Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. August 1989

Jesus, das Lamm Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die meisten von Ihnen werden das ergreifende Bild des Matthias Grünewald kennen, in dem dargestellt ist, wie der Täufer Johannes ein Lamm auf seinem Arm trägt und mit dem Finger auf das Kreuz verweist. Dieses Bild erinnert an jene Szene, die uns im 1. Kapitel des Johannesevangeliums geschildert wird: Johannes der Täufer weilte am Jordan. Da kam Jesus vorbei. Johannes deutete auf Jesus und sagte zu seinen Jüngern: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegschafft die Sünde der Welt!“

Dieses Wort des Täufers hat die Kirche nicht mehr vergessen. Sie hat es in ihre feierlichste Liturgie, nämlich in die der Messe, aufgenommen. Und so sprechen wir noch heute, 2000 Jahre nach diesem Begebnis, dreimal in der heiligen Messe vom Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Schon im Gloria rufen wir zum Heiland: „Herr und Gott, Lamm Gottes, Sohn des Vaters. Du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser!“

Aber nicht genug damit. Nach dem Vaterunser rufen wir dreimal zu dem Lamme Gottes, das jetzt geschlachtet auf dem Altare liegt: „Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, erbarme dich unser!“ Und der dreimalige Ruf deutet eben die Dringlichkeit an. „Erbarme dich unser! Erbarme dich unser!“ Und schließlich, wenn der Priester den Gläubigen den Leib des Herrn, das geopferte Lamm, darbietet, da sagt er: „Seht das Lamm Gottes! Seht, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!“ Und das Volk fällt auf die Knie und gesteht seine Unwürdigkeit ein, dieses Lamm in sich aufzunehmen.

Diese ergreifenden Rufe in der Liturgie der heiligen Messe, meine lieben Freunde, verlangen von uns eine Erklärung. Wir haben heute einen neuen Namen, einen neuen Titel Jesu zu betrachten, nämlich „Lamm Gottes“. An vielen vergangenen Sonntagen haben wir andere Hoheitstitel Jesu uns vor Augen geführt: Herr, Hirt, Offenbarer. Heute fragen wir: Was bedeutet es, wenn wir zu Jesus sagen: „Du Lamm Gottes, erbarme dich unser! Du Lamm Gottes, verschone uns! Du Lamm Gottes, erhöre uns!“? Was bedeutet das?

Selbstverständlich ist hier in bildlicher Weise von Jesus die Rede. Aber wie sollen wir von ihm reden, wenn wir ohne Bilder reden würden? Wir müßten schweigen. So sprechen wir also von ihm als dem Lamm. Warum gerade von einem Lamm? Warum wird er nicht mit einem anderen Tiere verglichen? Es gibt auch Vergleiche mit anderen Tieren. In der Apokalypse wird er der Löwe genannt, der Löwe aus dem Stamme Juda. Aber vorzugsweise heißt er das Lamm. Warum gerade das Lamm? Das Lamm ist ein junges Tier aus dem Kreise der Schafe, unter Umständen auch aus dem Kreise der Ziegen, aber vorzugsweise aus dem Kreise der Schafe, also ein junges Schäflein.

Warum wird Jesus als ein junges Schaf angesprochen? Aus drei Gründen. Erstens, das Schaf ist ein Bild der Unschuld. Es ist harmlos, es ist von Sünde und von Verfehlung frei. Es gilt als Sinnbild für eine schuldlose, für eine unschuldige Persönlichkeit. Und deswegen sagt zum Beispiel der Heiland zu seinen Jüngern: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe.“ Denn Wölfe sind von ganz anderer Art. Sie zerreißen die Schafe. Aber ein Schaf ist eben harmlos, gutmütig, ist schuldlos, und deswegen eignet es sich so gut, auf Jesus angewendet zu werden. Er ist der Unschuldige, er ist der Schuldlose.

Der zweite Grund ist darin gelegen, daß das Schaf willig der Führung seines Hirten folgt. Der Hirt führt es auf die Weide, und das Schaf geht dahin, wohin es der Hirt weist. Dieser willige Gehorsam ist es also, der das Schaf ebenfalls geeignet macht, ein Sinnbild für Jesus, den Gehorsamen gegen den Willen des himmlischen Vaters bis zum Tode am Kreuze, zu werden.

Der dritte Grund liegt darin, daß das Schaf das bevorzugte Opfertier ist. Schafe waren vor allen anderen Tieren im Alten Bunde die Opfertiere. Am Morgen und am Abend wurde das Opfer im Tempel dargebracht, immer Schafe; und so ist das Schaf als Opfertier besonders geeignet, für den verwandt zu werden, der der Opferer und der Geopferte sein sollte, Jesus Christus.

Das sind die drei Gründe, warum das Schaf so passend ist, ein Bild für unseren Erlöser zu sein; weil es ein Sinnbild des Unschuldigen ist, weil es ein Sinnbild des willigen Gehorsams ist und weil es ein Sinnbild des Opfers und des Geopferten ist.

„Lamm Gottes“ heißt es. Ein Lamm, das Gott sich bestellt hat. Deswegen Lamm Gottes. Ein Lamm, das Gott sich auserwählt hat, das Gott sich für diesen Dienst auserwählt hat, den dieses Lamm, unser Jesus, leisten sollte. Deswegen Lamm Gottes.

Und jetzt kommt die eigentliche Aussage: „Das hinwegnimmt, das hinwegträgt die Sünde der Welt.“ Die Sünde heißt es, in der Einzahl. Ja, gibt es nur eine Sünde? Nein, nein, das ist natürlich ein Kollektivnomen, d.h. hier wird in der Einzahl gesprochen und die Gesamtheit gemeint. Das ist ein Sprachgebrauch, der auch sonst üblich ist. Man spricht von der Bosheit der Menschen und meint damit die vielen bösen Taten der Menschen. Und so ist auch hier die „Sünde“ ein Ausdruck, um die gesamte Schuld, um alle Sünden der Menschen, die je begangen wurden, zu bezeichnen. Und von dieser Schuld wird nun gesagt: Sie trägt das Lamm Gottes hinweg. Sie schafft es hinweg. Es beseitigt sie, und das bedeutet, es leistet Sühne für sie.

Was ist denn Sühne, meine lieben Freunde? Sühne ist Genugtuung und Wiedergutmachung für begangene Sünden. Genugtuung und Wiedergutmachung. Die Sünde verlangt Genugtuung! Es muß für die Sünde genuggetan, unter Umständen genuggelitten werden, und es muß die Sünde wieder gutgemacht werden. Und das geschieht eben durch das Gegenteil der Sünde. Ist die Sünde Abwendung von Gott, dann muß die Genugtuung durch Hinwendung zu Gott geschehen. Ist die Sünde Haß gegen Gott, so muß eine ungeheuere Liebesflamme aus dem Herzen dessen hervorbrechen, der die Genugtuung und Wiedergutmachung leisten soll. Das ist eben das Werk unseres Heilandes, daß er die Sühne leistet, aber nicht für sich. Wenn der Sünder die Sühne persönlich leistet, dann ist er selbst der Sühner. Aber hier leistet ein anderer die Sühne für die Menschen, und deswegen sprechen wir von stellvertretender Sühne oder stellvertretender Genugtuung. Er tritt an die Stelle derer, die eigentlich die Sühne leisten müßten, die sie aber nicht zu leisten vermögen, weil ihre Untat viel schlimmer ist, als was sie an Gutem aus ihrem Herzen hervorbringen können. Sie sind unfähig, das zerrissene Band zwischen Gott und den Menschen wieder zu knüpfen. Sie sind unfähig. Und deswegen mußte der Sühner kommen, der selber Gott war. Um dieses Band wieder zu knüpfen, mußte er die stellvertretende Sühne leisten.

Jetzt wissen wir also, meine lieben Freunde, was es heißt, wenn wir beten: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt!“ Jesus leistet als das unschuldige Opferlamm für uns, d.h. zu unseren Gunsten und an unserer Stelle, die Sühne für die Schuld, für die Sünden der ganzen Menschheit.

Da kann man fragen: Wie kam denn Johannes der Täufer zu dieser Anrede? Woher hat er denn diese Wendung „Lamm Gottes“? Nun, das ist nicht schwer zu erraten, meine lieben Freunde. Im Alten Testament gibt es einen Propheten, der als der Evangelist unter den Propheten gilt, nämlich den Propheten Isaias. Und dieser Prophet Isaias hat im 53. Kapitel seines prophetischen Buches einen Gottesknecht geschildert, der genau das tut, was von Jesus ausgesagt wird. Von diesem Gottesknecht heißt es nämlich bei Isaias: „Der Herr aber legte die Sündenschuld von uns allen auf ihn.“ Er legte die Sündenschuld von uns allen auf ihn. „Er trug die Sünden der vielen.“ Ja, das ist ja genau das, was Jesus getan hat. Er trug die Sündenschuld von vielen. Und von diesem Gottesknecht wird nun auch noch ausdrücklich gesagt – und das begründet das Bild -: „Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, tat er den Mund nicht auf.“ Also die Gleichsetzung von dem sühnenden Gottesknecht mit einem Lamm ist schon im Alten Testament angelegt. Schon beim Propheten Isaias wird dieser Gottesknecht, der für andere leidet und sühnt, mit einem Lamm verglichen. „Wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, wie ein Schaf, das vor seinen Scherern verstummt, tat er seinen Mund nicht auf.“ Ja, genau das hat unser Herr und Heiland Jesus Christus getan. Er hat geschwiegen vor Pilatus, er hat sich nicht verteidigt, er hat mit sich geschehen lassen, was die Übeltäter mit ihm tun wollten, denn er wußte, er trug die Sündenschuld von allen hinweg, und dazu mußte er leiden.

Das ist die erste Wurzel des Ausdruckes „Du Lamm Gottes“. Es gibt aber noch eine zweite. Als die Israeliten in Ägypten waren, da sollten die Ägypter, die sie ja bedrängten, sie nach Gottes Willen aus dem Lande ziehen lassen. Aber sie wollten sie nicht ziehen lassen. Sie waren ihnen nützlich. Die Juden waren immer schon tüchtig und wurden gebraucht. Sie sollten also weiter im Sklavenhause Ägypten weilen. Da griff Gott ein mit den Plagen. Ein Schlag nach dem anderen fiel auf die Ägypter. Der Nil färbte sich rot mit Blut, und Hagel kam über die Tiere und zerschlug ihnen die Schafe und die Rinder auf der Weide. Neun Plagen! Als aber auch diese nicht halfen, da kündigte Gott eine zehnte an, nämlich er wollte alle Erstgeburt der Ägypter schlagen. Von Menschen und Tieren sollte alle Erstgeburt in einer Nacht sterben. Damit aber die Israeliten nicht auch von diesem Strafgericht erfaßt würden, wurde ihnen aufgetragen, an diesem Tage ein Lamm zu schlachten, das Blut zu nehmen und an die Pfosten der Türe und an die Türschwelle zu streichen, damit, wenn in der Nacht der Würgengel das Land durchzog, die Israeliten verschont blieben. Und so geschah es. In einer Nacht wurde die gesamte Erstgeburt der Ägypter geschlagen, die Israeliten aber blieben verschont. Sie wurden gerettet durch die Kraft dieses Opferblutes, das sie an ihre Türen gestrichen hatten.

Das ist wieder ein Vorbild für unseren Heiland. Dieses Paschalamm, das die Israeliten dann in der Erinnerung an diese Rettung jedes Jahr am 14. Nisan, an einem bestimmten Tage also zu Ostern, geschlachtet, gegessen und geopfert haben.

Dieses Opferlamm findet seine Erfüllung in Jesus Christus. Denn, das haben schon die Kirchenväter immer gesagt: Nicht das Blut eines Tieres hatte die Kraft, die Israeliten zu verschonen, sondern weil es ein Sinnbild für das andere Blut war, das einmal vergossen werden sollte, nämlich das Blut des unbefleckten Lammes Jesus Christus. Das Tierblut hatte keine Kraft, aber weil das Tierblut eben ein Hinweis war auf das kraftvolle, auf das mächtig rufende Blut Christi, deswegen war es geeignet, die Erstgeburt der Israeliten zu verschonen in diesem allgemeinen Gemetzel.

Und so haben die Christen den Ausdruck „Osterlamm“ auf Jesus Christus angewendet. Schon beim Apostel Paulus kommt er vor. Im 1. Korintherbrief sagt er: „Unser Osterlamm Jesus Christus ist geopfert worden.“ Also wir opfern nicht mehr bloß ein Lamm, ein Tier aus einer Herde, was ja auch einer guten Absicht entsprang, nein, wir haben ein ganz anderes, ein viel besseres Osterlamm, nämlich Christus, den Unschuldigen, Christus, den Schuldlosen, der die Sünden auf seine Schultern geladen und hinweggetragen hat.

Und so ist es auch im Munde von Johannes dem Täufer zu verstehen: „Seht, das Lamm Gottes, das hinwegträgt die Sünden der Welt!“ Dieser Vergleich kommt im Johannesevangelium noch einmal vor. Der Evangelist Johannes schildert, wie Jesus am 14. Nisan, also genau an dem Tage, an dem im Tempel in Jerusalem die Osterlämmer geschlachtet wurden, aufs Kreuzesholz stieg. Jetzt ist also das Vorbild erfüllt. Jetzt ist die Verheißung zu ihrem Ende gekommen. Jetzt ist alles vollendet, was da angekündigt wurde, nämlich mit dem Opfer, das auf Golgotha durch das unbefleckte Lamm Jesus dargebracht wurde.

Und deswegen sagt der Evangelist Johannes: Das Wort der Schrift: „Ihr sollt an ihm kein Bein zerbrechen!“ ist erfüllt worden, als Jesus am Kreuze hing und ihm nicht die Gebeine zerschmettert wurden wie den beiden Verbrechern neben ihm, sondern er nur einen Stich mit der Lanze in seine Seite bekam. Das ist die Erfüllung, sagt er, des Wortes, das im Alten Testament steht, und wo verlangt wurde: Ihr sollt an ihm – nämlich an dem Lamm – kein Bein zerbrechen. Das geht nicht bloß auf das Tier, das geht auch auf Jesus, so sagt Johannes, der Evangelist. In Jesus sind diese Verheißung und dieses Gebot erfüllt worden.

Jetzt wissen wir also, meine lieben Freunde, was es heißt, wenn wir sagen: „O du Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet. Allzeit erfunden geduldig, wiewohl du warest verachtet. All' Sünd' hast du getragen, sonst müßten wir verzagen. Erbarme dich unser, o du unser Gotteslamm!“

Amen.

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