Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Januar 1992

Die notwendige Gerechtigkeit gegen den Nächsten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der geniale Maler Raffael hat in einem der Säle des Vatikans ein Bild der Gerechtigkeit gemalt. Man sieht auf den Wolken als Thron eine Frauengestalt, die zur Erde hin schaut. In der linken Hand hält sie eine Waage, deren Waagschalen im Gleichgewicht sind, in der Rechten führt sie das Schwert. Zwei Engel tragen rechts und links eine kleine Schrifttafel, auf der geschrieben steht: „Suum cuique“ – Die Gerechtigkeit gibt einem jeden sein Recht. Mit dieser Abbildung hat Raffael ein Wort aufgegriffen, das von dem römischen Juristen Ulpian stammt. Dieser gelehrte Mann hat die Gerechtigkeit bestimmt als den ständigen und dauernden Willen, einem jeden sein Recht zuzuteilen. Und diese Definition ist von der ganzen abendländischen Rechtstradition bis heute festgehalten worden. Gerecht ist, wer einem jeden sein Recht gibt oder sein Recht läßt. Die Gerechtigkeit stellt also eine Gleichheit zwischen zwei Rechtsträgern her. Je nachdem, wer die Rechtsträger sind, unterscheidet man eine dreifache Gerechtigkeit: eine gesetzmäßige, eine austeilende und eine ausgleichende Gerechtigkeit. Die gesetzmäßige Gerechtigkeit besteht zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft. Die austeilende Gerechtigkeit besteht zwischen der Gemeinschaft und dem einzelnen. Die ausgleichende Gerechtigkeit vollzieht sich zwischen dem einzelnen und einem anderen einzelnen.

Die erste Form der Gerechtigkeit ist die gesetzmäßige. Sie ist eine Beziehung zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft. Der einzelne muß der Gemeinschaft geben, was ihr zukommt, und wir wissen, was ihr zukommt. Der Apostel Paulus hat es in bezug auf den Staat im Römerbrief eindeutig formuliert: „Jedermann unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt! Denn es gibt keine Gewalt außer von Gott. Die bestehenden Gewalten aber sind von Gott angeordnet.“ Die staatliche Gewalt ist also keine Anmaßung, sie ist eine göttliche Anordnung, und sie hat das Recht, Gehorsam zu fordern. „Wer sich also der Gewalt widersetzt, der widersetzt sich der Anordnung Gottes. Die aber dieser sich widersetzen, ziehen sich selbst ihr Strafgericht zu.“ Die gesetzmäßige Gerechtigkeit fordert also grundlegend Gehorsam unter die rechtmäßige Gewalt. Diese hat ihrerseits das Recht, von den ihr Unterworfenen etwas zu fordern. Auch das gibt der Apostel Paulus bis in Einzelheiten bekannt. „Aus diesem Grunde“ – nämlich weil man der obrigkeitlichen Gewalt um des Gewissens willen gehorchen muß – „aus diesem Grunde entrichtet ihr auch Abgaben. Denn Diener Gottes sind jene, die gerade diesem Amte obliegen. Gebet also jedem, was ihr schuldig seid, Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll, Ehrfurcht, wem Ehrfurcht, Ehre, wem Ehre gebührt.“ Diese Ausführungen lassen klar erkennen, daß ein jeder zum Gemeinwohl, zum allgemeinen Nutzen, mitzuarbeiten hat. Jeder ist mitverantwortlich für seine Gemeinde und für das staatliche Ganze, und er hat diese Mitverantwortung in tätiger Weise auszuüben. Der Standpunkt „Ohne mich“ ist von der Heiligen Schrift, ist von der Überlieferung, ist von der Lehre der Kirche stets verurteilt worden. Die Kirche sagt immer „Mit mir und mit dir.“ Alle sind aufgerufen, kraft der gesetzlichen Gerechtigkeit sich an der Schaffung und Erhaltung des Wohles aller zu beteiligen.

Das fängt an mit kleinen Dingen. Der große Erzieher Friedrich Wilhelm Förster hat einmal ein schönes Beispiel erzählt, wie der Gemeinsinn, die Verantwortung für das Ganze, sich in einfachen Verhältnissen beweisen muß. Er berichtet davon, daß zwischen zwei Dörfern eine Straße ausgebessert wurde. Man schüttete Split, Geröll auf, und die Bauern in den beiden Dörfern vertrauten darauf, daß die von Pferden gezogenen Wagen den Split, das Geröll festfahren würden. Eine Walze hatten sie nicht. Es kam also der erste Bauer und zog eine tiefe Furche mit seinem Wagen durch das Geröll. Kurz nach ihm kam ein anderer, der dachte: Ich mach es mir bequem, ich fahre in den Gleisen, die der erste eingedrückt hat. Er tat es und sah, wie der Split nach beiden Seiten auseinanderrollte. Da kam ihm der Gedanke: Das ist ja eigentlich nicht die Absicht derer gewesen, die diese Straße ausgebessert haben. Wir sollten jeder eine eigene Spur fahren, um auf diese Weise das Geröll festzumachen. Wenn ich in der Spur des anderen fahre, dann übersehe ich meine Verantwortung, die ich für die Befestigung dieses Weges habe. Er lenkte also die Pferde von der Spur ab, fuhr eine weitere Spur und war befriedigt, als er dann wieder auf dem alten Wege stand. Jetzt hatte er seine Verantwortung gegenüber seiner Gemeinde erkannt und wahrgenommen.

So ist es, meine lieben Freunde. Auch wenn uns niemand beobachtet, auch wenn uns niemand zusieht, wir haben Verantwortung für das Ganze. Wir dürfen uns nicht auf unsere Privatinteressen zurückziehen, wir dürfen nicht nur an uns denken, sondern müssen für das gemeinsame Ganze besorgt sein.

Die zweite Form der Gerechtigkeit geht von oben nach unten. Sie ist die Verantwortung der Gemeinschaft für den einzelnen. Das ist die austeilende Gerechtigkeit. Das Gemeinwesen, der Staat, ist dafür verantwortlich, daß einem jeden sein Recht wird, daß einem jeden das zukommt, was ihm gebührt. Die Gerechtigkeit, die die Gemeinschaft dem einzelnen schuldet, ist zunächst einmal die gerechte Rechtssetzung. Der Staat muß gerechte Gesetze machen. Er muß Gesetze machen, die dem einzelnen das zukommen lassen, worauf er Anspruch hat. Das bedeutet nicht, daß allen das gleiche wird. Das könnte nämlich ungerecht sein, weil, wer allen das gleiche gibt, die Verschiedenheiten unter den Menschen nicht berücksichtigt. Die Gerechtigkeit, die der Staat in der Rechtssetzung schuldet, besteht darin, daß jedem das Seine wird. Also begründete Unterscheidungen, begründete Differenzierungen sind gerechtfertigt. Was nicht gerechtfertigt ist, was unerlaubt ist, ist die Diskriminierung, also die unsachliche Unterscheidung. Sachliche Unterscheidungen sind gerechtfertigt, unsachliche Unterscheidungen sind verwerflich.

Dann muß natürlich auch Gerechtigkeit in der Rechtsanwendung geschehen. Der Staat muß in der Verwaltung und in der Rechtsprechung jedem das Seine zuteilen. Es muß also hier eine gerechte Behandlung vonstatten gehen. Die Heilige Schrift ist voll von Klagen gegen ungerechte Richter. Ungerechte Richter sind der Heiligen Schrift ein Greuel. Wir wissen, einer dieser ungerechten Richter ist sogar ins Credo gekommen, ins Glaubensbekenntnis, Pontius Pilatus. Gegen seine Überzeugung, gegen sein Gewissen, gegen Recht und Gesetz und gegen die Gerechtigkeit verurteilte er den unschuldigen Jesus von Nazareth zum Tode.

Aber auch in der Rechtsanwendung kann es Unrecht geben. Auch davon weiß die Heilige Schrift zu berichten. Der König David hatte seine Truppen im Felde. Er selbst war zu Hause geblieben; er konnte sich auf seine Feldherrn verlassen. Und in seiner Untätigkeit und Muße sah er in einem gegenüberliegenden Hause eine schöne Frau. Es war die Frau seines Offiziers Urias. Er ließ sie kommen und schwängerte sie. Als sie ihm meldete, daß sie empfangen hatte, rief er den Urias zurück, um sein Vergehen zu verbergen. Er forderte ihn auf, ins Haus zu gehen und mit seiner Frau zu schlafen. Aber Urias, der ein tadelloser Soldat war, sagte: „Meine Kameraden liegen im Felde, und ich soll mich zu meiner Frau begeben? Das tue ich nicht.“ Damit war der Plan des Königs vereitelt, sein Verbrechen decken zu lassen. Da gab er dem Oberfeldherrn den Befehl, den Urias an eine Stelle im Gefecht zu befehlen, wo der Kampf besonders heiß tobte, ihn dann im Stich zu lassen und ihn so dem Tode auszuliefern. So geschah es; Urias fiel im Kampfe. Hier hatte ein König, ein Herrscher seinem Untertan offenkundig unrecht getan. Er hatte einem seiner Offiziere die Frau geraubt, mit ihr Unzucht getrieben und dann noch den Tod dieses Mannes verantwortet. Wenig später kam der Prophet Nathan zu ihm. Der König ließ ihn ein, und Nathan sagte: „Ich habe dir etwas zu klagen, o König. In einer Stadt ist ein Mann, der hat viele, viele Schafe. Und ein anderer, der hat ein einziges Schaf. Jetzt bekam der reiche Mann Besuch. Da ging er zu dem armen und nahm ihm das einzige Schaf weg, um es zu schlachten und dem Besucher vorzusetzen.“ Der König ergrimmte über diesen Vorfall und wurde zornig. Er sagte: „Wer ist der Mann? Ich werde ihn bestrafen!“ Nathan gab zur Antwort: „Der Mann bist du! Du hast dem Urias die Frau genommen und ihn selbst dem Tode überantwortet.“ Das ist ein Beispiel für Unrecht, das von der Obrigkeit begangen wird. Unrecht ist oft und in vielerlei Weise von Vorgesetzten, von Staatslenkern angerichtet worden. Aber die Christen haben das Unrecht, das ihnen in den ersten drei Jahrhunderten angetan wurde, nämlich die Verfolgung des Christentums, nicht benutzt, um gegen den Staat aufzubegehren oder eine Revolution zu machen. Der heilige Augustinus sagt einmal: „Kaiser Julian, der Abtrünnige, der Götzendiener, war ein Feind des Christentums. Aber die Christen haben ihm den Gehorsam nicht verweigert. Wenn er sagte: Opfert den Göttern! Streut ihnen Weihrauch! haben sie sich diesem Befehl widersetzt. Aber wenn er sagte: Gehe den Feind an im Krieg! haben sie sich eingesetzt und sind dem Feind entgegengerückt.“ Also die Christen haben sehr wohl unterschieden zwischen unsittlichen Befehlen, die man nicht befolgen darf, selbst um den Preis des Lebens nicht, und zwischen einwandfreien Weisungen, die von der Obrigkeit ausgehen.

Das ist auch der Grund, meine lieben Freunde, warum es in den Jahren des Dritten Reiches, also von 1933 bis 1945, nicht so ganz einfach war, sich dem Staat zu widersetzen. Auch der Staat Hitlers war bis zu einem gewissen Grad und in bestimmtem Umfang normaler Staat, hat für das Wohlergehen des Volkes, für Arbeit und Brot, für Rechtssicherheit auf den Straßen gesorgt. Daß er, zunächst weniger und später immer mehr, entartete, ist ebenfalls eine Tatsache. Aber es ist nicht abzuleugnen, daß er in einem bestimmten Umfang bis zum Schluß wichtige staatliche Funktionen, z.B. die Ernährung des Volkes, gewährleistet hat. Deswegen dürfen wir die Menschen, die damals guten Glaubens meinten, sie sollten diesem Staate Gehorsam leisten, nicht unbedingt verurteilen. Es war schwer zu erkennen, wo das Unrecht begann und wo das Recht noch gewahrt wurde.

Die dritte Form der Gerechtigkeit ist die ausgleichende Gerechtigkeit. Sie besteht zwischen dem einzelnen und dem anderen einzelnen. Der eine muß dem anderen gewähren, was ihm zukommt, was ihm gehört. Er muß ihm das Seine geben. Das gilt zum Beispiel im Arbeitsverhältnis. Wem Lohn gebührt, dem muß der Lohn überreicht werden. Die Heilige Schrift ist ein soziales Gesetzbuch. Sie wendet sich dagegen, daß man den Arbeiter um seinen Lohn betrügt, daß man die Auszahlung des Lohnes aufschiebt. Am Abend – nach den damaligen Wirtschaftsverhältnissen – ist dem Arbeiter sein Lohn auszuzahlen. Die Gerechtigkeit gegenüber dem Nächsten verlangt aber auch weiter, daß man ihm das gibt, was ihm aufgrund der Menschenwürde gebührt. Das bedeutet vor allen Dingen Anerkennung seiner Persönlichkeitsrechte. Zum Beispiel, ein ganz wichtiger Punkt, seines Rechtes auf den guten Ruf. Wir alle oder – ich will vorsichtig sein – viele von uns haben vielleicht schon einmal unbedacht geurteilt, voreilig geurteilt, anderen Unrecht getan, indem man Menschen zu ungünstig bewertet hat. Man soll sich um ein gerechtes Urteil bemühen. Die Römer hatten den Grundsatz: „Audiatur et altera pars“ – Wenn man etwas über jemanden urteilend sagen will, dann soll man beide Seiten hören. Ein Gesetzbuch unserer Vorfahren, der Sachsenspiegel drückt es so aus: „Eenes Mannes Rede ist keenes Mannes Rede. Man soll sie hören beede.“ Damit ist ausgedrückt, daß man sich in seinem Urteil erst Gewißheit verschaffen soll über die Rechtslage. Und sie ist am leichtesten zu gewinnen, wenn man die beiden Gegner, die miteinander streiten, anhört und dann aufgrund dieser Anhörung zu einem ausgewogenen Urteil kommt. Wir sind nämlich oft parteiisch, wir sind befangen. Wir sind von Antipathien und Sympathien bestimmt, und wir sind nicht gerecht. Was wir für uns in Anspruch nehmen, das wollen wir anderen nicht gewähren. So sagt einmal die Nachfolge Christi so schön: „Wir sähen es gern, daß die anderen keine Fehler hätten. Aber unsere eigenen Fehler wollen wir nicht bessern. Wir sähen es gern, daß andere in strenge Zucht genommen würden, für uns aber lehnen wir die gleiche Strenge ab. Wir haben großes Mißfallen daran, daß anderen so vieles, was sie wider die Ordnung begehren, gestattet wird und können es nicht leiden, daß uns auch nur das geringste, was wir haben wollen, versagt wird. Wir wünschen, daß andere durch schärfere Verordnungen im Zaum gehalten werden und können es selbst nicht ertragen, daß unsere Freiheit auch nur im geringsten beschränkt wird. So liegt es also offen zutage, wie selten wir den Nächsten in dem gleichen Maße beurteilen wie uns selbst.“ Nicht wahr, so ist es doch, wie die Nachfolge Christi hier in unübertrefflicher Weise es uns schildert. Wir messen mit zweierlei Maß, uns selbst mit einem günstigen und andere mit einem ungünstigen Maß, und das ist ungerecht.

Die Gerechtigkeit, meine lieben Freunde, ist eine Kardinaltugend, d.h. eine Haupttugend. Sie zählt zu den vier Kardinaltugenden, die das sittliche Gebäude eines Menschen tragen. Und um Gerechtigkeit wollen wir bemüht sein. Vom heiligen Josef steht in der Heiligen Schrift: „Er war gerecht.“ Das ist das einzige, aber auch das Höchste, was die Heiligen Schrift vom Nährvater Jesu sagt. „Er war gerecht.“ Und der Hauptmann unter dem Kreuze sagte von Jesus: „Dieser Mensch war gerecht.“ Gerechtigkeit ist also eine Zierde. Gott ist gerecht und liebt die Gerechtigkeit. Als der Prinz Eugen, der große österreichische Feldherr, seinem Lebensende entgegenging, schrieb er den Satz: „Niemals habe ich in irgendeiner Weise mich an Kriegslieferungen oder durch Protektion schuldig gemacht. Solange ich an der Spitze des österreichischen Militärwesens gestanden habe, ist einem jeden, soweit es auf mich ankam, sein Recht geworden.“ So soll es auch von uns gelten. Auch wir sollen einmal als die Gerechten, als die gerecht Denkenden und die gerecht Handelnden im Gedächtnis unserer Mitmenschen weiterleben.

Am 25. Mai 1085 starb in Palermo der heilige Papst Gregor VII. Er war vor dem deutschen Kaiser geflüchtet, vertrieben aus Rom. Seine letzten Worte waren: „Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt. Deswegen sterbe ich in der Verbannung.“ Wohl dem, der ihm das nachsprechen kann, der mit Paulus sagen kann: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Darum harrt meiner die Krone der Gerechtigkeit, die mir an jenem Tage geben wird Gott, der gerechte Richter.“

Amen.

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