherheit und von Irrtum durchwirkt. Diese Erkenntnisse kommen bruchstückweise und nacheinander erst zur Geltung, sie sind vorletzte Wahrheiten, keine letzten Wahrheiten. Wir wollen diese menschlichen Bemühungen nicht geringschätzen, wir sind ihnen zu Dank verpflichtet, und wir wünschen nur, daß sie schon eher und dauerhafter das Licht der Welt erblickt hätten. Was war es eine große Entdeckung, als der Wollsteiner Arzt Robert Koch fand, daß die Tuberkulose, diese furchtbare Geißel, durch Bakterien hervorgerufen wird! Tausende von Jahren hat der Mensch gebraucht, um das zu erkennen. Welche Mißgriffe hat die Medizin gemacht, bis diese Erkenntnis gewonnen war, welche Umwege und Irrwege wären den Menschen erspart geblieben, wenn diese Entdeckung früher gekommen wäre!

Also noch einmal: Wir wollen diese menschlichen Erkenntnisse und Bemühungen hochschätzen, nur vermögen sie die letzten Fragen nicht zu beantworten. Die letzten Fragen kann nur Christus beantworten, weil er aus dem Herzen des Vaters kommt und weil er die Antworten auf diese letzten Fragen im Herzen des Vaters vernommen hat. Er verkündet die Wahrheit, und das ist ein Befehl, das ist ein Appell, das ist eine existenzielle Wahrheit, die der Mensch wahrnehmen muß. An dieser Annahme entscheidet sich Heil und Unheil. „Wer an das Wort des Eingeborenen glaubt, der kommt nicht ins Gericht, wer aber nicht daran glaubt, der ist schon gerichtet!“ An dieser Wahrheit entscheidet sich also Heil und Unheil. Es ist ganz falsch, wenn die Menschen sagen: Es kommt gar nicht darauf an, was man glaubt oder nicht glaubt, wenn man nur ein anständiger Mensch ist. Nein, wenn es Jesus darum geht, daß man seine Wahrheit annimmt, dann kommt es eben gerade darauf an, daß man ihm Gehorsam leistet, dann ist es eben nicht egal, woran einer glaubt, sondern er ist nur dann ein anständiger Mensch, wenn er auf die Stimme des Eingeborenen vom Vater hört.

Jesus verkündet die Wahrheit, aber zweitens: Er ist die Wahrheit. Wie ist denn das zu verstehen? Wie kann denn „der Sohn des Zimmermanns“, als der Jesus angesehen wurde, die Wahrheit sein? Man versteht diese Aussage nur, wenn man das griechische Wort für „Wahrheit“ ins Auge faßt. Das griechische Wort aletheia bedeutet „die nicht verborgene, die offenbare Wirklichkeit“, und zwar die nicht verborgene, die offenbare Wirklichkeit Gottes. Jesus ist also nicht nur der, der die Wahrheit ausruft, wie wir es ja auch zu tun uns bemühen, nein, er ist die entschleierte, die unverhüllte Wirklichkeit Gottes. Wer Jesus die Hand gibt, der gibt Gott die Hand. Wer Jesus hört, der hört Gott. Wer Jesus sieht, der sieht Gott. So sagt es mit aller Härte der Herr zu Philippus: „Philippus, wer mich sieht, der sieht den Vater!“

In Jesus ist Gott der Welt zugänglich geworden, ist er in diese Welt eingetreten. Wer Gott begegnen will, der muß zu Jesus gehen. Er ist nicht nur der Weg zum Vater, sondern er ist die Gegenwart Gottes in dieser Welt. „Wer mich sieht, sieht den Vater!“ Dieses Sehen, von dem hier die Rede ist, geschieht durch den Glauben. Der Glaube ist eine Sehkraft. Der Glaubende gewinnt Einsichten, die dem Ungläubigen und Nichtgläubigen verschlossen sind. Und diese Einsicht, die höchste Einsicht, die man durch den Glauben gewinnen kann, ist die, daß Jesus der wahre Sohn Gottes, der wahre, auf Erden erschienene Gott ist.

Er ist die Wahrheit! Wer sich mit ihm verbindet, verbindet sich mit der Wahrheit; und weil er und der Vater eins sind, verbindet sich der, der sich mit Christus verbindet, gleichzeitig mit dem Vater. Jesus ist die Wahrheit, weil er die entschleierte und offenbar gewordene Wirklichkeit Gottes ist. Da kann kein Prophet mithalten, da kann kein Mohammed und kein Buddha und wie sie alle heißen mögen, die Gestalten der Religionsgeschichte – sie alle können dieser Wirklichkeit des Jesus von Nazareth nicht das Wasser reichen. Das ist ein Anspruch über allen Ansprüchen, und das ist eine Wirklichkeit über allen Wirklichkeiten. „Ich bin die Wahrheit!“ sagt Jesus. Und er ist sie, er hat diese Aussage beglaubigt durch sein reines Leben, durch seine Weissagungen, durch seine Wundertaten. Er ist beglaubigt worden durch das Ja des Vaters in der Auferweckung vom Tode. Er eröffnet also den Menschen eine Wirklichkeit, die über der irdischen Wirklichkeit liegt. Und deswegen kann er – und das ist die dritte Aussage – den Menschen ein Leben verheißen, welches als das wahre Leben bezeichnet werden muß.

In der Abschiedsstunde sagte er zu seinen Jüngern: „Habt keine Angst in eueren Herzen!“ Und bei den Synoptikern heißt es: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib zu töten vermögen, aber die Seele nicht töten können!“ Jesus offenbart seinen Jüngern die Gefährdungen dieser Welt. Sie müssen damit rechnen, daß sie scheitern an der Todesmauer, daß sie getötet werden. Der Jünger ist nicht über dem Meister, und wenn sie mit dem Meister so verfahren sind, daß sie das Leben ans Kreuz geheftet haben, dann darf der Jünger und der Schüler nichts anderes erwarten. Sie werden also scheitern in den Grenzsituationen des Lebens. Jesus verheißt den Menschen keine Sicherheit, keine Geborgenheit in dieser Welt. Die Sicherheit und die Geborgenheit, die er verheißt, ist von anderer Art. Sie ist in jener Welt beheimatet, die dann ihr Tor auftut, wenn der Mensch im Tode von dieser Welt scheidet.

Jesus eröffnet das wahre Leben, indem er sagt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Ich gehe hin, euch eine zu bereiten. Wenn ich sie euch bereitet habe, dann werde ich kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr dort seid, wo ich bin.“ Im Hause des Vaters sind viele Wohnungen. Das bedeutet: Im Hause Gottes, in der Wirklichkeit Gottes, in der Gott vorbehaltenen Welt gibt es reiche Wohnmöglichkeiten, also Existenzsicherheit, Lebenserfüllung, Lebensglück. Jesus verheißt das wahre Leben, eben im Hause des Vaters, und er kann es verheißen, denn er kommt ja aus dem Hause des Vaters, und er kann auch Wohnungen verbürgen, weil er eben der Sohn des Vaters und der Erbe ist, der im Hause des Vaters schalten und walten kann, wie er will. Im Hause des Vaters sind viele Wohnungen, das bedeutet auch, daß dort die Fülle der Existenzsicherheit ist, denn es sind ja nicht wenige, sondern viele, es sind unzählige Wohnungen, die im Hause des Vaters bereitstehen, um die, welche sich Jesus im Glauben übergeben haben, aufzunehmen.

Deswegen diese Ermutigung: „Habt keine Angst in euerem Herzen!“ Es mögen Krankheiten, es mögen Gefährdungen, es mögen der Tod und das Elend über uns kommen, der Vater im Himmel wartet auf diejenigen, die das alles im Glauben an Jesus durchstehen, und ist bereit, sie in seine Wohnungen aufzunehmen. „Wäre es anders, ich hätte es euch gesagt.“

Wir dürfen uns auf sein Wort verlassen, er trügt nicht und belügt uns nicht, sondern geht hin, diese Wohnungen für uns zu bereiten.

Er verheißt uns das wahre Leben und er verbürgt den wahren Lebenssinn. Welches ist denn der wahre Lebenssinn? Der wahre Lebenssinn, meine lieben Freunde, ergibt sich daraus, daß der Mensch von Gott stammt, d.h. von der Liebe. Wenn der Mensch ein von Gott entstammtes Wesen ist, dann bedeutet das, daß sein Leben sich nur erfüllt in der Liebe. Die Liebe ist jetzt in Jesus greifbar und zugänglich geworden. Wer zu Jesus geht, der geht zu der personhaften Liebe. Im Brüllen und im Toben des Hasses ist es möglich, den Raum der Liebe zu finden in Christus Jesus.

Dieser Tage, meine lieben Freunde, wurde bekannt, daß einer von den im Ghetto von Warschau befindlichen Widerstandskämpfern vor dem Tode noch eine Nachricht hinterlassen habe. Die Überlebenden sollen die, die hier untergehen, rächen. Das ist nicht die Sprache Jesu. Die Sprache Jesu verzichtet auf Rache. Die Liebe will keine Rache, sondern die Liebe will nichts anderes als wohltun und heiligen und retten. Wer sich der Liebe, die in Jesus in diese Welt eingetreten ist, übergibt, der verlangt nicht nach Rache, der verlangt nach Güte und nach Treue und nach Liebe, aber nicht nach Rache. Er ist gewappnet gegen die Versuchung, Haß mit Gegenhaß, Verleumdung mit Gegenverleumdung zu beantworten. Wer mit Christus Jesus verbunden ist, der ist mit der Liebe verbunden, und wer mit der Liebe verbunden ist, der kann nicht hassen.

Es gibt nun Leute, die sagen: Die Wahrheit ist nicht wichtig, wichtig ist nur, daß man die Liebe hat. Ja, meine lieben Freunde, woher weiß ich denn, was Liebe ist, wenn ich nicht in der Wahrheit stehe? Woher weiß ich denn, welche Äußerungen von der Liebe verlangt sind, wenn nicht die Wahrheit sie mir eröffnet? Es gibt ja auch einen falschen Begriff von Liebe. Wir sprechen von einer Affenliebe, wenn meinetwegen Eltern ihren Kindern jeden Wunsch erfüllen, ohne Rücksicht, ob es ihnen nützt oder nicht. Es gibt auch eine schwächliche Gutmütigkeit, die sich als Liebe tarnt; und im geschlechtlichen Bereich, da wird als Liebe ausgegeben, was in Wirklichkeit nur das Hämmern des Blutes und das Kochen der Sinne ist. Man muß sich eben erst von Gott sagen lassen, was Liebe ist, damit man weiß, wie man lieben soll. Wahrheit und Liebe sind keine Gegensätze, sondern nur derjenige weiß, was er lieben muß, der in der Wahrheit steht. Das eben ist die Wirklichkeit, die Jesus uns eröffnet hat, daß er uns zeigt, was Liebe ist. Liebe ist bereit, um des anderen willen den Tod auf sich zu nehmen. Darin zeigt sich die Liebe des Vaters, daß er seinen Sohn für die Menschen, die seine Feinde waren, hingegeben hat. Das ist Liebe! Und nach dieser Liebe muß sich jede menschliche Liebe, jede irdische Liebe ausrichten.

Wer das aber tut, der findet den Lebenssinn. Der Lebenssinn ist das Leben in der Liebe, die Christus uns eröffnet hat. Und diese Liebe ist, wenn sie auf Christus gegründet ist, unerschütterlich, sie wird anfanghaft in dieser Weltzeit den Menschen geleiten, und sie wird endgültig in der Erfüllung des Himmels den Menschen erfreuen, eine ganze Ewigkeit lang. Aus dieser Überzeugung hat der Apostel Paulus im Brief an die Römer das Siegeslied geschrieben: „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alles zum Besten gereicht. Was sollen wir sagen? Wenn Gott für uns ist, wer ist dann wider uns? Wird denn der, der seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben, uns mit ihm nicht auch alles andere schenken? Wer soll der Ankläger sein wider die Erwählten Gottes? Gott ist es, der sie gerecht spricht. Wer sollte sie verurteilen? Christus Jesus, der gestorben, nein, der auferweckt ist, der zur Rechten Gottes sitzt, er ist es, der auch für uns eintritt. Was sollte uns trennen von der Liebe Christi? Trübsal? Bedrängnis? Verfolgung? Hunger? Blöße? Gefahr? Oder das Schwert? Es steht ja geschrieben: 'Deinetwegen sterben wir den ganzen Tag, wie Schlachtschafe werden wir angesehen, aber in alledem bleiben wir Sieger, um dessentwillen er uns geliebt hat.' Denn ich bin überzeugt, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe noch irgendein anderes Geschöpf uns trennen kann von der Liebe Gottes, die da ist in Christus Jesus, unserem Herrn.“

Amen.

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