Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. Mai 1992

Die Pflicht zur Selbstliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Liebe dich selbst auf gottgefällige Weise!“ So lautet eine Überschrift in dem goldenen Büchlein unseres Katechismus. „Liebe dich selbst auf gottgefällige Weise!“ Dann kommt die Frage: „Wann lieben wir uns auf gottgefällige Weise?“ Darauf die Antwort: „Wir lieben uns auf gottgefällige Weise, wenn uns die ewige Seligkeit mehr wert ist als alles vergängliche Gut auf Erden.“ Das sind klare Worte, so klar, wie sie eben unserem Katechismus entströmen. „Liebe dich selbst auf gottgefällige Weise!“ Es gibt eine Pflicht der Selbstliebe. Sich selbst lieben heißt, sich selbst Gutes wünschen aufgrund vernünftiger Wertschätzung. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß jedermann sich selbst liebt, aber es ist nicht selbstverständlich. Daß man sich selbst Gutes wünscht, das scheint dem Menschen mit seiner Natur gegeben, und tatsächlich haben wir eine Anlage zur Selbstliebe in uns. Aber diese Selbstliebe muß erleuchtet und geläutert sein. Es gibt nämlich eine geordnete und eine ungeordnete Selbstliebe. Die geordnete Selbstliebe hält die Ordnung der Liebe ein, die Ordnung der Werte, die Ordnung der Güter. Sich selbst Gutes wünschen aufgrund vernünftiger Wertschätzung heißt sich selbst lieben. Wir schätzen an uns ein Zweifaches, unsere natürliche und unsere übernatürliche Gottebenbildlichkeit. Wir haben Werte an uns und in uns, einmal, weil wir von Gott geschaffen sind nach seinem Bild und Gleichnis. Das nennt man die natürliche Gottebenbildlichkeit, also daß der Mensch Leib und Seele besitzt, daß sie harmonisch zusammengefügt sind, daß der Geist von Verstand und Wille und Gefühl erfüllt ist, das macht die natürliche Gottebenbildlichkeit aus. Und die dürfen, ja die müssen wir lieben, denn was von Gott herkommt, kann nur ein Wert sein, und die Antwort auf den Wert ist die Liebe.

Dazu kommt ein Zweites, die übernatürliche Gottebenbildlichkeit. Die so beschaffene Natur hat Gott in wunderbarer Weise erhoben, zur Freundschaft mit sich selbst geführt. Die Begnadung, das, was wir heiligmachende Gnade nennen, ist der Grund unserer übernatürlichen Gottebenbildlichkeit. Wir sind etwas wert, wir sind viel wert. Wir sind wert, meine lieben Freunde, das Blut eines Gottessohnes. Deswegen haben wir ein Recht, haben wir die Pflicht, die übernatürliche Gottebenbildlichkeit in uns zu lieben.

Die Selbstliebe ist die Grundlage für alle Tugenden. Weil wir die Werte, die wir besitzen, lieben, deswegen trachten wir danach, sie zu erhalten, zu mehren, zu fördern. Deswegen schützen wir sie gegen Beschädigung und gegen Verlust. Die Selbstliebe begründet unsere Verpflichtung, alle unsere Fähigkeiten harmonisch auszubilden. Gott hat uns das Sein anvertraut, damit wir es entfalten. Wir sollen die Anlagen und Kräfte, die in uns sind, nicht brachliegen lassen, sondern wir sollen mit ihnen arbeiten, körperlich, geistig. Wir sollen uns entwickeln, wir sollen streben, bis wir das Vollmaß Christi erreicht haben. Es gibt eine Pflicht der Selbstliebe, und aus dieser Pflicht der Selbstliebe erheben sich alle anderen Pflichten, die wir gegen unseren Leib, unsere Seele, unsere irdischen Aufgaben und gegen das himmlische Ziel haben.

Die Ordnung der Selbstliebe verlangt, daß wir dem Geistigen den Vorrang vor dem Körperlichen einräumen. Die Ordnung der Selbstliebe fordert, daß wir das Himmlische vor das Irdische setzen. Das ist einer der Gründe, weshalb zumindest in der Vergangenheit die gläubigen Katholiken vielen anderen Volksgenossen unterlegen waren, weil nämlich die gläubigen Katholiken das himmlische Ziel vor die irdischen Vorteile gesetzt haben. Und dann gerät man auf dieser Erde leicht ins Hintertreffen. Aber das ist die rechte Ordnung, daß man die himmlische Seligkeit vor das irdische Glück setzt. Wir lieben uns in Gott wohlgefälliger Weise, wenn wir die ewige Seligkeit vor das irdische Glück setzen.

Es gibt Gefährdungen der Selbstliebe. Die größte und erste Gefährdung der Selbstliebe ist die Sünde. Wenn man das den Menschen klarmachen könnte, wenn uns das in Fleisch und Blut übergehen könnte, daß es kein größeres Unheil gibt als die Sünde, dann wäre die Sünde in der Welt und in unserem Herzen überwunden. Denn es ist tatsächlich so: Der Mensch schadet sich niemals mehr, als wenn er sündigt. Natürlich ist der Mensch in seiner Kurzsichtigkeit, mit seinen gehaltenen Augen, davon überzeugt, daß die Sünde ihm einen Vorteil bringt. Deswegen stiehlt er eben, deswegen treibt er Unzucht, deswegen betrinkt er sich, weil er meint, damit könne er etwas gewinnen. Aber das sind eben Täuschungen, das sind Verirrungen. Die Sünde bringt nichts Gutes für den Menschen, die Sünde kann nur Schaden anrichten. Es ist metaphysisch unmöglich, daß die Sünde dem Menschen einen wirklichen Vorteil bringt; einen scheinbaren ja, aber keinen wirklichen, keinen dauernden, keinen Vorteil im Auge Gottes. Wer davon durchdrungen ist, der ist tatsächlich immun gegen die Sünde.

Die Gefährdungen, die gegen die Selbstliebe gerichtet sind, können sich auf die Seele und auf den Leib beziehen. Ich will heute von zwei solchen Gefährdungen sprechen. Die erste ist die Trägheit, die zweite ist die Unmäßigkeit.

Die Trägheit ist zunächst einmal die Trauer über die Berufung, die Gott uns hat zuteil werden lassen. Das ist die Definition der Trägheit: Trauer über die Berufung, die Gott uns hat zuteil werden lassen. „Ja, aber“, könnte jemand sagen, „was hat denn das mit Trägheit zu tun?“ Nun, sehr viel. Diese Trauer führt dazu, daß der Mensch sich nicht anstrengt, daß er sich nämlich nicht die Mühe gibt, die erforderlich ist, um das ewige Ziel zu erreichen. Die Traurigkeit über die Berufung zum Himmel und über die übernatürliche Begnadung führt dazu, daß die Menschen gereizt reagieren, wenn die Botschaft der Kirche an ihr Ohr klingt. Da haben Sie die Erklärung für den Haß, der uns aus den Massenmedien entgegenströmt. Die diesen Haß verbreiten, sind traurig, daß Gott sie zur Höhe, zur Tugend, zur Wahrheit, zur Liebe berufen hat, und sie wehren sich gegen diejenigen, die diese Lehren verbreiten, nämlich die katholische Kirche und ihre rechtgläubigen Priester und Theologen. Das ist der Grund für diesen Haß. Sie wollen die Verkündiger unschädlich machen, damit die Botschaft erstickt wird.

Freilich geht dann diese Trägheit über auf andere Bereiche. Sie erfaßt auch den irdischen Bezirk. Man ist träge auch in den Aufgaben, die wir hier auf Erden zu verrichten haben: die Berufsarbeit, die häuslichen Pflichten. Die Trägheit ist eine Wurzelsünde, eine Hauptsünde, denn aus der Trägheit erheben sich viele andere Sünden. Wer träge ist, der kommt in Versuchung, wogegen die Arbeit therapeutischen Wert besitzt. Wer träge ist, an den kommt der Versucher leichter heran als an den rastlos Arbeitenden. Zur Trägheit gesellen sich nämlich Sinnlichkeit, Ausgelassenheit, Feigheit, Flucht vor den Aufgaben. Die Trägheit ist wahrhaftig eine der gefährlichsten Sünden, die unsere irdische Aufgabe und übernatürliche Berufung zu untergraben suchen. Deswegen, meine lieben Freunde, gebietet uns die rechte Selbstliebe, daß wir die Trägheit und die Unlust an den göttlichen, aber auch die Unlust an den irdischen Pflichten überwinden. Hier ist die Zeit der Arbeit, des Kampfes und des Leidens. Ausruhen werden wir uns in der Ewigkeit. Hier haben wir zu arbeiten, zu kämpfen und zu leiden. Der Lohn ist uns gewiß, wenn wir hier recht gearbeitet, gekämpft und gelitten haben. „Was willst du hier Ruhe haben?“ fragt die Nachfolge Christi. „Was willst du hier Ruhe haben, wo du doch zur Arbeit geschaffen bist?“ Wehren wir uns also gegen die Versuchung zur Trägheit, gegen die Versuchung zum Widerwillen gegen die himmlische Berufung, zum Überdruß an der Arbeit, um besser zu werden, um Tugenden zu erwerben, um uns aus dem Schlamm unserer Schwächen und Leidenschaften zu erheben.

Die zweite, ebenso gefährliche Versuchung ist die Unmäßigkeit. Unmäßigkeit ist das ungeordnete Verlangen nach Speise oder Trank. Wer unmäßig ist, verwechselt Mittel und Zweck. Denn der Zweck der Nahrungsaufnahme oder der Getränkeaufnahme ist die Erhaltung des körperlichen Lebens. Der Zweck darf nicht dem Mittel geopfert werden. Das Mittel darf nicht den Zweck verdrängen. In besonderer Weise ist eine Gefahr für den Menschen die Unmäßigkeit in berauschenden Getränken, die Trunkenheit oder gar die Trunksucht. Es gibt eine vollständige und eine unvollständige Trunkenheit. Die vollständige Trunkenheit ist jene, die den Vernunftgebrauch entzieht. Auch die unvollständige Trunkenheit bringt große Gefahren mit sich. Wir wissen, wie Menschen, die Alkohol getrunken haben, geschwätzig werden, ungehörige Reden führen, sich ungebührlich betragen. Wir wissen auch, daß fast immer geschlechtliche Verirrungen mit dem Trinken von Alkohol beginnen. Der heidnische Schriftstelle Terenz schreibt einmal: „Sine cerere et baccho friget Venus.“ Das ist lateinisch und bedeutet: Ohne übermäßiges Essen und Trinken gibt es keine sinnliche Begierde. Übermäßiges Essen und Trinken begünstigt die Libido, die geschlechtliche Neigung, die Neigung zu geschlechtlichem Genuß.

Als im letzten Kriege, meine lieben Freunde, die große Stadt Leningrad, heute St. Petersburg, 900 Tage von den Deutschen eingeschlossen war, litten die Menschen große Not. Nur über den zugefrorenen Ladogasee konnte notdürftig etwas an Lebensmitteln hereingebracht werden. Ich habe ein Buch über diese Belagerung gelesen, und der Verfasser schreibt: „Niemals war die Libido, die geschlechtliche Begierde, so gering wie in dieser Zeit.“ Ein Beispiel dafür, wie eben Essen und Trinken auch mit der Sinnlichkeit zusammenhängen.

Die Trunksucht, aber auch das übermäßige Trinken alkoholischer Getränke überhaupt, hat zudem schwere soziale Folgen. Die Familie leidet darunter, wenn der Vater oder die Mutter trinken, betrunken nach Hause kommen. Die Kinder leiden darunter. Es besteht die Gefahr, daß der Familie das Notwendige entzogen wird, weil für die berauschenden Getränke viel ausgegeben wird. Streit und Unfriede sind häufig die Folgen.

Nicht ganz so gefährlich ist die Eßlust, aber auch sie zeitigt schwerwiegende Folgen. Die vielen Stoffwechselkrankheiten, die wir heute haben, Gicht, Zuckerkrankheit, sind zum nicht geringen Teil auf die Eßlust zurückzuführen. Es ist immer so: Womit man sündigt, damit wird man bestraft. Die Heilige Schrift, meine lieben Freunde, warnt an zahllosen Stellen sowohl vor Völlerei als auch vor Trunkenheit. Der Herr selber mahnt im Lukasevangelium: „Nehmt euch in acht, daß eure Herzen nicht durch Völlerei, Trunkenheit und Sorgen um den Lebensunterhalt beschwert werden.“ Und der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom: „Wie am Tage laßt uns ehrbar wandeln, nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Ausschweifung und Unzucht!“ Oder an die Gemeinde in Galatien: „Die Werke des Fleisches sind offenkundig“ – dann zählt er sie auf – „Trunkenheit, Schlemmerei und dergleichen. Was ich euch schon vorher gesagt, wiederhole ich: Die solches treiben, werden das Reich Gottes nicht erben.“ „Berauschet euch nicht mit Wein!“ schreibt er der Gemeinde in Ephesus, „das führt zur Liederlichkeit!“ Das ist eine kleine Auslese aus den vielen Mahnungen der Heiligen Schrift, nüchtern, gerecht und fromm auf dieser Erde zu leben.

Wenn wir hier, meine lieben Freunde, der Vernunft, der vom Glauben erleuchteten Vernunft, folgen, werden wir nicht nur das Ziel, die ewige Seligkeit, erreichen, dann werden wir auch hier arbeitsfähig, nützlich für die anderen, relativ gesund und froh unserer Tage wandeln können. „Liebet euch auf Gott wohlgefällige Weise!“ Wann lieben wir uns auf Gott wohlgefällige Weise? Wir lieben uns dann auf Gott wohlgefällige Weise, wenn wir das himmlische Ziel über jeden irdischen Wert setzen.

Amen.

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