22. Oktober 1989
Gott, der Erhalter und Lenker der Schöpfung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der preußische König Friedrich II. kam eines Tages bei einem Schulbesuch in eine Erdkundestunde. Der Lehrer fragte die Kinder: „Wo liegt unser Dorf?“ „In Preußen.“ „Und wo liegt Preußen?“ „In Deutschland.“ „Und wo liegt Deutschland?“ „In Europa.“ „Und wo liegt Europa?“ „Auf der Erde.“ Da mischte sich der König selbst ein. „Und wo liegt die Erde?“ Ein Kind zeigte auf: „Die Erde liegt in Gottes Hand.“ Dieses Kind hatte eine tiefe Wahrheit unseres Glaubens ausgesprochen.
Gott erschafft nicht nur die Welt, Gott erhält sie auch. Es gibt nicht nur eine Welterschaffung durch Gott, sondern auch eine Welterhaltung. Gegen Irrlehren, die aufgetreten sind, hat die Kirche immer durch ihr Lehramt festgehalten, daß Gott die Welt nach der Erschaffung sich nicht selbst überläßt, wie der Deismus, eine Irrlehre, die vor allem im 17. und 18. Jahrhundert im Schwange war, behauptet, sondern daß Gott die Welt in jedem Augenblick im Dasein erhält. Das I. Vatikanische Konzil hat erklärt: „Gott schützt die Schöpfung durch seine Vorsehung.“ Und der Römische Katechismus sagt: „Gott erhält mit seiner Vorsehung alle Dinge im Dasein mit derselben Kraft, mit der er sie erschaffen hat.“ Es gibt also eine ständige kausale Einwirkung auf die Dinge durch Gott. Der heilige Thomas nennt die Welterhaltung eine Fortsetzung der Welterschaffung.
Die Heilige Schrift bezeugt uns, daß Gott die Welt mit seiner unendlichen Kraft im Dasein erhält. Im Buche der Weisheit heißt es: „Wie könnte etwas bestehen, wenn du es nicht wolltest? Wie könnte etwas erhalten werden, wenn es nicht von dir ins Dasein gerufen wäre?“ Also nichts hätte Bestand, wenn Gott es nicht mit seinem Willen – und sein Wille ist ja Macht –, wenn Gott es nicht mit seinem Willen im Bestand erhielte. Und auch im Neuen Testament ist die erhaltende Tätigkeit Gottes bezeugt, etwa wenn der Heiland im Johannesevangelium sagt: „Mein Vater wirkt bis zur Stunde, und auch ich wirke.“ Dieses Wirken des Vaters bezieht sich auf die Welterhaltung und die Weltregierung. Weil Christus der lebendige Gott in Person ist, weil Christus die zweite Person in der Gottheit ist, kann man die Welterhaltung ebensogut ihm wie dem Vater zuschreiben. Und das tut der Apostel Paulus, etwa im Kolosserbrief: „Alles hat durch ihn Bestand.“ Mit dem Wort „Ihn“ ist Christus gemeint. „Alles hat durch ihn Bestand.“ Das heißt, wenn er seine Kraft zurückziehen würde, dann würde die Welt in das Nichts zurückfallen. Oder im Hebräerbrief: „Er trägt alles durch das Wort seiner Macht.“ Aus diesen Bibelstellen ergibt sich, daß die Welt von Gott im Dasein erhalten wird. Wenn Gott seinen Einfluß zurückziehen würde, dann würde die Welt in das Nichts zurücksinken.
Wir können uns das zwar nicht vorstellen, aber es ist absolut sicher, daß die Welt lebt von dem erhaltenden Einfluß Gottes und daß sie zugrunde ginge ohne diesen Einfluß. Im 2. Buch der Makkabäer heißt es nämlich: „Wir aber vertrauen auf den allmächtigen Gott, der die ganze Welt mit einem Wink vernichten kann.“ Der die ganze Welt mit einem Wink vernichten kann! Gott kann also die Welt annihilieren, ins Nichts zurückfallen lassen, wenn er seinen erhaltenden Einfluß zurückzieht. Die Dinge sind eben ganz und gar von Gott abhängig. Ob Menschen oder Tiere oder unbelebte Wesen, sie sind ganz und gar von Gott abhängig, und zwar nicht nur im Werden, sondern auch im Sein. Es ist anders als bei einem menschlichen Künstler. Wenn der Künstler einen Apparat geschaffen hat oder eine Figur, dann stehen sie da, dann ist er an ihrem Bestehen unbeteiligt. Aber wenn Gott etwas schafft, dann zieht er seinen schöpferischen Einfluß nie mehr zurück. Täte er es, dann würde das Ding zugrunde gehen. Gott will, daß die Dinge erhalten bleiben. Auch das bezeugt eine Schriftstelle, nämlich: „Gott hat keine Freude am Untergang der Lebenden, denn er hat alles zum Sein erschaffen.“
Das ist also die Lehre von der Erhaltung der Schöpfung im Dasein durch Gottes Kraft. Diese Erhaltung zeigt sich auch in der Mitwirkung Gottes. Bei allem, was sich regt und bewegt, wirkt Gott in jedem Augenblick mit. Es gibt eine göttliche Mitwirkung mit jedem Akt eines Geschöpfes. Man nennt das mit einem lateinischen Ausdruck den concursus divinus – göttliche Mitwirkung. Auch das ist im Gegensatz zu Irrlehren gesagt, etwa zum Deismus, wonach eben Gott die Maschine schafft, und dann läuft sie, und zwar ohne ihn. Das war die Ansicht von Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, die nicht ungläubig waren, aber eben einen falschen Glauben hatten. Diese göttliche Mitwirkung ist in der Heiligen Schrift mannigfach bezeugt, wenn es z.B. heißt, daß Gott uns schon im Mutterleib gebildet hat; oder wenn die Heilige Schrift sagt: „Gott läßt die Sonne scheinen über Gute und Böse; er läßt Regen fallen über Gerechte und Ungerechte.“ Alles, was geschieht, hat Gott zur Erstursache. Wir Menschen sind nur Zweitursache. Gott ist die Erstursache. Im Buch des Propheten Isaias heißt es an einer Stelle: „Alle unsere Taten hast du gewirkt.“ Das klingt widersprüchlich. „Alle unsere Taten hast du gewirkt.“ Ja, haben nicht wir sie gesetzt? Ja, wir haben sie gesetzt in Abhängigkeit von Gott, aber Gott hat sie gewirkt in Unabhängigkeit von uns. „Alle unsere Taten hast du gewirkt.“ Und noch schöner in der Apostelgeschichte: „In ihm – damit ist Gott gemeint –, leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Gott ist gewissermaßen die Luft, die Atmosphäre, die Kraft, in der wir leben, uns bewegen und sind. Wir können nicht einen Arm heben, wir können nicht einen Gedanken fassen, wir können nicht ein Wort aussprechen, ohne daß Gott der Erstwirkende ist, der Hauptwirkende. Das nennt man concursus divinus. Es ist das eine unmittelbare Mitwirkung, im Unterschied zu einer bloß mittelbaren, welche die natürlichen Kräfte gibt und erhält. Es ist das eine natürliche Mitwirkung im Unterschied zur übernatürlichen durch die Gnade. Es ist das eine allgmeine Mitwirkung, die sich ausnahmslos auf alle Akte und alle Wesen bezieht. Es ist das eine Mitwirkung physischer Art, nicht bloß moralischer, also durch Rat oder Befehl oder Drohung.
Diese Mitwirkung Gottes ist für uns auch anzunehmen bei der Sünde. Da tritt natürlich ein tiefes Geheimnis vor uns hin. Gott wirkt auch bei der Sünde mit. Ja, ist das denn mit der Heiligkeit Gottes zu vereinbaren? Gott – hier muß man unterscheiden – wirkt bei der Sünde mit, was die Betätigung angeht. Soweit es sich um eine irgendwie geartete Tätigkeit handelt, wirkt Gott mit, sonst könnte die Tätigkeit überhaupt nicht geschehen. Aber was die Bosheit angeht, was die falsche Richtung angeht, was die sündhafte, verkehrte Absicht betrifft, da wirkt Gott nicht mit. Das ist allein Sache des Geschöpfes. Der sittliche Mangel, die falsche Wendung, das ist allein dem Geschöpf zuzuschreiben.
Da sehen wir, meine lieben Freunde, welche Dankbarkeit wir für Gottes Erhaltung beweisen müssen, aber auch, welche Verantwortung wir haben für alles, was wir tun und was wir lassen. Immer ist Gott dabei, nicht nur mit seiner allmächtigen Weisheit, nicht nur mit seinem allsehenden Auge, sondern auch mit seiner allwirksamen Kraft. Immer ist Gott dabei, und wir haben eine große Verantwortung, wenn wir Gott gleichsam einspannen in unsere Tätigkeit, in unser Tun und in unser Lassen, eine große Verantwortung, für die wir einmal werden Rechenschaft ablegen müssen.
Es gibt ein schönes Gebet, in dem die allwirksame Kraft Gottes, seine Erhaltung, wunderbar zum Ausdruck kommt. Dieses Gebet stammt aus dem 144. Psalm und wird von uns gern als Tischgebet verwendet: „Aller Augen warten auf dich, o Herr, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du tust deine milde Hand auf und erfüllest alles, was da lebt, mit Segen.“ Der Landmann sät, der Landmann erntet, aber Gott ist es, der bei dem Säen und bei dem Ernten die causa principalis, die Erstursache, ist. Der Mensch arbeitet und pflegt, aber Gott ist der Erstwirkende bei aller Arbeit und bei allem Pflegen. Und deswegen besteht kein Widerspruch zwischen dem Tun des Menschen und dem Tun Gottes. Die ganze Wirkung wird sowohl von Gott als auch vom Menschen hervorgebracht, aber in verschiedener Weise. Gott ist der Erstwirkende; der Mensch ist die Instrumentalursache, die werkzeugliche Ursache. Es wird also nicht ein Teil der Wirkung von Gott und ein Teil von den Menschen hervorgebracht, sondern alles von Gott und alles von den Menschen, aber in verschiedener Weise. Der Mensch und die menschliche Ursache ist der göttlichen untergeordnet.
Der heilige Thomas von Aquin, der sich mit dieser schwierigen Lehre viel beschäftigt hat, spricht von einem concursus praevius und simultaneus, von einer vorausgehenden Mitwirkung Gottes – er führt die Möglichkeit zur Wirklichkeit über, und von einem gleichzeitigen Wirken Gottes – er begleitet unsere Tätigkeit vom Anfang bis zum Ende.
Wir werden Gottes Wirken nicht durchdringen können. Dann wären wir ja Gott gleich. Wir werden etwas Wahres und Richtiges darüber sagen können, aber wir können nichts Erschöpfendes und Adäquates darüber sagen. Unsere Vorstellungen und Worte bleiben immer hinter der göttlichen Wirklichkeit zurück. So muß es sein, wenn anders Gott Gott und der Mensch Mensch bleiben soll. Aber was wir sagen, das ist verbürgt durch die Lehre der Kirche, der Gott seinen Heiligen Geist gegeben hat. Deswegen können wir anbetend auf die Knie fallen und sagen: „Herr, unser Herr, wie wunderbar ist dein Name auf der ganzen Erde!“
Amen.