Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. Februar 1993

Die Unbefleckte Empfängnis Mariens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Maria steht in einem einzigartigen Verhältnis zu ihrem Sohn. Sie hat ihm das Leben geschenkt. Sie war die Pforte, durch die der Logos, die zweite Person in Gott, in diese Welt eintrat. Was ihr widerfuhr, war eine unverdiente Gnade Gottes. Maria ist ein Geschöpf des göttlichen Erbarmens. In ihr siegt die Macht Gottes über menschliche Hinfälligkeit und Schwäche.

Ihre Würde als Gottesmutter ist aber begleitet von ihrer Ausrüstung an Gnade. Sie sollte nicht nur die Mutter des göttlichen Sohnes werden, sie sollte ihm auch gleichförmig sein in ihrer inneren Verfassung. Diese Gleichförmigkeit ist ihre Gnadenausstattung, und sie zeigt sich nirgends deutlicher als in ihrer Freiheit von der Erbsünde. „Nach dem gnädigen Ratschluß Gottes ist Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins an im Hinblick auf die Erlösungsverdienste Jesu von allem Makel der Erbsünde frei geblieben.“ Die Bedeutung dieses Glaubenssatzes, der im Jahre 1864 feierlich von Papst Pius IX. verkündet wurde, ist folgende:

Alle anderen Menschen treten, weil sie die Last Adams tragen, im Zustand der Gnadenberaubtheit ins Leben. Sie müssen aus diesem Finsterniszustand befreit werden durch die Taufe. Maria ist vom ersten Aufglimmen ihres Lebens an in der Gnade gewesen. Niemals war sie vom Verderben der Sünde erfaßt. Der Anfang ihres Lebens fällt mit dem Beginn ihrer Durchgnadung zusammen. Es scheint ein unausrottbares Mißverständnis zu sein, daß man die Unbefleckte Empfängnis auf ihre Eltern bezieht, daß man meint, die Empfängnis Mariens durch die Eltern sei unbefleckt gewesen. Während alle anderen Kinder befleckt würden durch die Empfängnis, sei sie nicht befleckt worden. Das ist ein Mißverständnis, ein geradezu verführerischer Unsinn. Über die Eltern Mariens sagt die Unbefleckte Empfängnis nichts aus, in welchem geistigen, in welchem religiösen, in welchem sittlichen Zustand sie sich befanden, als Maria empfangen wurde. Davon spricht das Dogma nicht. Es bezieht sich allein und nur auf die Empfangene, auf Maria, und von ihr sagt es, daß sie vom ersten Augenblick ihres irdischen Daseins an durch eine besondere Gnade des allmächtigen Gottes um der Erlösungsverdienste Christi, ihres Sohnes, willen von dem Makel der Erbsünde verschont blieb.

Maria ist die Ersterlöste ihres Sohnes. Auch sie war erlösungsbedürftig. Auch Maria mußte, weil sie in der Kette der Nachkommen Adams stand, erlöst werden. Aber während alle anderen durch die Gnade, die in der Taufe gewährt wird, nachträglich erlöst werden, war sie die Vorerlöste. Andere werden von der Erbsünde befreit, Maria blieb vor der Erbsünde bewahrt.

Also die Erlösungsbedürftigkeit Mariens steht fest, aber sie wurde in einer besonderen Weise erlöst, in einer einzigartigen Weise, um ihrer einmaligen Stellung im Heilswerk wegen.

Die Wahrheit von der Erbsündenfreiheit Mariens ist in anderen Glaubenswahrheiten eingehüllt, und es hat lange gedauert, bis sie entfaltet wurde. Bis zum Jahre 1864 hat es gebraucht, hat die Dogmenentwicklung gebraucht, um endgültig klar zu erkennen, daß die Erbsündenfreiheit Mariens in der Offenbarung enthalten ist. Die Kirche sieht Andeutungen an zwei biblischen Stellen; einmal im sogenannten Proto-Evangelium, nämlich der Erstverheißung im Buche Genesis. Da wird gesagt, als der Sündenfall eingetreten war, daß die Sünde doch wieder besiegt werde. „Feindschaft will ich setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deinem Samen und ihrem Samen.“ Die Schlange wird diesem Weibessamen nachstellen und ihn an der Ferse verletzen, aber der Weibessame wird ihr den Kopf zertreten, d.h. es wird einer aus dem Menschengeschlechte erscheinen, der den Satan besiegt. Und wir wissen heute aus der Heilsgeschichte, daß dieser eine niemand anders sein konnte als unser Herr und Heiland Jesus Christus. Er hat die Sünde besiegt, und deswegen hat diese Stelle aus der Genesis, aus dem ersten Buche Moses, messianische Bedeutung. Sie verweist auf den Weibessamen in besonderer Weise, nämlich auf Jesus Christus. Und Maria steht nun mit diesem ihrem Kind in einer ganz besonderen geistlichen und heilsgeschichtlichen Verbindung. Sie nimmt deswegen – in einer mitgeteilten und abgeleiteten Weise – teil an dem Sieg über die Sünde. Insofern kann man also in diesem Proto-Evangelium eine Andeutung finden, daß Maria von der Erbsünde bewahrt blieb.

Im Lukasevangelium wird Maria als die Begnadete angesprochen. Das bezieht sich natürlich zunächst auf ihre Muttergotteswürde. Weil sie den Logos gebären sollte, war sie begnadet. Aber man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß ihrer Würde ihre Nähe zu Gott entsprechen sollte. Weil sie so hoch gestellt war, sollte sie auch so rein sein.

Die Dogmengeschichte zeigt uns, daß es bis zum Jahre 1864 nicht an gegnerischen Stimmen zu dieser Lehre gefehlt hat. Im 12. Jahrhundert erst haben zwei englische Mönche diese Wahrheit deutlich ausgesprochen; aber ein so berühmter Mann und ein so großer Heiliger wie der heilige Bernhard wandte sich gegen diese Lehre. Auch der heilige Thomas von Aquin hat sie nicht angenommen, der heilige Albert ebenfalls nicht. Die gedanklichen Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, waren zu groß.

Die Lösung, die intellektuelle Lösung verdanken wir einem Mann, der vielleicht jetzt bald vor der Heiligsprechung steht, nämlich dem schottischen Theologen Duns Scotus. Er hat die scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit überwunden, zu zeigen, wie jemand aus der Ahnenreihe Adams nicht in der Sünde gestanden haben kann. Ja, sagt Duns Scotus, Maria ist auch erlöst worden. Aber während alle anderen die Erlösung so erfahren, daß sie von der Sünde befreit werden, ist sie erlöst worden, indem sie vor der Sünde bewahrt wurde.

Er hat die Lösung gebracht, der große Duns Scotus, und seitdem geht es dann aufwärts. Der Papst Sixtus IV., der im 15. Jahrhundert regierte, hat schon das Fest von der Unbefleckten Empfängnis in den Festkalender der Kirche aufgenommen. Das Tridentinum – das Konzil von Trient – hat von Maria ausgeschlossen, daß sie mit der Erbsünde belastet gewesen sei. Und endlich der große Papst Pius IX. hat am 8. Dezember 1864 als Glaubenssatz der Kirche verkündet: Maria ist vom ersten Augenblick ihres Daseins an durch ein Gnadenprivileg des allmächtigen Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi, des Erlösers, von allem Makel der Erbsünde frei geblieben.

Es ist ohne weiteres einzusehen, daß die Mutter des heiligen Erlösers heilig sein soll. Sie hat ihm ja etwas von ihrer Art gegeben. Nach seiner ganzen irdischen Befindlichkeit stammt Jesus von Maria. Sie hat ihm seine Züge eingeprägt. Sie hat ihm Eigenschaften und Anlagen mitgegeben, die in ihm wirken sollten. Da mußte natürlich alles von ihm ferngehalten werden, was nur entfernt an Sünde und Sündenfolgen heranreicht. Die Mutter mußte ganz rein sein, damit ihr Sohn ganz rein wäre. Und so ist es geschehen. Maria ist nicht nur von der Erbsünde, sondern auch von den Folgen der Erbsünde frei geblieben, also von der ungeordneten Begierlichkeit, von der Konkupiszenz. In Maria ist nie der Wunsch aufgestiegen, sich gegen Gottes Willen zu behaupten. Sie hat nie eine Versuchung zur Sünde in sich gespürt. Sie ist auch nie einer solchen Versuchung – die es so nicht gegeben hätte – erlegen. Sie ist sündenfrei geblieben. Sie ist die unbefleckte und sie ist die unversehrte Jungfrau, als die wir sie in der Lauretanischen Litanei anrufen.

Ja, war ihr Leben dann nicht außerordentlich einfach, ja fast bequem, wenn sie nicht ringen mußte mit der Sünde, wenn sie nicht kämpfen mußte mit den Verlockungen von außen und von innen? Ihre Kämpfe liegen auf einem anderen Gebiet. Sie war immer bereit zur Empfänglichkeit und Hingabe für Gott. Aber Gott wollte sie von Stufe zu Stufe höher führen. Er wollte, daß sie mit immer größerer Kraft und Intensität sein Geschöpf sein solle. Und deswegen hat er sie auch in ihrer irdischen Pilgerschaft in immer neue, scheinbar ausweglose Situationen hineingeführt. Schon als der Engel ihr die Botschaft brachte, erschrak sie; auch Maria, die Reine, die Allerreinste, gerät in Schrecken, wenn Gott sich ihr naht, wenn er durch einen Boten zu ihr spricht. Sie war zunächst ratlos über die Botschaft. „Wie soll das geschehen?“ Das ist Ratlosigkeit. Sie hatte keinen Beweis, daß die Botschaft von Gott kam. Der Engel wies sich durch kein Wunder aus. Wie hat sie dann überhaupt begriffen, daß die Botschaft von Gott kam? Es war die innere Verwandtschaft zwischen ihr und dem Gottesboten. Die geistliche Nähe verriet ihr untrüglich, daß der, der da vor ihr stand, von Gott gesandt sein muß. Sie glaubt – und das ist die große Auszeichnung ihres Lebens: Sie ist die Glaubende! Sie wird deswegen seliggepriesen in der Heiligen Schrift: „Selig, die du geglaubt hast!“ Ihr Leben vollzog sich also im Glauben, das heißt immer bis zu einem gewissen Grade auch: in der Dunkelheit des Glaubens. Sie war noch nicht in der Schau, sie war noch nicht im Himmel, sie war noch nicht angekommen, sondern sie war auf der Pilgerschaft – und Pilgerschaft heißt Wandern im Glauben.

So war es auch mit der Geburt ihres Sohnes. Unter welchen kümmerlichen Umständen wurde der geboren, der den Thron des Vaters David erhalten sollte! Vor dem harten Herodes mußte sie fliehen nach Ägypten, in einem fremden Land ohne die heimatlichen Feste verweilen. Wo war da der allmächtige Gott, der seinen Sohn geschickt hatte? Das war eine Glaubensprobe! Maria hat diese Glaubensprobe bestanden, genau wie jene im Tempel zu Jerusalem. Der greise Simeon sagt von Jesus, daß er das Heil der Völker ist. Er sagt aber auch, daß ihre Seele ein Schwert durchdringen werde, daß also Leiden über sie kommen werden und daß sich an ihrem Sohne Heil und Unheil entscheiden wird. Simeon wußte mehr, mehr selbst als Maria und Josef wußten. Und immer wieder berichtet die Schrift, daß Maria das Verständnis fehlte. „Sie wußte nicht, was er damit sagen wollte.“ Sie war also nicht eingeweiht von Gott in einzelne Ereignisse des Gottesreiches, vor allem nicht, als er wortlos Abschied nahm in Jerusalem. Das war für sie ein schreckliches Erlebnis. Wir spüren, wie die Erregung in ihr zittert. „Kind, was hast du uns getan? Dein Vater und ich, wir haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Sie hat noch nicht erfaßt, daß über diesem Leben der Wille des Vaters im Himmel steht. Diese kurze Trennung ist nur der Vorgeschmack eines endgültigen Abschieds, der sich auf Golgotha zutragen wird.

Maria hat alle Schritte ihres Sohnes miterlebt. Sie ist alle Wege des Sohnes mitgegangen, und so konnte sie auf Golgotha unter dem Kreuze ausharren. Sie ist nicht geflohen vor dem Kreuze, sie ist auch nicht zusammengebrochen unter dem Kreuze, sie hat ausgeharrt unter dem Kreuze. Sie konnte die Worte vernehmen, die sich noch einmal andeutend darauf richten, daß ihr Sohn sich von ihr entfernt: „Frau,“ so sagte er, „Frau“ (statt „Mutter“), „Frau, siehe da deinen Sohn!“ Jetzt muß sie einen Jünger eintauschen für ihren Jesus, einen bloßen Menschen für den Gottessohn.

Maria hat nicht alles verstanden, was Gott ihr zumutete, aber ihre Treue zu Gott, ihr Gehorsam gegen Gott hat niemals gewankt. Das ist ihre Größe. Ihr Verständnis vermochte nicht alles mitzuvollziehen, aber ihr Wille war immer gefestigt in Gott, und so hat sie durch alle Dunkelheiten ihres Lebens hindurch die Vollendung gefunden. Die anderen, die Sünder, haben sich von Gott losgesagt durch den Ungehorsam und sind dadurch zugrunde gegangen. Maria hat durch den Gehorsam die Vollendung in Gott gefunden, sie ist so die Königin der Engel, die Helferin der Christen und die Zuflucht der Sünder geworden.

Amen.

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