28. April 1991
Über Ärgernisse an der Gestalt Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Gott hat uns das gläubige Ja zu seiner in Christus erschienenen Liebe nicht leicht gemacht. Christus lebte arm und machtlos. Ihn trafen der Haß und der Abscheu seiner Umgebung, und er endete sein irdisches Leben als ein Verfemter und Ausgestoßener am Schandholz des Kreuzes. Die Weise, wie Christus erschienen ist, hat die Menschen gereizt. Die Juden begehrten gegen ihn auf; für sie war es unfaßlich, daß der gottgesandte Gesalbte in der Gestalt des armen, demütigen Jesus von Nazareth erscheinen könne. Wer zu Gott und zu seinem Christus kommen will, muß die menschlichen Maßstäbe hinter sich lassen, also das menschliche Denken, das menschliche Erleben. Die innerweltlichen und innermenschlichen Maßstäbe müssen aufgegeben werden, wenn Gott seinen Christus in diese Welt sendet. Das war eben die Unfähigkeit der meisten Juden, daß sie nicht bereit waren, diese innerweltlichen und innermenschlichen Maßstäbe fallenzulassen.
Christus ist ein Gotteszeichen, ein Gotteszeichen, dem Entscheidungskraft innewohnt. „Durch die Anrufung des Namens Jesu Christi, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, tritt eine Scheidung unter den Menschen ein“, schreibt im 2. Jahrhundert der Bischof Irenäus von Lyon. Gegenüber Christus wird der Mensch in die Entscheidung gerufen, und das bedeutet auch, in die Gefahr des Absturzes. Wer nicht großmütig genug ist, wer nicht zum Glauben kommt, wer nicht die eigenen Maßstäbe fallen läßt, der scheitert an Christus, der nimmt an ihm Ärgernis. Ärgernis ist das gereizte Aufbegehren gegen Christus. Dieses Ärgernis hat sich schon zu Lebzeiten gegen Christus erhoben. Als er seine Antrittspredigt hielt und auf die Isaiasstelle zurückgriff, wonach eben in seinem Wirken das Reich Gottes anbricht, da reckte sich das Ärgernis auf in der Synagoge: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn Marias, ein Bruder des Jakobus, Joses, Judas und Simon? Sind nicht seine Schwestern hier bei uns?“ Und sie wurden irre an ihm.
So ist es geblieben. Nicht nur die jüdischen Zeitgenossen Jesu haben an ihm Ärgernis genommen, sondern auch kommende Generationen bis zur heutigen Zeit, bis zu dem Buche etwa, das Rudolf Augstein, der Herausgeber des „Spiegel“, über Jesus Christus geschrieben hat. Nach dem Apostel Paulus tritt das Ärgernis in zwei Gestalten auf, nämlich entweder daß Christus den Menschen ob seiner göttlichen Natur als unfaßbar und unglaubhaft erscheint oder daß Gott nicht in die Nichtigkeit des Fleisches eingehen kann. Schon im Römerbrief kommt er darauf zu sprechen, daß es Menschen gibt, die über seine Botschaft von Jesus, dem Heiland, lachen. Da sagte er: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Gotteskraft für jeden, der glaubt“, auch für diejenigen, die sich darüber lustig machen. Noch deutlicher spricht er im 1. Korintherbrief über diejenigen, die Anstoß nehmen an Christus. „Die Juden fordern Wunderzeichen, und die Griechen suchen Weisheit, wir aber verkünden Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit. Denen aber, die berufen sind, den Juden sowohl als den Heiden, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte, das von Gott kommt, ist weiser als die Menschen, und das Schwache, das von Gott kommt, ist stärker als die Menschen.“ Die Juden können nicht begreifen, daß Gott in die Nichtigkeit des Kreuzes eintritt, und die Griechen, also die Heiden, können sich nicht vorstellen, daß der erhabene Gott in Menschengestalt über die Erde wandeln könnte. Diese beiden Spielarten des Ärgernisses sind durch alle Zeiten der Kirchengeschichte dieselben geblieben. Aus dieser Versuchung, an Christus Ärgernis zu nehmen, sind alle Irrlehren der gesamten zweitausendjährigen Kirchengeschichte zu erklären. Es kann in der Gegenwart keine neue Irrlehre auftreten, weil alle schon dagewesen sind. Die Fehldeutungen und das Fehlverhalten gegenüber Christus, die in der alten Zeit, in den ersten Jahrhunderten, sich ereignet haben, sind so erschöpfend, daß neue Möglichkeiten nicht auftreten können, höchstens Abwandlungen des schon Bekannten. Und deswegen hat es nicht nur dogmengeschichtliche Bedeutung, wenn wir von den Häresien, also den Irrlehren der alten Zeit sprechen, sondern diese Irrlehren sind heute genauso aktuell wie damals.
Man kann sich an dem Geheimnis Christi in dreifacher Weise verfehlen, erstens, indem man sein göttliches Wesen leugnet, zweitens, indem man seine menschliche Natur verkürzt und drittens, indem die Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem falsch darstellt. Die erste Weise, sich an Christus zu verfehlen, besteht darin, daß man seine göttliche Wesenheit leugnet. Schon im 2. Jahrhundert n. Chr. tritt ein Irrlehrer auf namens Kerinth, und ihm folgte die Sekte der Ebioniten, die vom pharisäischen Rationalismus erfüllt sind und Jesus nur ein menschliches Dasein zubilligen. Sie sagen, Jesus ist der Messias, aber er ist ein bloßer Mensch, der eben in besonders heiliger Weise gelebt und gewirkt hat. Diese Verkürzung des göttlichen Wesens Jesu finden wir bezeugt in dem berühmten Dialog mit Tryphon des heiligen Martyrers Justinus. Justinus hat um die Mitte des 2. Jahrhunderts gelebt. In diesem Dialog, also diesem Zwiegespräch, läßt er den Juden sprechen: „Was du da sagst, daß Gott von Ewigkeit gelebt hat und daß er dann in der Zeit auf Erden erschienen sein soll, das ist unfaßbar und töricht.“ Das ist das Ärgernis, das sich an Jesu göttlicher Wesenheit emporreckt. Als dann diese Lehre in die Heidenwelt eintrat, war das Ärgernis nicht geringer. Theodot von Byzanz zum Beispiel hat an der göttlichen Wesenheit Christi Ärgernis, Anstoß genommen und sie deswegen bestritten. Nach ihm ist Jesus ein bloßer Mensch gewesen. Bei der Taufe kam der Heilige Geist auf ihn. So ist er zum Christus geworden. Auf seine Weise hat Theodot die Evangelien „verbessert“, das heißt eben verfälscht, aber seine Lehre war zunächst nicht sehr wirksam. Sie wurde erst wirksam, als ein Bischof sie aufgriff, der Bischof Paul von Antiochien, nach seinem Geburtsort genannt Paul von Samosata. Dieser einflußreiche Mann verbreitete die folgende Irrlehre: Jesus ist ein bloßer Mensch, aber durch seine Heiligkeit und Gerechtigkeit hat er sich Anteil an göttlicher Ehre und Würde verdient. Der Logos hat in ihm wie in einem Tempel gewohnt, er wurde vom Heiligen Geist gesalbt und heißt deswegen Christus, Gesalbter. Überhaupt waren in Antiochien und in Edessa, also im heutigen Syrien, Schulen, Theologenschulen am Werke, die vom aristotelischen Denken ausgingen und deswegen leicht zu einer falschen Vorstellung von der Verbindung des göttlichen und des menschlichen Elementes in Christus kamen. Ich nenne die Namen Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia, aber vor allem natürlich Lukian von Antiochien und Arius. Arius, nach dem die Irrlehre des Arianismus benannt ist, sagte: Christus ist ein bloßer Mensch, der sich durch sittliche Bewährung göttliches Ansehen, göttliche Würde verdient hat. Das ist die grundlegende These dieser die göttliche Wesenheit Christi verkürzenden Irrlehre. Das Menschliche wird ernst genommen, sehr ernst. Jesus wird in seiner vollen Menschlichkeit dargestellt, aber das Göttliche kommt darüber zu kurz. Immer wieder heißt es: Jesus war ein Mensch, ein einzigartiger Mensch, ein Mensch von bewundernswerter Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit, und deswegen hat ihn Gott auch angenommen. Er hat sich mit ihm in einer moralischen, also nicht in einer ontologischen, das Sein betreffenden, sondern in einer die Gesinnung betreffenden Weise vereinigt. Vor allen Dingen wurde diese Lehre dann vertreten von einem Patriarchen von Konstantinopel, also dem ersten Kirchenfürsten des ganzen Ostens. Konstantinopel ist heute die Stadt Istanbul in der Türkei. Dieser Patriarch, Nestorius, zerriß die Einheit in Christus. Christus ist ganzer Mensch, aber auch mit Gott verbunden. Er konnte nicht erklären, wie sich das Göttliche in Christus mit dem Menschen Jesus verbindet. Und so kam er zur Irrlehre, daß in Christus zwei Personen sind, eine göttliche und eine menschliche Person. Er hat das echt Menschliche zum Nur-Menschlichen überspitzt, und dadurch ist er in die Irre gegangen. Seine Lehre wurde verurteilt vom Konzil von Ephesus im Jahre 431.
Dagegen erhob sich eine andere Lehre, die das Menschliche nicht ernst nahm, die das Menschliche verkürzte. Ihre Vertreter waren Männer, gläubige, fromme Männer, die in Christus vor allem und über allem seine göttliche Wesenheit sahen. Das ist die Irrlehre des Monophysitismus. So lehrt zum Beispiel Satornil: Christus ist unkörperlich, er ist nur scheinbar mit einem Leibe auf Erden erschienen. Oder der Basilides: Wer noch den Gekreuzigten anbetet, ist ein Sklave. Hier sehen wir, hier wird das Menschliche in Christus abgewertet. Diese Irrlehrer sagen: Das Menschliche ist im Göttlichen aufgegangen wie der Wassertropfen im Meer. Die Spitze erreichte diese Irrlehre dann bei Apollinaris von Laodicea und vor allem bei Eutyches. Apollinaris von Laodicea wollte das Göttliche mit dem Menschlichen eng verknüpfen, und so sagte er: Christus hat keine Seele, sondern nur einen Leib. Die Stelle der Seele nimmt der Gotteslogos ein, die zweite Person in der Gottheit. Das war natürlich eine Verkürzung des Menschlichen in Christus. Und ebenso Eutyches. Er sagt: Es gab in Christus zwei Naturen, aber diese zwei Naturen sind dann vereinigt worden zu einer göttlichen Natur. Nach der Vereinigung gibt es nur noch eine göttliche Natur. Die menschliche Natur ist verwandelt worden in die göttliche. Das war auch wieder eine Irrlehre, eine Verkürzung des Menschlichen in Christus, und so wurde diese Lehre verurteilt auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451.
Diese beiden Irrlehren sind eigentlich das Generalthema der gesamten Kirchengeschichte. Die einen verkürzen die Menschlichkeit Christi, und das ist die näherliegende Irrlehre, weil sie der Vernunft zu genügen scheint, die anderen überbetonen das Göttliche in Christus und werden damit der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu nicht gerecht. Wir, meine lieben Freunde, müssen beides festhalten, wie es die Kirche in wunderbarer Weise unter der Führung des Heiligen Geistes in ihren Lehrentscheidungen getan hat. Wer diese Lehrentscheidungen liest, der wird gestärkt in seinem Glauben an die Führung der Kirche vom Heiligen Geiste. Ich habe an diesen Lehrentscheidungen immer bewundern gelernt, in welcher Weise Gott seine Kirche zwischen der Szylla und Charybdis hindurchführt: Christus als voller und ganzer Mensch, und doch vereinigt mit der Person des Logos. Der Logos ist das Aktzentrum in diesem Menschen, zwei Naturen sind in einer Person. Das ist die Formel, die glückliche Formel, die unaufgebbare Formel geworden, in welche das Konzil von Chalcedon die kirchliche Lehre gefaßt hat.
Und daran, meine lieben Freunde, wollen wir festhalten. Im Jahre 1856, bei großen Ausgrabungen in Rom, entdeckte man auf dem Hügel Palatin eine Wachstube von Soldaten, und an einer Wand dieser Wachstube war ein Bild zu sehen, das man sofort als Spottkreuz erkannte. Da war also ein Gekreuzigter abgebildet, aber er trug einen Eselskopf. Vor dem Gekreuzigten kniete ein Mann, ein Soldat, und da war eine Inschrift angebracht: „Alexamenos betet seinen Gott an.“ Hier sollte also ein christlicher Soldat verspottet werden, weil er die wahre Gottheit Christi bekannte und infolgedessen ihm Anbetung zollte. Wenige Jahre später, bei weiteren Ausgrabungen, stieß man auf eine benachbarte Kammer, und da fand man die Inschrift: „Alexamenos fidelis“. Der Alexamenos bleibt seinem Gott treu. So soll es auch bei uns sein, meine lieben Freunde. Durch keinen Spott und durch keine Attacken wollen wir uns irre machen lassen in unserem Glauben an den menschgewordenen Gott und Heiland, unseren unsterblichen Herrn Jesus Christus.
Amen.