Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. Januar 1992

Die erforderlichen Wesensarten der Nächstenliebe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als wir Kinder waren, war es üblich, daß wir Poesiealben führten. Das waren kleine, in einen kostbaren Einband eingebundene Büchlein, in die Freunde, Bekannte, Vorgesetzte, Lehrer einen Spruch einschrieben, der uns zur Beherzigung dienen sollte. In der 4. Klasse der Volksschule gab ich dieses Büchlein meinem Klassenlehrer. Er schrieb in das Poesiealbum ein Wort ein, das ich nie vergessen habe: „Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern die Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“ Dieses Wort stammt von Friedrich Nietzsche, dem ungläubigen Philosophen. Nietzsche hat ja eine Moral der Härte, des Kampfes und des Mutes vertreten und kam aufgrund dieser Moral zur Abwertung der Nächstenliebe und des Mitleids. „Der Krieg und der Mut haben mehr große Dinge getan als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern die Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“

Was ist von diesem Wort zu halten? Wir erkennen sofort, daß es im Gegensatz zu der Lehre unseres Herrn und Heilandes steht. Denn er hat gesagt: „Das erste und größte Gebot heißt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüte und mit allen deinen Kräften. Ein zweites aber steht diesem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Und Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, bewahrt uns das Wort des Herrn auf, das da heißt: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet. So wie ich euch geliebt habe, sollt ihr einander lieben. Daran sollen alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, daß ihr einander liebet.“ Die Liebe, von der hier die Rede ist, ist das auf das gesamte Gedeihen des anderen gerichtete Wohlwollen, das, wo es nottut, zum Wohltun weiterschreitet. Wohlwollen und Wohltun machen den Kern der Nächstenliebe aus. Wenn diese Nächstenliebe auf das Elend und das Leid des Nächsten trifft, dann wird sie zur Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist die Liebe zu der gefallenen, geschundenen und geknechteten Kreatur.

Der Beginn der Barmherzigkeit ist das Mitleid. Das Mitleid besteht darin, daß man sich fremdes Leid zu eigenem macht. Ganz im Gegensatz zu der Meinung von Nietzsche sind Mitleid und Tapferkeit kein Gegensatz, denn das Mitleid braucht Tapferkeit, das Mitleid braucht Mut, um den in Gefahr befindlichen anderen zu retten. Es braucht Kraft des Herzens, sich mit einem zu solidarisieren, der in Not ist.

Die Nächstenliebe ist von sechs Eigenschaften gekennzeichnet. Die erste Eigenschaft der Nächstenliebe ist die Allgemeinheit. Das heißt, die Nächstenliebe muß sich auf jeden Menschen richten. Sie gilt ohne Ausnahme, und das ist ein neues Gebot; denn in einer rassischen Ideologie, in einer Rassenmoral heißt das Gebot: Du sollst deinen Rassegenossen lieben und den Rassenfeind hassen. Ganz anders das christliche Gebot. Es bezieht sich auf einen jeden Menschen, auf einen jeden, der Menschenantlitz trägt. Die Liebe umfaßt auch den Sünder und den Feind. Das ist geradezu der Gipfel der Allgemeinheit der Liebe, daß sie auch dem Feind zu erweisen ist. Die Feindesliebe ist vielleicht die schwerste Pflicht, die uns Christus auferlegt hat. Es ist mir unbegreiflich, wie man in den letzten Jahren und Jahrzehnten fortwährend von der angeblichen Unerfüllbarkeit der Gebote des Herrn über die geschlechtliche Sittlichkeit sprechen kann und darüber vergißt, daß die Nächstenliebe, speziell die Feindesliebe uns noch viel schwerere Lasten auferlegt. Wer kann denn sagen, er habe das Gebot der Nächstenliebe und zumal der Feindesliebe bis zum I-Tüpfelchen erfüllt? In der Feindesliebe erreicht die Nächstenliebe, die Allgemeinheit der Nächstenliebe ihren Gipfel.

Im 16. Jahrhundert tobten in Frankreich die Kriege zwischen Katholiken und Hugenotten. Der Führer der Katholiken war der Herzog von Lille. Eines Tages tauchte in seinem Zelte ein Mann auf mit einem Dolch in der Hand, der ihn ermorden wollte. Er wurde gefaßt und vor den Herzog gebracht. Dann fragte ihn der Herzog: „Habe ich dir etwas zuleide getan, daß du mich ermorden wolltest?“ „Nein“, sagte der Hugenotte, „aber Ihr seid der Feind meines Glaubens, und deswegen hasse und verfluche ich Euch.“ Da gab ihm der Herzog eine Antwort, würdig eines wahren Christen: „Wenn dein Glaube dir gebietet, zu hassen, so gebietet mein Glaube mir, dir zu verzeihen.“

Die Nächstenliebe ist allgemein. Sie muß zweitens wirksam sein. Die Liebe erschöpft sich nicht in einem Gefühl, sondern sie drängt zur Tat. Das Wohlwollen muß zum Wohltun werden. In den Schriften des Neuen Testamentes wird oft und oft dazu ermahnt, von der bloßen Gesinnung zum Werk überzugehen. „Wenn jemand kommt“, heißt es sinngemäß im Jakobusbrief, „und er ist unbekleidet, friert und hat Hunger und man gibt ihm schöne Worte, dann ist ihm damit nicht geholfen.“ Nein, die Nächstenliebe muß wirksam sein. In der Kraft dieser Forderung haben sich viele, die den Ruf des Herrn verstanden haben, für andere geopfert, haben sie die Wirksamkeit der Nächstenliebe in ihrem Leben bezeugt. Ich erinnere an einen Mann, der leider Gottes in unseren Gemeinden fast vergessen ist, an den niederländischen Pater Damian De Veuster, der als junger, kraftstrotzender Priester im vorigen Jahrhundert auf die Aussätzigeninsel Molokai ging, um den an dieser damals unheilbaren Krankheit leidenden Menschen zu helfen. Jahrelang hat er ihnen geholfen, bis er selbst von der Krankheit erfaßt wurde. Aber da ist er nicht etwa in ein Spital gegangen und hat sich behandeln oder nach Europa zurücktransportieren lassen. Er hat ausgehalten, ausgehalten bis zum letzten Tage bei seinen Aussätzigen und ist bei ihnen gestorben. Als sein Tod bekannt wurde, heftete man in Paris Plakate an die Litfaßsäulen an: „Freiwillige gesucht zur Pflege der Aussätzigen in Molokai.“ Paris, beherrscht von den Freimaurern, hat nicht einen einzigen seiner freimaurerischen Brüder, die ja angeblich der Menschenliebe verpflichtet sind, nach Molokai entsandt. Die Nächstenliebe muß wirksam sein.

Sie muß drittens wohlgeordnet sein. Es gibt eine Rangfolge der Güter, meine lieben Freunde. Zuoberst stehen die geistlichen und geistigen Werte, dann kommen die körperlichen und zuunterst die äußeren. Diese Ordnung muß bei der Nächstenliebe bedacht werden. Wir haben also bei denen, die uns irgendwie anvertraut sind, zunächst auf die geistlichen und geistigen und seelischen Werte zu achten. Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele verliert, an seiner Seele Schaden leidet? Und so muß auch unsere Erziehung – das ist ja am heutigen Familiensonntag aktuell – darauf gerichtet sein, in den uns Anvertrauten zuerst Religion, Tugend, Sittsamkeit, Moral zu erziehen, danach ihnen die körperlichen Werte zu vermitteln und zum Schluß erst die äußeren zu verschaffen. Aber wie oft, meine lieben Freunde, wird diese Ordnung umgestürzt! Wie oft setzen die Menschen die äußeren Werte, Ansehen, Ehre, Karriere, über die Moral, suchen mit Ellenbogen, mit Lug und Trug voranzukommen. Ich habe schon bei der Reifeprüfung, beim Abitur, erlebt, wie Kameraden in dieser entscheidenden Prüfung abschrieben und sich so das Abitur unredlich erworben haben. So fängt es an. Man muß also die Ordnung der Liebe beachten.

Die Nächstenliebe muß viertens gerecht sein, d.h. sie muß die Gebote Gottes beachten. Da wird einem häufig ein Wort des heiligen Augustinus entgegengehalten: „Ama et fac quod vis“ – Hab nur die Liebe, und dann kannst du tun, was du willst. Das Wort ist echt. Augustinus hat tatsächlich geschrieben: „Ama et fac quod vis“ – Liebe und tue dann, was du willst. Aber dieses Wort ist anders zu verstehen als im Sinne der Willkür. Der heilige Augustinus meint damit: Wenn man die Liebe hat, wird man nichts tun, was der Liebe zu Gott und den Menschen widerstreitet. Die Liebe wird alles erfüllen, was die Gebote beinhalten. Der heilige Paulus hat gleichsam einen Kommentar zu diesem Wort geschrieben, wenn er sagt: „Bleibt niemandem etwas schuldig, außer daß ihr einander liebet! Denn wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst kein falsches Zeugnis geben, Du sollst nicht begehren und jedes andere Gebot ist enthalten in dieser Vorschrift: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst! Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Erfüllung des Gesetzes also ist die Liebe!“ In diesem Sinne ist das Wort zu verstehen „Hab nur die Liebe, und dann tue, was du willst!“

Vor kurzem berichtete mir ein Dozent an dem Seminar für Gemeindepastoral in Mainz, daß er seinen Schülern das Wesen der Ehe zu erklären versucht habe. Die Ehe ist eine Gemeinschaft zwischen zwei geschlechtsverschiedenen Personen. Er hat also eindeutig, wie es ja die unumstößliche Lehre der Kirche ist, eine auf geschlechtlicher Basis beruhende Verbindung zweier gleichgeschlechtlicher Personen eindeutig zurückgewiesen. Da meldete sich einer der Schüler und sagte: „Ja, aber wenn sich zwei Männer lieben?“ Da sehen wir die Verkehrung der Liebe, die Verkehrung des Liebesbegriffes. Eine Zuneigung, die im Schlechten, im sittlich Minderwertigen begründet ist, ist keine gerechte Liebe. Die Liebe muß gerecht sein, d.h. sie muß durchformt sein von der Achtung vor allen Geboten.

Die Liebe muß auch heilig sein. Und das ist eigentlich das Schönste, was wir von der Liebe sagen können. Sie muß um Gottes willen den Nächsten lieben. Wie psychologisch fein ist das doch von unserem Gott und Heiland geboten! Viele Menschen, meine lieben Freunde, haben wenig, manchmal vielleicht gar nichts Liebenswertes an sich. Alle Menschen müssen ertragen werden. Ja, jeder hat sogar etwas Unerträgliches an sich. Und wenn man den Erweis der Liebe davon abhängig machen würde, was die Menschen an Liebenswürdigkeit an sich haben, dann müßte man schier verzweifeln. Denn es dünken uns viele Menschen wenig oder gar nicht liebenswürdig. Aber da kommt das Gebot der Nächstenliebe. Wir sollen den Menschen nicht wegen seiner inneren Werte lieben, sondern weil in ihm das Antlitz Gottes aufscheint. Wir sollen ihn lieben, weil er von Gott geschaffen, weil er von Gott erlöst und weil er von Gott zum Heil berufen ist. Wenn ein Mensch Gott so viel wert ist, dann darf er uns nicht weniger wert sein. Wenn ein Mensch von Gott geliebt wird, dann können wir nicht sagen: Ich finde nichts Liebenswertes an ihm. An einem Mitmenschen, der von Gott ins Leben gerufen, von dem Blute Christi geheiligt und zur ewigen Seligkeit berufen ist, muß etwas sein, und es ist unserer erfinderischen Liebe überlassen, die Werte in einem anderen Menschen aufzufinden. Aber in jedem Falle: Wir müssen den Nächsten lieben um Gottes willen. Unsere Liebe muß eine heilige sein.

Und schließlich das sechste und letzte Merkmal: Die Liebe muß aufrichtig sein. Aufrichtig ist die Liebe, wenn sie nicht den eigenen Nutzen sucht. Es besteht immer die Gefahr, daß wir es so machen wie die Heiden, d.h. daß wir die lieben, die uns lieben, und die ablehnen, die uns ablehnen. Nein, nicht weil wir etwas davon haben, nicht weil wir Nutzen aus der Liebe ziehen, nicht weil wir auf Beistand hoffen, wenn wir den Nächsten brauchen, sollen wir ihn lieben, sondern ohne Lohn, selbstlos. Wir sollen ihn lieben, weil er von Gott eine innere Liebenswürdigkeit eingestiftet bekommen hat. Aufrichtig sollen wir lieben, nicht berechnend, nicht auf den eigenen Nutzen schielend, sondern selbstvergessen.

Die Liebe kann selbstverständlich nicht zu allen Menschen gleich sein, denn wir haben Menschen, die uns in höherem Maße und andere, die uns in geringerem Maße anvertraut sind. Die uns näherstehen, haben zuerst Anspruch auf unsere Liebe, unsere Angehörigen, unsere Arbeitskollegen, unsere Nachbarn, unsere Freunde. Sie haben einen besonderen Anspruch auf unsere Liebe. Die Liebe läßt Abstufungen zu. Man braucht z.B. dem Feind nicht eine besondere Liebe zu erweisen. Die Moraltheologen haben richtig das Minimum an Feindesliebe dahin bestimmt: Man muß bereit sein, dem Feind in der Not zu helfen. Das ist das mindeste, was man ihm an Liebe erweisen muß, die Bereitschaft, ihm beizustehen, wenn er in Not kommt. Die Allgemeinheit der Liebe schließt also nicht aus, daß wir eine besondere Liebe zu unseren Freunden haben. Die Freundschaft ist ein hoher Wert, und die Freundesliebe ist eine der wunderbarsten Blüten im Garten Gottes. Die Freundesliebe hat ihr Fundament in der Treue, die in allen Wechselfällen durchhält. Eine Freundesliebe, die aufhört, war keine echte Freundesliebe. Ihre Voraussetzung ist das Streben nach dem Guten. Nur im Streben nach dem Guten kann man mit einem anderen Freund sein. Im Verbrechen oder in der Sünde gibt es keine Freundschaft. Das mag eine Kumpanei sein, aber das ist keine Freundschaft. Und die Zierde, der Schmuck der Freundschaft ist die Sittsamkeit. Freunde müssen gemeinsam das Sittengesetz beobachten und nach der Erfüllung des Sittengesetzes streben. Eine Freundschaft kann auch nicht bestehen ohne die Achtung voreinander. Mißachtung, Verachtung, Geringschätzung vertragen sich nicht mit der schuldigen Achtung, die wir dem Freunde zollen. Darüber hinaus muß Achtung einem jeden Menschen erwiesen werden. Verachtung ist keine christliche Haltung. Wir brauchen uns in unserem Urteil über andere nicht selbst zu täuschen. Wir müssen uns Klarheit verschaffen, wie andere gesinnt, eingestellt, befähigt sind. Zu diesem Zweck müssen wir über sie urteilen. Aber niemals darf uns ein negatives Urteil, das wir pflichtmäßig fällen, dazu verleiten, den anderen zu verachten, ihm seine Menschenwürde abzusprechen oder ihn in geringschätziger Weise zu behandeln.

Unser Herr und Heiland hat die Nächstenliebe mit herrlichen Worten und wunderbaren Beispielerzählungen eingeschärft. Sein schönstes Wort lautet wohl: „Alles, was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ Leo Tolstoi, der russische Dichter, schilderte einmal das Leben eines armen, einsamen Schuhmachers. In seiner Kellerwohnung sitzt er über seiner Arbeit. Er ist aber ein frommer Mann. Er hat eines Tages einen Traum. In diesem Traum kündigt ihm Jesus an, er werde ihn am nächsten Tage besuchen. Der Schuhmacher macht am Morgen auf und ist gespannt, wie das sein wird, wenn Christus ihn besuchen wird. Da schaut er zu seinem Kellerfenster hinaus und sieht eine arme, dürftig gekleidete Frau mit einem Kind. Es ist Winter. Er bittet sie herein und erfährt, daß sie mit dem Kind den Tod suchen will. Er gibt ihr eine warme Jacke und labt das Kind. Dann gehen sie mit neuem Mut wieder hinaus. Dann sieht er einen armen Straßenkehrer, der den Schnee zusammenfegt. Er bittet ihn herein und bietet ihm ein warmes Getränk an. Zufrieden geht der Mann hinaus. So geht es vom Morgen bis zum Abend. Aber am Abend ist der Schuhmacher ganz traurig, weil doch, wie er meint, Christus seine Ankündigung nicht eingelöst hat. Da setzt er sich nieder und liest in der Heiligen Schrift. Er findet die Stelle: „Alles, was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Da wurde es ihm warm ums Herz, und er begriff, daß Christus in den geringsten seiner Brüder bei ihm eingekehrt war.

Amen.

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