Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Februar 1992

Über Verfehlungen gegen das leibliche Leben des Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

An den vergangenen Sonntagen haben wir die Pflichten betrachtet, die wir gegen das seelische Leben, gegen das seelische Heil unserer Nächsten haben. Wir wollen heute unseren Blick auf die Pflichten richten, die wir gegen das leibliche Leben des Nächsten haben. Aufgrund von Amt oder aufgrund von Blutsbanden sind wir verpflichtet, für das leibliche Leben der Menschen, die uns anvertraut sind, zu sorgen. Die Gerechtigkeit und die Nächstenliebe verpflichten uns, das leibliche Leben des Nächsten uns angelegen sein zu lassen.

Man erkennt die Pflichten, die wir gegen das leibliche Leben des Nächsten haben, wenn man das Fehlverhalten näher betrachtet, das gegenüber diesen Pflichten in Frage kommt. Die Pflicht, das leibliche Leben des Nächsten zu schonen, scheint durchbrochen zu sein, wenn wir in der Kirche, aber auch im Staat das Gesetz der Notwehr erwähnen. Notwehr ist ja doch die Selbsthilfe, die notgedrungene Selbsthilfe gegen einen rechtswidrigen gegenwärtigen Angriff auf einen selbst oder auf einen anderen. Die Notwehr gestattet, dem anderen, seinem leiblichen Leben Schaden zuzufügen, ihn niederzuschlagen, möglicherweise, wenn andere Mittel nicht nützen, ihn zu töten. Ist die Notwehr nicht ein Angriff auf das leibliche Leben des Nächsten? Das ist sie zweifellos, aber sie ist ein Angriff, der nicht schuldhaft ist. Der Mensch darf sein eigenes leibliches Leben beschützen, indem er den ungerechtfertigten Angriff des Nächsten zurückweist.

Dagegen werden Einwände gemacht. Man erinnert, daß es in der Bergpredigt heißt: „Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Aug' um Aug', Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin. Und will jemand mit dir vor Gericht streiten und dir deinen Rock nehmen, so lasse ihm auch den Mantel. Und wer dich nötigt, eine Meile mitzugehen, mit dem geh auch einen Weg von zwei. Wer dich um etwas bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, von dem wende dich nicht ab.“ Über die Auslegung der Heiligen Schrift urteilt maßgebend und verbindlich der Heilige Geist, und der Heilige Geist ist lebendig in seiner Kirche. Der Heilige Geist, der der erste Verfasser der Heiligen Schrift ist, behält dieses Buch auch gleichsam in seinen Händen, und er legt es aus durch die ständige, einmütige Auslegung seiner Kirche. Die Kirche aber hat diese Stelle immer so verstanden, daß wir aufgerufen werden, auf Wiedervergeltung zu verzichten. Wir sollen nicht Böses mit Bösem vergelten. Das ist ein Gesetz, das unbedingt gilt. Aber in der Notwehr wird eben nicht Böses mit Bösem vergolten. Wer einen widerrechtlichen gegenwärtigen Angriff zurückweist, tut nichts Böses, sondern schützt Güter, die ihm anvertraut sind, nämlich sein eigenes Leben oder seine Keuschheit oder auch seine Gesundheit. Freilich ist bei der Notwehr das rechte Maß zu beachten. Es gibt den Notwehrexzeß, also die Übertreibung der Notwehr. Wenn es genügt, einen anderen bewußtlos zu machen, dann darf man ihn nicht töten. Notwehrexzeß ist grundsätzlich schuldhaft. Aber innerhalb des Rahmens einer gerechtfertigten Notwehr hat die Kirche immer den Satz aufgestellt: Vim vi refellere – Gewalt mit Gewalt zurückweisen – das ist gerechtfertigt.

Dagegen ist der Mord von der Kirche jedenfalls immer und ausnahmslos als ein schweres Verbrechen verurteilt worden. Der Mord ist die vorsätzliche, direkt beabsichtigte, ungerechte Vernichtung eines Menschenlebens. Seine Schwere erkennt man, wenn man bedenkt, daß das Leben unter den entziehbaren Gütern des Menschen das höchste ist. Der Mord ist ein Attentat auch auf die Gemeinschaft, auf die Familie, der der Betreffende angehört. Er verletzt auch das Recht der Obrigkeit, denn nur die Obrigkeit führt das Schwert, um Gerechtigkeit zu üben. Er ist auch ein Eingriff in die Herrschaftsrechte Gottes, denn Gott ist der Herr über Leben und Tod; die Menschen sind sein Eigentum. Der Mord kann verschiedene Gestalt annehmen, je nachdem, gegen wen er sich richtet. Besonders scheußlich der Gattenmord – der  nicht nur in Kriminalfilmen vorkommt –, der Elternmord, der Kindermord, der Priestermord der Königsmord. Das sind besonders verschärfte Arten des Mordes. Auch durch die Art und Weise kann der Mord besonders scheußlich sein, der Meuchelmord, der Giftmord, zum Beispiel.

Nun, diese Dinge liegen von uns weit ab,  meine lieben Freunde. Aber nicht so weit ab liegt die Tötung. Die Tötung ist in der Heiligen Schrift und in der Praxis häufig bezeugt. Als der König Saul die große Schlacht am Jelboe verloren hatte, da wollte er nicht mehr länger leben. Er rief einen Amalekiter herbei und sagte, er solle ihn töten. Der Amalekiter tötete den König. Das nennt man Tötung auf Verlangen, und das ist ja, wie Sie wissen, heute ein Thema, das nicht nur in den Medien seine Stelle hat, sondern in der Wirklichkeit. In unserem Nachbarland Holland ist die Tötung auf Verlangen gang und gäbe, und wie wir wissen, wird sie auch bei uns sicher geübt, wenn auch die Dunkelziffer relativ hoch ist. Außerdem gibt es in unserem Volke eine breite Mehrheit für die Tötung auf Verlangen, für die Tötung unheilbar Kranker. Dieser Vorgang hat begonnen mit einer Schrift, die im Jahre 1920 erschien. Damals haben ein Jurist und ein Arzt die Tötung unheilbar Kranker propagiert, 1920. Dieser Gedanke wurde dann aufgenommen vom Dritten Reich. Da wurden ja unheilbar Kranke in großer Zahl getötet. Damals erschien, wie wir Ältere uns erinnern, ein Film „Ich klage an“, in dem ein solcher Fall behandelt wurde, natürlich um Stimmung zu machen für die Euthanasie. Heute ist unser Volk soweit, daß die große Mehrheit gegen die Tötung unheilbar Kranker nichts einzuwenden hat.

Die Verhältnisse erwecken das Mitleid der Menschen. Wenn jemand leidet, lange leidet, unheilbar leidet, dann greift das einem ans Herz, und man sinnt darauf, diese Leiden zu lindern oder zu beendigen. Die Leiden zu lindern, ist nicht verboten. Man darf dem Kranken Mittel geben, die seine Schmerzen lindern, auch wenn diese Mittel als Nebenwirkung eine Verkürzung des Lebens zur Folge haben. Nur eines darf man nie: unmittelbar direkt die Tötung mit diesen Mitteln anzielen. Das wäre ein Eingriff in Gottes Herrschaftsrecht. Vor einigen Jahren hat sich folgender Fall zugetragen: Ein Arzt namens Sukow in Moskau war überaus beliebt und gesucht. Er praktizierte insgeheim die Tötung unheilbar Kranker. Sein 40. Fall war ein junges Mädchen, seine Verlobte. Als er sie sezierte, stellte er fest, daß sie nicht an einem unheilbaren Tumor litt, sondern an einem völlig harmlosen Gewächs. Dieser Fall hat dem Arzt Sukow so zugesetzt, daß er sich das Leben nahm, dem Staatsanwalt einen Brief schrieb, in dem der Satz stand: „Ich habe mich selbst gerichtet.“

Neben der Tötung kommen auch andere Vergehen gegen das Leben des Nächsten in Frage, etwa die Verstümmelung, die Verletzung. Wir brauchen nur an den Straßenverkehr zu denken. Wie viele Menschen werden durch leichtsinniges Fahren, durch fahrlässiges Verhalten im Straßenverkehr zu Krüppeln gemacht! In den USA hat einmal ein Richter Personen, die wegen Verkehrsdelikten vor Gericht standen, in ein Krüppelkrankenhaus geführt, um ihnen dort einen Anschauungsunterricht zu erteilen über das, was sie mit ihrem leichtfertigen Verhalten im Straßenverkehr angerichtet haben oder anrichten können.

Sünden gegen das leibliche Leben können aber auch durch seelische Vorgänge entstehen. Wer seine Mitmenschen fortwährend quält, wer immerfort Unfriede verbreitet, der setzt ihnen auch leiblich zu, und viele leibliche Krankheiten haben ihren Grund in seelischen Qualen. Auch das ist ein Vergehen gegen das Leibesleben des Nächsten.

Dem Mord reiht sich an die Abtreibung. Die Abtreibung ist die freiwillig herbeigeführte Vernichtung des Embryos in der Zeit von der Empfängnis bis zur Geburt. Die Abtreibung ist von der Kirche immer und ohne Ausnahme abgelehnt und schärfstens zurückgewiesen worden. Nicht so,  meine lieben Freunde, nicht so der Protestantismus. Das höchste Verfassungsorgan der Evangelischen Kirche in Deutschland hat vor einigen Jahren erklärt, man könne sich auch schuldig machen durch Verweigerung der Abtreibung. Ich habe mich nicht versprochen, ich habe den Text selbst gelesen. Hier wird also von protestantischer Seite die Abtreibung im Einzelfall als möglich, ja erlaubt und pflichtmäßig hingestellt. Das sollten wir bedenken, wenn wir von der Abtreibung sprechen. Wir Katholiken stehen auch hier allein. Der Protestantismus hat eine andere Ethik als wir, und hier zeigt sie sich sehr deutlich.

Es gibt die fahrlässige, und es gibt die vorsätzliche Abtreibung. Fahrlässig kann die Abtreibung geschehen, wenn eine werdende Mutter überlastet wird, wenn sie mißhandelt wird, wenn sie selbst in irgendeiner Weise dazu beiträgt, daß die Leibesfrucht verloren geht. Davon unterschieden ist die vorsätzliche Abtreibung, die eben mit der Absicht geschieht, die Leibesfrucht zu töten. Wir müssen selbstverständlich,  meine lieben Freunde – der Vorwurf von Drewermann geht ganz ins Leere – wir müssen selbstverständlich Mitleid haben mit den Menschen. Wir müssen ihnen alles Erdenkliche tun und jedes Verständnis aufwenden. Es sind manchmal schwierige Situationen, das ist gar keine Frage, in denen eine Frau dazu kommt, ihre Leibesfrucht zu töten. Aber häufig sind es von außen auf sie einwirkende Kräfte, die zu der Abtreibung führen, während die Frau selbst das Kind austragen möchte. Ich habe hier den Brief einer Frau, in dem es folgendermaßen heißt: „Es wird überall und immer geglaubt, daß Mütter die Schuld tragen, wenn sie ein keimendes Leben töten. Dem ist nicht so. Ich fühlte mich zum dritten Mal Mutter und sagte dies eines Tages meinem Mann. Da sah er mich wütend an und sagte, daß er das auf keinen Fall dulden werde. Was sollte ich tun? Ich wußte nicht mehr, was recht und unrecht ist in meiner Verzweiflung. Ein paar Tage vergingen. Ich unternahm nichts, weil ich im Stillen hoffte, mein Mann würde anderen Sinnes werden. Da fragte er mich eines Tages, wie es sei. Als er die Wahrheit erfuhr, schimpfte und fluchte er ganz fürchterlich und sagte dann tagelang kein Wort zu mir. Da versprach ich ihm in meiner Verzweiflung, zu einer weisen Frau zu gehen, und er  antwortete, daß er mich begleiten werde, um ihn zu überzeugen, daß ich wirklich hingehe. Nun lernte ich meinen Mann kennen. Grausam und brutal war er. Mir graute vor ihm. Ja, ich muß bekennen: Es starb damals nicht nur das Kind unter meinem Herzen, sondern auch die Liebe zu meinem Mann. Kalt ist es in mir geworden, und gleichgültig lebe ich die Tage dahin. Es ist mir bitter schlecht gegangen. Der Arzt mußte kommen, und ich verlor viel Blut. Lange Zeit konnte ich mich nicht erholen.“

Aus diesem Briefe,  meine lieben Freunde, sehen wir, daß nicht nur die Mutter schuld sein kann, sondern häufig von außen kommende Kräfte. Selbst Mütter raten ihren Töchtern nicht selten zur Abtreibung. Deswegen muß unser Urteil also gerecht bleiben, und wir müssen alles tun, um dieses scheußliche Vergehen zu verhindern. Vor allen Dingen muß die gesellschaftliche Ächtung einer ledigen Mutter als etwas völlig Absurdes und Überholtes beiseite geschoben werden. Die Mutter, die als Ledige ein Kind zur Welt bringt, ist heute, unter den heutigen Verhältnissen, ein hochachtenswerte Persönlichkeit. Sie hatte den Mut, zu ihrem Fehltritt zu stehen und bringt das Kind zur Welt, und dafür muß man sie achten und ehren.

Eine weitere Verirrung die Gott sei Dank heute recht selten geworden ist, vielleicht sogar in unseren Breiten ausgestorben ist, das ist der Zweikampf, das Duell. Das Duell ist der verabredete Zweikampf mit gefährlichen Waffen zur Austragung privater Differenzen. Solche Duelle waren etwa bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Deutschland recht häufig, vor allem in Offizierskreisen. Die Kirche hat immer einen scharfen Kampf gegen das Duell geführt, weil es absurd ist, die Ehre dadurch wiederherstellen zu wollen, daß man sich als der Geschicktere erweist im Umgang mit Waffen, ein völliger Unsinn, den die Kirche mit schwersten Strafen (Exkommunikation) belegt hat. Auch andere, nichtchristliche Kreise haben das Duell abgelehnt, z.B. der König Friedrich II. von Preußen, also schon im 18. Jahrhundert. Als er hörte, ein Offizier habe im Duell seinen Gegner getötet, da ließ er den Offizier kommen und sagte zu ihm: „Ich liebe tapfere Offiziere, aber ich kann in meiner Armee keine Scharfrichter gebrauchen“, und entließ ihn.

Das,  meine lieben Freunde, sind im wesentlichen die Verfehlungen gegen das leibliche Leben des Nächsten. Wir sind auch hier von Gott beauftragt, das leibliche Leben des Nächsten zu schützen, zu fördern, zu erhalten, unsere Liebeskraft aufzuwenden, damit es dem Nächsten gut ergeht, damit er in seinem Leibe Gott verherrlichen und das Ziel des himmlischen Reiches erreichen kann.

Amen.

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