24. Juli 1988
Die Ursachen der Rechtfertigung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Getröst', getröst', wir sind erlöst, die Hölle ward zuschanden. Denn wahrhaft ist Gott Jesus Christ vom Tode auferstanden.“ So haben wir am Ostersonntag gerufen. Und dieser Ruf war uns Anlaß, an all diesen Sonntagen seit Ostern zu überlegen, was es heißt: „Getröst', getröst', wir sind erlöst.“ Wir haben an mehreren Sonntagen die objektive Erlösung betrachtet, das Erlösungswerk Jesu Christi. Aber da eben das objektive Erlösungswerk zu den Menschen kommen muß, so hatten wir dann angeschlossen die Betrachtung der subjektiven Erlösung, und die ist nun gleichbedeutend mit dem Wort Gnade. Wenn die Gnade zu dem Menschen kommt, dann beginnt seine Erlösung. Gnade, so hatten wir gesagt, ist eine übernatürliche Gabe, die Gott aus freiem Wohlwollen einem vernünftigen Geschöpfe zum ewigen Heile gibt.
In der Gnade gibt es viele Unterscheidungen. Die wichtigste war die in die helfende und in die heiligmachende Gnade. Die helfende Gnade, so hatten wir gesehen, ist eine vorübergehende Einwirkung auf die Seelenkräfte des Menschen, damit er die heiligmachende Gnade erwerben oder in ihr verharren kann. Die heiligmachende Gnade dagegen ist eine dauernde übernatürliche Beschaffenheit der menschlichen Seele, durch die der Mensch heilig, gerecht und wohlgefällig vor Gott wird.
An den vergangenen Sonntagen hatten wir uns der helfenden Gnade, der aktuellen Gnade, der Beistandsgnade, wie sie auch heißt, zugewendet. Ab heute müssen wir uns mit der heiligmachenden Gnade befassen.
Der erstmalige Empfang der heiligmachenden Gnade heißt Rechtfertigung; Rechtfertigung deswegen, weil eben durch das Kommen der heiligmachenden Gnade aus einem Ungerechten ein Gerechter wird. Die Kirche hat selbstverständlich von Anbeginn die tröstlichen Wahrheiten über die heiligmachende Gnade gelehrt. Aber es war ihr ein besonderes Anlaß, sich mit der heiligmachenden Gnade zu beschäftigen, als im 16. Jahrhundert ein Irrlehrer namens Luther auftrat. Luther hat über die heiligmachende Gnade, über die Rechtfertigung Irrlehren verbreitet, und dagegen setzte sich die Kirche zur Wehr im Konzil von Trient. Luther lehrte: Der Mensch ist total verdorben, er hat keinen freien Willen mehr, er hat nur noch die böse Begierlichkeit, und darin besteht die Erbsünde. Wenn er gerechtfertigt wird, dann bedeutet das nicht etwa eine echte Wegnahme der Sünden und eine echte Heiligung, nein, wenn er gerechtfertigt wird, so immer Luther, dann deckt Gott nur die Sünden zu. Er rechnet sie ihm nur nicht an, er rechnet ihm vielmehr die Gerechtigkeit Christi an. Das ist der Kern von Luthers Rechtfertigungslehre; nicht wahre Heiligung, sondern nur Zudeckung der Sünden, Nichtanrechnung der Sünden und Anrechnung der Gerechtigkeit Christi. Und dazu dient der Fiduzialglaube, d.h. eben die Zuversicht, daß Gott um Jesu Christi willen dem Menschen gnädig sein werde. Luthers Irrlehren wurden vom Konzil von Trient als mit der Verkündung Jesu und der Apostel nicht übereinstimmend abgewiesen. Das Konzil von Trient hat die Rechtfertigung wesentlich anders beschrieben. Nach ihm ist die Rechtfertigung die Versetzung aus dem gnadenlosen Zustand, in dem der Mensch als Sohn des ersten Adam geboren wird, in den Stand der Gnade und der Annahme zum Gotteskinde durch den zweiten Adam, Jesus Christus, unseren Heiland. Also nicht bloß ein Zudecken der Sünden, sondern ein Wegnehmen der Sünden, nicht bloß eine Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern eine wahre innere Heiligung.
Die Kirche kann sich bei ihrer Lehre auf viele Stellen der Heiligen Schrift stützen. Die Heilige Schrift lehrt nicht eine Zudeckung der verbleibenden Sünden, eine Nichtanrechnung der Sünde, sondern sie lehrt ein Wegnehmen der Sünde; und sie lehrt nicht nur eine äußere Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern eine wahre innere Neuschöpfung. Jawohl, das ist das Wort, das der heilige Paulus bevorzugt, ein „neues Geschöpf“ ist der Gerechtfertigte, eine „neue Schöpfung“ hat Gott in Christus Jesus hervorgebracht. So wichtig, so grundlegend, so tiefgehend ist die Rechtfertigung, daß man von einer Neuschöpfung reden muß. Andere Stellen sprechen vom Wegnehmen der Sünde. „Seht das Lamm Gottes, das da hinwegträgt die Sünde der Welt!“ Sie ist nicht mehr da, sie ist vergeben und vernichtet im Erbarmen Gottes. Und an anderen Stellen, etwa im Titusbrief, heißt es: „Er hat uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und die Erneuerung im Heiligen Geiste.“ Wiedergeburt, neue Geburt, zweite Geburt, übernatürliche Geburt, das ist die Rechtfertigung. Und Erneuerung – wieder das Wort „neu“, das wir schon beim heiligen Paulus in anderen Briefen fanden – das ist die Rechtfertigung. Oder im Kolosserbrief: „Er hat uns gerettet aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich seines Sohnes, durch den wir die Erlösung besitzen, den Nachlaß der Sünden.“ Das ist der Grund, warum wir uns so freuen über die heiligmachende Gnade, die wir zum erstenmal in der Rechtfertigung empfangen. Das ist der Grund, warum wir so glücklich sind, Gotteskinder zu sein, weil wir nicht bloß für Gotteskinder gehalten werden – wie verträgt sich das mit der Wahrhaftigkeit Gottes? – sondern weil wir wahrhaft Gotteskinder sind. Nicht ein Als ob, sondern ein wirkliches Sein, ontologisch, nicht bloß forensisch, gerichtlich, wie Luther will, das ist die Wirkung der Rechtfertigung.
Und um diese Lehre ganz deutlich zu entfalten, hat das Konzil von Trient die Ursachen der Rechtfertigung beim Namen genannt. Es beginnt, indem es sagt: Es gibt eine Zweckursache, also einen Zweck der Rechtfertigung. Und welches ist der Zweck der Rechtfertigung? Es ist die Ehre Gottes, und es ist das Heil der Menschen. Wir werden mit der heiligen Gnade begabt, damit Gott gepriesen wird wegen seiner Neuschöpfung, die er bewirkt, und wir werden mit der heiligmachenden Gnade begabt, damit wir in die Seligkeit seines Himmels eingehen können, wo nichts Unreines Platz findet. Nur wer diese übernatürliche Beschaffenheit hat, die wir heiligmachende Gnade nennen, nur der kann sich eine Ewigkeit mit Gott freuen.
Dann spricht das Konzil von Trient von der Wirkursache, also von dem, der die Rechtfertigung hervorbringt. Die Wirkursache ist natürlich niemand anderes als der barmherzige Gott. Er allein kann schöpfen, er allein kann schaffen. Er ist der Urheber der ersten Schöpfung, aber auch der zweiten Schöpfung.
Das Konzil von Trient spricht dann weiter von der Verdienstursache. Nun, das wissen wir ja schon aus früheren Predigten. Wer hat uns denn die Rechtfertigung verdient? Niemand anderer als unser lieber Herr und Heiland Jesus Christus mit seinem kostbaren Blute, mit seinem wunderbaren Sterben und seiner herrlichen Auferstehung. Das ist die Verdienstursache unserer Erlösung. Er hat sie uns verdient.
Das Konzil spricht ferner von einer werkzeuglichen Ursache. Gott bedient sich eines Mittels, um die Erlösung an uns zu wirken. Das ist selbstverständlich die Taufe. Die Taufe ist das Mittel, das normale Mittel, das ordentliche Mittel, durch das wir der Rechtfertigung, der heiligmachenden Gnade zum erstenmal teilhaftig werden. Das Konzil nennt dann auch noch den Menschen, den erwachsenen Menschen jedenfalls, näherhin seinen Glauben als dispositive Ursache. Der Mensch muß auch etwas tun. Er kann nicht getauft werden, als Erwachsener jedenfalls, wenn er nicht glaubt. Erst muß man glauben, sich gläubig zu Christus bekennen, dann kann er seine Rechtfertigung an uns wirken.
Und schließlich spricht das Konzil noch von einer letzten Ursache, nämlich von der Formalursache. Die Form ist die innere Gestalthaftigkeit eines Seienden. Diese Form, die uns da eingedrückt wird in der Rechtfertigung, das ist natürlich nichts anderes als die heiligmachende Gnade.
Da mußte das Konzil sich wehren gegen Männer, die sagten, es gäbe eine doppelte Gerechtigkeit, eine imputierte und eine inhärierende. Bestimmte katholische Theologen glaubten, den Reformatoren entgegenkommen zu sollen und lehrten deswegen eine doppelte Gerechtigleit. Die Sünden werden nach ihnen mit der imputierten, mit der angerechneten Gerechtigkeit Christi vergeben, und die Heiligung erfolgt durch die inhärierende heiligmachende Gnade. Diese künstliche Unterscheidung hat das Konzil verworfen, denn das ist nicht verträglich damit, daß die heiligmachende Gnade beides bewirkt, sowohl die Nachlassung der Sünden als auch die übernatürliche Heiligung. Eines ist vom anderen weder unterscheidbar noch trennbar. Wenn die heiligmachende Gnade kommt, dann ist der Mensch wirklich heilig, gerecht und Gott wohlgefällig. „Was hat das Licht mit der Finsternis zu tun?“ So fragt der Apostel Paulus.
So haben wir also heute, meine lieben Freunde, Begriff und Ursachen der Rechtfertigung, der erstmaligen Begabung mit der heiligmachenden Gnade kennengelernt. Zugegeben: Das sind schwierige Gedankengänge; das hat schon Nikodemus empfunden. Als er einmal in der Nacht zum Heiland Jesus Christus kam, da sagte ihm der Herr: „Du mußt wiedergeboren werden!“ Da sagte er: „Ja, aber wie? Wie ist das möglich?“ Fast hätte er gelacht. „Wie kann ich alter Mann wiedergeboren werden?“ Ja, die Wiedergeburt, von der unser Herr redet, ist keine natürliche, es ist eine übernatürliche, es ist eine Wiedergeburt aus dem Wasser und dem Geiste, eine Wiedergeburt, die die Seele ergreift.
Vor einigen Jahren starb in der Mission ein 82jähriger Mann. Mit 80 Jahren war er getauft worden. Und als man ihn kurz vor seinem Tode fragte: „Wie alt bist du?“, da sagte er: „Zwei Jahre.“ „Ja, wieso zwei Jahre?“ „Erst vor zwei Jahren,“ sagte der alte Mann, „als ich die Taufe empfing, habe ich wahrhaft angefangen zu leben.“ Zu leben als neue Schöpfung, teilhaftig göttlicher Natur, wahrhaft verbunden in Gemeinschaft mit Gott, eine neue Schöpfung, eine Wiedergeburt im Heiligen Geiste.
Amen.