4. November 1990
Das Fegfeuer (Teil 2)
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Offenbarung hat uns über das Wesen des Fegfeuers verhältnismäßig wenig mitgeteilt. Wir wissen, das Fegfeuer ist ein Zustand der Pein, in dem durch das ungestillte Verlangen nach der Gottesnähe dem Menschen Schmerzen, ja Qualen entstehen, die mit den irdischen Schmerzen und Qualen nicht zu vergleichen sind, ein Zustand der Pein, der aus der ungestillten Sehnsucht nach der Vereinigung mit Gott hervorgeht. Wo sich das Fegfeuer befindet, wie lange das Fegfeuer anhält, die Art und Weise, wie es auf die Seelen wirkt, das ist uns nicht geoffenbart. Wir können aber aus dem Wesen Gottes, aus seiner Heiligkeit, aus der Mangelhaftigkeit des Menschen, aus seiner Hinordnung auf Gott einige Folgerungen ziehen. Und so hat sich das gläubige Nachdenken der Theologen seit 2000 Jahren mit dem Fegfeuer befaßt und ist zu einigen Ergebnissen gekommen, die wir als berechtigt und zutreffend ansehen können.
Was zunächst den Ort angeht, wo die vom Leibe getrennten Seelen leiden, so müssen wir sagen, wir haben keine Offenbarung darüber. Die Seelen sind nicht mehr an die Gesetze von Raum und Zeit gebunden wie ein körperhaftes Wesen. Aber sie sind zweifellos noch irgendwo an den Raum gebunden, und es ist uns unmöglich zu sagen, welche Stelle im Weltall dafür geeignet ist, um diesen Läuterungsvorgang zu beherbergen. Wir können keine Stelle im Weltall ausmachen, die besser geeignet ist als eine andere. Es ist uns unmöglich, den Ort des Fegfeuers anzugeben.
Um so besser wissen wir über den Vorgang des Fegfeuers Bescheid. Der Mensch ist auf Gott hingeordnet, und „unruhig“, sagt Augustinus, „ist unser Herz, bis es ruht in Gott“. Solange der Mensch also nicht in der Gottesschau und in der Gottesliebe ruht, ist er unfertig. Er muß geläutert werden, damit er für die Gottesschau und für die Gottesliebe, für die unverhüllte Gottesschau und Gottesliebe, bereit wird. Im Gericht erkennt der Mensch seinen Abstand von Gott, sieht er den Widerspruch, in dem er, der Unheilige, zum heiligen Gott steht, erkennt er seine Verschuldung. Und diese Sicht ist begleitet von der Verurteilung; er verurteilt sich selbst. Er verurteilt sein eigenes Versagen, sein Zurückbleiben hinter der Forderung Gottes. Diese Verurteilung ist von Gott gewirkt. Der Mensch wird gleichsam zurückgestoßen von der Macht der Heiligkeit Gottes, vom Licht der göttlichen Wahrheit, von der Glut der göttlichen Liebe. Und dieses Zurückgestoßen-Werden ist von äußerstem Schmerz; denn jetzt ist der Mensch nicht mehr geblendet durch die irdischen Herrlichkeiten. Die sind von ihm abgefallen. Jetzt hat er nur noch Gott vor sich, und jetzt erkennt er mit tiefer Scham, was er verfehlt hat, was er versäumt hat. Jetzt brennt die Liebe in ihm wie ein Feuer. Die Sehnsucht nach Gott brennt wie ein Feuer in ihm.
Die Theologen streiten darüber, ob allein in dieser Unfertigkeit des menschlichen Wesens die Fegfeuerstrafe besteht oder ob dazu noch eine andere Strafe kommt, ob es also nur den Mangel und die Strafe des Entbehrens der Gottesschau gibt oder ob darüber hinaus noch eine weitere Hemmung durch irgendwelche Wirkungen, die Gott auf die Seele ausübt oder ausüben läßt, geschieht. Die Offenbarung erhebt keinen Einspruch dagegen, wenn man sagt: Das Fegfeuer besteht darin, daß der Mensch durch die in der Gottesferne liegende Hemmung Leiden und Qualen erleidet. Wahrscheinlicher aber ist gemeint, daß darüber hinaus noch eigene Empfindungsstrafen auf die Seelen einwirken, weil der Mensch eben auf die Schöpfung verwiesen bleibt und deswegen auch von der Schöpfung Fesselungen und Bindungen erleiden soll.
Die Qualen des Fegfeuers sind von manchen Heiligen beschrieben worden, und das Wort der Heiligen hat eine große Bedeutung in der Kirche. Die heilige Katharina von Genua beispielsweise sagt: Die Sehnsucht nach Gott ist in den abgeschiedenen Seelen so groß, daß der Schmerz darüber, ihn entbehren zu müssen, größer ist als alle Qual, die auf Erden denkbar ist. Die heilige Teresa von Avila sagt in ähnlicher Weise, daß die Liebessehnsucht, die ungestillte Liebessehnsucht, die den Menschen verzehrt, ohne ihn doch aufzubrauchen, ein Schmerz von unvorstellbarer Größe ist. Der heilige Thomas von Aquin, immerhin der bedeutendste Theologe der Kirche, sagt, daß die geringste Fegfeuerstrafe größer ist als jeder Schmerz auf Erden. Und der heilige Bonaventura erklärt, daß die höchste Fegfeuerstrafe schlimmer ist als alle irdischen Schmerzen. Wie immer es auch damit bestellt sei, daß das Fegfeuer schmerzlich ist, daran ist ein Zweifel nicht möglich. Je mehr die Liebe wächst, um so größer wird der Schmerz, weil sich dann eben die Sehnsucht des Menschen nach Gott immer mehr verstärkt. Und je größer die Sehnsucht wird, um so schmerzhafter ist die Gewißheit, Gott noch entbehren zu müssen, um so größer ist auch die Scham über die Sünde, die Scham über das, was man versäumt hat im Leben, die Reue über die verpaßten Gelegenheiten.
Die Seelen im Fegfeuer leiden. Aber wenn man sagen muß, daß ihre Pein größer ist als alle Schmerzen auf Erden, so muß man auch sagen: Ihre Freude ist größer als jede irdische Freude. Warum? Weil sie wissen, sie haben das Gericht bestanden; die Spannung, die im irdischen Leben und im Tode über ihnen lag, hat sich gelöst, die Angst, die in jedem Menschen ist, ob Gott ihn annehmen oder verwerfen wird, ist bewältigt. Sie sind in der Not, aber sie sind auch im Triumph. Sie haben das Gericht triumphierend bestanden. Und sie lieben ihre Pein, denn sie wissen, daß diese Pein dazu dient, sie Gott zuzuführen. Sie sagen ja zu dem Umschmelzungsprozeß, in dem sie sind, weil sie gewiß sind, er bereitet sie für das endgültige Lieben und für das endgültige Schauen Gottes. Sie würden es bedauern, wenn sie nicht leiden müßten, denn dann wären sie ja ausgeschlossen von dem Umschaffungsvorgang, der sie für Gottes Herrlichkeit bereiten soll. So ist also das Fegfeuer nicht eine zeitlich begrenzte Hölle, sondern ein Vorhimmel. Die Armen Seelen sind in dieser Sicht auch die reichen Seelen, denn sie leben in der Liebe zu Gott, und sie haben die Heilsgewißheit.
Es erhebt sich die Frage, was im Fegfeuer vergeben wird. Auch darüber sind die Meinungen der Theologen geteilt. Werden im Fegfeuer Sünden vergeben, oder wird nur ein anderer Mangel geheilt, nämlich die Neigung zur Sünde, oder werden nur Sündenstrafen verbüßt? Es gibt Theologen, die sagen: In einem Augenblick wird dem, der im Gericht bestanden hat, die Sünde vergeben, und im Fegfeuer werden nur Sündenstrafen verbüßt und wird nur die unordentliche Begierlichkeit im Menschen, also die Anhänglichkeit an die Sünde, ausgeglüht. Andere Theologen – das ist wohl die bessere Meinung – sagen: Nein, es wird auch im Fegfeuer Sünde vergeben. Nicht in einem Augenblick, sondern die Sünde wird vergeben in einem stufenweisen Voranschreiten. Die Mängel, von denen man im Fegfeuer geheilt wird, sind also dreierlei, nämlich die läßliche Sünde, die ungeordnete Begierlichkeit und die Sündenstrafe. Das scheint deswegen die bessere Meinung zu sein, weil die Kirche immer wieder fleht, Gott möge dem Verstorbenen die Sünden vergeben, nicht nur die Sündenstrafen verbüßen lassen, nicht nur die ungeordnete Begierlichkeit heilen, nein, Sünden vergeben. „Befreie, o Herr, ihre Seele, von Sünden!“ So fleht die Kirche oft im Requiem und bei der Beerdigung und bei der Einweihung von Friedhöfen. Ob diese Sünde augenblicks vergeben wird oder ob es ein längerer Vorgang ist, darüber sind auch kontroverse Meinungen. Der heilige Thomas meint, die Sünde werde augenblicks vergeben, und es brauche nur längere Zeit, um die Sündenneigung des Menschen zu beseitigen. Je mehr ein Mensch auf Erden der Sünde verhaftet war, um so länger braucht es, um diese Neigung zu bewältigen.
Wie immer es auch sein mag, die Kirche hat es bisher immer abgelehnt, sich über die Dauer des Fegfeuers auszusprechen. Eine der wenigen Entscheidungen stammt von Papst Alexander VII. Er hat die Meinung verurteilt, kein Mensch verweile länger als 20 Jahre im Fegfeuer. Mit dieser Verurteilung ist nicht gesagt, daß der Aufenthalt im Fegfeuer länger dauert. Mit dieser Entscheidung ist abgewiesen jede Zeitbestimmung und jede zeithafte Vorstellung. Man darf sich das Fegfeuer eben nicht wie eine irdische Strafe, die man im Gefängnis verbüßt, und die nach Tagen, Monaten und Jahren gerechnet wird, vorstellen. Jede zeithafte Vorstellung vom Fegfeuer ist also abgewiesen. Aber eines ist sicher: Je weiter der Läuterungsvorgang gedeiht, um so freier wird die Seele, um so mehr wächst ihre Sehnsucht, um so tiefer wird ihre Scham über die Sünden. Mit dem Nachlassen der Sünde und der Reinigung von der Anhänglichkeit an die Sünde werden auch die Sündenstrafen verbüßt. Es ist mit dem Wesen Gottes wohl nicht vereinbar, wenn man annimmt, daß jemand, der schon ganz von der Sünde gereinigt und auch von der ungeordneten Begierlichkeit geheilt ist, noch länger im Fegfeuer verweilen müßte. Man wird annehmen müssen, daß, wenn jemand von der Sünde befreit und von der Anhänglichkeit an die Sünde geheilt ist, dann auch die Fegfeuerstrafen zu Ende sind.
Das ist es im wesentlichen, meine lieben Freunde, was uns die Offenbarung und das Nachdenken der Theologen über das Fegfeuer zu sagen wissen. Die Theologen kommen auch zu der Überlegung: Im Fegfeuer kann man keine Verdienste mehr sammeln. Verdienste kann man nur auf Erden erwerben, denn nur auf Erden hat man nicht die volle Einsicht in die Verderblichkeit der Sünde und in die Herrlichkeit des Guten. Nur auf der Erde ist eine Überwindung möglich und notwendig, um gut zu sein. Die Seelen im Fegfeuer sind dieser Entscheidung enthoben. Sie können nicht mehr sündigen. Sie sind nicht mehr fähig, zu wählen zwischen Gut und Böse, weil sie in der Liebe verankert sind. Sie sind unfähig geworden, sich für das Böse zu entscheiden. Sie tun aber nicht mehr genug, sondern sie leiden genug. Sie sind gebunden von Gott, und diese Bindung besagt, daß sie ihre Selbstherrlichkeit, die in der Sünde ihre Wurzel hat, aufgeben und die Autonomie preisgeben, daß sie immer mehr mit dem Willen Gottes übereinstimmen, ja daß der Wille Gottes ihr ein und alles wird. Die Sünde besteht in der Autonomie, daß man sich gegen Gott entscheidet, um etwas für sich zu erreichen. Und die Befreiung von der Sünde besteht in der Aufgabe der Autonomie, indem man sich von Gott, seiner Liebe und seiner Wahrheit binden läßt und seinen Willen freudig bejaht. So führen also die armen oder reichen Seelen ein Leben der Anbetung, des Lobes, des Dankes, der Reue. Sie führen ein Leben, das Gott in ihnen wunderbar bewirkt. Sie führen ein Leben, das voller Schmerzen, aber auch voller Freuden ist. Wir dürfen also für die Armen Seelen beten, damit sie erlöst werden von ihren Schmerzen. Aber wir dürfen uns auch mit ihnen freuen, weil sie gesiegt haben, weil sie durch das Gericht hindurchgeschritten sind, weil sie ihres Heiles gewiß sind und weil mit absoluter Sicherheit der Tag kommt, an dem Gott ihnen das lumen gloriae, das Licht der Herrlichkeit, einsenkt, also diese Kraft, Gott zu schauen und zu lieben für eine ganze Ewigkeit.
Amen.